Читать книгу Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - Страница 5

Prolog

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„Es ist real.“ Beinahe traute ich mich gar nicht, diesen Satz zu denken oder auch noch zu glauben. Doch wann fragten Gedanken schon nach Erlaubnis, bevor sie sich im Kopf festsetzten? Eben. Und dieses Mal war es ein guter Gedanke, der da von mir Besitz ergriff. Er riss mir die Mundwinkel zu einem ungläubigen Grinsen nach oben und nahm mir eine Last, die ich lange mit mir herumgeschleppt hatte. Wieder und wieder ließ ich den Blick die goldenen Buchstaben entlang gleiten, die über dem Tor des steinernen Gebäudes angebracht waren. Als könnte ich sie mir eingebildet haben. Doch so oft ich die Wörter auch las: Sie verschwanden nicht. Sie veränderten sich auch nicht. Wäre ich mir dabei nicht albern vorgekommen, hätte ich sie wahrscheinlich sicherheitshalber laut ausgesprochen: „Kullë Guri - Internat von Siguri“. Erleichterung, Freude, Erschöpfung, Neugierde, Nervosität – ich war ein einziges Gefühlschaos in Menschengestalt. Und doch: Dieser menschliche Körper mit den etwas zu dunklen Ringen unter den etwas zu gelben Augen, mit den etwas zu kurz genagten Fingernägeln an den etwas zu rauen Händen, mit den etwas zu konfusen Gedanken hinter der etwas zu käsigen Stirn – dieser Körper stand am richtigen Fleck. Und es war meiner; auch wenn es sich anfühlte, als würde ich einem Theaterstück zuschauen und nur zufällig mitten im Kopf der Protagonistin sitzen. Im Hintergrund spielte kein Orchester, im Hintergrund wiederholte sich nur immer wieder dieser eine Satz: „Es ist real. Esistrealesistrealesistreal. Es. Ist. Real.“ Es war kein Theaterstück - es war mein Leben. Nun musste ich also nur noch den Mut finden, zu klingeln. Und dann Worte, die den Direktor überzeugten, mich bleiben zu lassen. Nichts schwieriger als das. Wieder einmal war ich davon fasziniert, wie unterschiedlich schwierig der beinahe selbe Handgriff in unterschiedlichen Situationen auszuführen sein konnte. Bei Leuten klingeln, die ich seit Ewigkeiten kannte? Passierte quasi von selbst. Am Tor der Schule klingeln, an der ich hoffte, nach all der Zeit endlich meine Magie-Kenntnisse ernsthaft ausbilden zu können? Haha, als ob. Es war, als würden meine Hände sich schlichtweg alle beide weigern, sich zu bewegen. Nicht, weil meine Muskeln es nicht konnten. Sondern weil meine Angst mich nicht ließ. So oft hatte ich davon geträumt, durch diese Tür zu gehen - doch nun, da ich nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, wünschte ich mir fast, sie würde sich niemals öffnen. Ich konnte auch einfach wieder abhauen! Kein Mensch musste wissen, dass ich jemals auch nur hier gewesen war. Einfach wieder gehen, mich bei Myranda verkriechen, warten bis zur Feier meines zweihundertzweiundzwanzigsten Vollmondes, nach der ich frei sein würde… Die Erinnerung an Myranda stach. Vielleicht wurde mir erst jetzt so richtig bewusst, wie weit entfernt ich von ihr war. So einfach war das mit dem Zurückkehren ja nicht, sonst stünde ich schließlich nicht hier. Vor diesem Tor. Endlich. Denn egal, wie sehr ich meine älteste Freundin vermisste: Warten hatte ich versucht – und letztendlich aufgegeben. Gewartet hatte ich schon viel zu lange und ich würde keinen Moment mehr länger warten. Vom Frust angetrieben ließ ich meine linke Hand nun doch endlich nach vorne schnellen. Kein Klingelgeräusch drang bis hier draußen, doch schon wenig später schwang die Tür auch schon auf und eine Stimme erklang: „Willkommen am Internat von Siguri. Bitte melden Sie sich im Sekretariat an, das das Sie im rechten Gebäudeteil im ersten Stock finden.“ Nun, da ich es bis hierher geschafft hatte, würde das das geringste Problem darstellen, hatte ich doch das Gefühl, schon tausendmal durch die Gänge dieser Schule gelaufen zu sein. Ich strich mir eine lange glatte Strähne von der Schulter – wenigstens meine dunkelblauen Haare mochte ich an mir wirklich gern! Dann trat ich durch das Tor. Und… fühlte mich komplett verloren. Schon nach den ersten Schritten musste ich feststellen, dass ich mich nicht halb so selbstbewusst orientieren konnte, wie ich es mir vorgestellt hatte. Eigentlich keine große Überraschung, denn diesmal war ja Annabelle Lumtur nicht an meiner Seite. Wie auch? Hatten unsere gemeinsamen Streifzüge doch nur in meinem Kopf stattgefunden. Immer und immer wieder, seit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal das Buch aufgeschlagen hatte, das nun sicher zwischen den Kleidungsstücken meines Gepäcks verstaut war. Das Foyer hingegen, das ich soeben betreten hatte, war real und groß und menschenleer. Es hatte nichts von der einladenden Freundlichkeit, die ich erwartet hatte. Der Boden war nicht wie in meiner Vorstellung mit weichem Teppich ausgelegt, sondern bestand aus Marmor. Ausgerechnet. „Vielleicht bin ich hier ja doch falsch,“ schoss es mir durch den Kopf. Als hätte ich mich eben nicht tausendmal versichert, vor dem Kullë Guri zu stehen. Zaghaft wanderte mir mein Blick voraus, als ich stehen blieb, um den Anblick in mich aufzunehmen. Alles wirkte so… gerade. Die strahlend weißen Säulen, die aussahen, als wollten sie eine ganze Kuppel tragen und nicht bloß die ohnehin schon einschüchternd hohe und ebenso weiße Zimmerdecke. Die feinen goldenen Vorhänge vor den bodentiefen Fensterbögen auf der gegenüberliegenden Seite, die im blendenden Licht der einfallenden Sonne glänzten. Auf dem Boden war kein einziger Fußabdruck zu erkennen. Das alles wirkte eher wie ein edler Ballsaal als das Foyer einer Schule. Dazu beitragen, dass sich meine Ankunft hier wirklicher anfühlte, tat das nun gerade nicht. Doch dann auf einmal sah ich ihn: Durch eines der Fenster mir gegenüber war ein Turm zu erkennen, der nicht in stärkerem Kontrast zu den makellosen Säulen hier drinnen hätte stehen können. Seine grauen Steine waren moosbewachsen und verwittert, hier und dort fehlten einzelne. Und dennoch stand er unbeirrt noch immer da, wie zum Trotz. Der Steinerne Turm. Eine ganze Weile konnte ich den Blick nicht von ihm losreißen. Als würde er verschwinden, wenn ich wegsah. Dann fiel mir wieder ein, dass ich mich im Sekretariat zu melden hatte. Okay. Hoffentlich würde ich den Turm ja nun öfter zu Gesicht bekommen. Hoffentlich… Ich entdeckte einen Wegweiser zum Sekretariat und wandte mich nach rechts. Der Gang, der sich an das Foyer anschloss, war kaum weniger prunkvoll. Schmaler zwar, aber auch hier glänzte alles. Die Wände, die ich mir mit angenehmem Holz vertäfelt vorgestellt hatte, waren tiefgrün und mit goldenen Rankenmustern verziert. Auch hier war keine Spur davon zu erkennen, dass diese Burg schon hunderte von Monden stand. Oder dass das hier überhaupt eine Burg aus Stein war. Fenster gab es im Gang keine, wie ich beim Versuch, mich erneut nach dem Steinernen Turm umzudrehen, feststellte. Erhellt wurde der Korridor durch Bodenplatten, deren grellweißes Licht in alle Farben des Regenbogens zersprang, sobald ich die jeweilige Platte betrat. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind in einem Märchen, als sei dieser Gang der verwunschene Wald, durch den ich wandelte. Blieb nur zu hoffen, dass in seiner Mitte kein Monster darauf wartete, mich zu zerfetzen. Ernsthaft Sorgen machte ich mir wiederum nicht. Zwar hatte ich noch immer keine Ahnung, was ich dem Direktor dieses Ortes sagen sollte – aber das alles wirkte auch noch immer viel zu surreal, als dass ich das Gefühl gehabt hätte, mir könnte hier irgendwas angetan werden. Kurz ertappte ich mich dabei, von Platte zu Platte zu hüpfen und das Gefühl zu genießen, dass ich sie zur Veränderung animieren konnte. Dann rief ich mich selbst zur Ordnung. Was, wenn ich einem neuen Menschen begegnete und er mich so sah? Wie peinlich wäre das denn! Also lieber ordentlich weiterlaufen wie eine, die an eine höhere Schule der Magiekunst gehörte. Ich straffte die Schultern und begann, die Treppe zu erklimmen, die am Ende des Ganges links nach oben führte. Auch hier leuchtete jede Stufe und ihr Weiß zerfiel zu Regenbogenfarben, sobald ich den ersten Fuß auf sie setzte. Die glänzenden Ranken zogen sich ebenfalls weiter. Beinahe hätte ich angefangen, in den Verzweigungen nach Tieren zu suchen, die zwischen den Ästen hin und her hüpften. Vielleicht kleine Siebenstreifchen, die mit ihren buschigen Schwänzen durch die Lüfte balancierten? Doch dieser Vorstellung wurde ein Ende bereitet, als die Ranken plötzlich endeten. Einen Moment lang starrte ich irritiert ins Leere, dann wurde mir klar, dass ich das erste Stockwerk erreicht hatte und schlichtweg die gesamte Wand aufgehört hatte. Ziemlich genau das war auch der Moment, als mein Herz aus seiner Verträumtheit hochschreckte und nervös zu hämmern begann. Das hier war kein Wald mit Siebenstreifchen. Vor mir lag ein Gespräch, das meine Zukunft maßgeblich beeinflussen würde. Ich wandte mich dem Wegweiser folgend nach links – und vom einen Augenblick auf den anderen geschah dasselbe, was mir bereits vor der Klingel passiert war: Ich konnte mich einfach nicht dazu bringen, mich weiterzubewegen. Diese ganze Idee war doch völliger Unsinn gewesen. Was hatte ich mir bitte dabei gedacht?! Gar nichts hatte ich gedacht, meine Güte, warum war ich nur so unvernünftig?! Hilflos tastete ich nach dem goldenen Amulett meiner Großmutter. Ich hatte sie nie kennengelernt, und doch war dieses Schmuckstück die letzte Verbindung zu meiner leiblichen Familie, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Ich packte es so fest, dass es mir tief in die Handfläche drückte. Wäre ich doch wenigstens nicht alleine! Wäre Myranda an meiner Seite, oder Annabelle… aber da war nur dieser kurze Gang, der an einer Sackgasse endete. Ich war in eine Sackgasse gelaufen. Wortwörtlich. „Jetzt reiß dich mal zusammen“, fauchte Annabelle in meinem Kopf ungeduldig, „Bisschen melodramatisch sind wir heute, hm? Da ist ‘ne verdammte Tür, nicht das Ende der Welt! Und das hier ist nicht das Ende - es ist der Anfang.“ Ich dachte daran, wie selbstbewusst Annabelle durch diese Schule geschritten war. Die kleine, zierliche Annabelle, die an diesem Ort so viel Kraft gefunden hatte. Die am Ende ihrer Zeit hier ein ganz anderer Mensch gewesen war, ein glücklicher Mensch. Zugegeben, ihre Geschichte war etwas anders verlaufen. Sie hatte keinen Schulleiter zwischen sich und ihrem Traum gehabt. Aber von dem hätte sie sich auch nicht aufhalten lassen, das wusste ich. Und das bedeutete ja wohl, dass ich mich auch nicht aufhalten lassen musste - lassen durfte. „Danke, Annabelle“, gab ich im Stillen zurück und dachte noch, dass ich wohl aufhören musste, in Gedanken mit fiktiven Charakteren zu sprechen, wenn ich mich hier einfinden wollte. Und, dass ich das überhaupt nicht wollte. Durch zu viele schwere Situationen hatte mich Annabelle nun begleitet, da konnte ich sie nicht vom einen Moment auf den anderen verstoßen. Klar wusste ich, dass sie nicht real war, aber geholfen hatte sie mir dennoch oft. Und wenn ich mir ansah, wie unsicher ich noch immer war, würde sie das wohl auch noch eine ganze Weile lang tun müssen. Jetzt aber erstmal endlich ins Sekretariat. Ich atmete tief durch, ließ das Amulett los und lief langsam in den kurzen Gang vor mir hinein. Im Gegensatz zu den Wänden des Treppenhauses waren diese hier in schlichtem Weiß gehalten. Steril. Der Gang hatte drei ebenso weiße Türen; schmucklos, zweckmäßig. An der Tür zu meiner Linken stand in kleinen, schwarzen Buchstaben: „Sekretariat“. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, in meinem Kopf nickte Annabelle mir aufmunternd zu. Dann klopfte ich. „Herein“, erklang eine Stimme von drinnen und ich schob zögerlich die Tür auf. Das Zimmer dahinter war im Vergleich zur Eingangshalle unten überraschend klein und ebenso sparsam eingerichtet wie der Gang, der zu ihm führte: Bilder und Rankenmuster suchten meine Augen vergeblich. Links und rechts von mir bedeckten deckenhohe Regale die weißen Wände. Doch bevor ich ihren Inhalt näher in Augenschein nehmen konnte, erklang vor mir ein spöttisches: „Na, Sie haben sich ja reichlich Zeit gelassen. Dachte schon, Sie hätten sich verlaufen.“ Ich zuckte zusammen und wandte meinen Blick eilig der kurzhaarigen Person zu, die gesprochen hatte. Sie saß an einem kleinen schwarzen Schreibtisch, der wie der gesamte Raum ziemlich unspektakulär aussah im Vergleich zum Foyer des Kullë Guri – auf dem aber alles mindestens genauso gerade und ordentlich wirkte. Es war diese Art Schreibtisch, die meine Adoptiveltern sich immer von mir gewünscht und ich doch niemals gehabt hatte. Ein Gedanke, der mich schüttelte. Aber dies war nicht der Moment für ihn. Das hier war der Moment für mich. „Los, antworte!“, forderte mich Annabelle auf und ich räusperte mich. „Äh. ‘Tschuldigung.“ „Schon gut. Ich häng ja den ganzen Tag hier rum“, kam es von der Person schätzungsweise mittleren Alters, die hinter dem Schreibtisch saß. Vor ihr lagen Unterlagen, von denen sie mäßig interessiert aufgeschaut hatte, als ich hereingekommen war. Mein erster Gedanke war, dass sie ihren Satz sarkastisch meinte, mir einen Vorwurf machen wollte, doch dann kam mir eine andere Vermutung: Eigentlich klang die Person eher gelangweilt. Genau so sprach sie auch weiter: „Und was woll’n Sie jetzt eigentlich hier? Sollten Sie nicht im Unterricht sein?“ Sie musterte mich einen unangenehmen Augenblick lang und ich hatte den Eindruck, sie wolle fragen, was es mit meinem ganzen Gepäck auf sich hatte. Dann schien sie jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass sie das nichts anging und genau genommen auch überhaupt nicht interessierte. Plötzlich keimte Hoffnung in mir auf: Ob dieser Mensch mich wohl einfach an diese Schule schmuggeln konnte, ohne dass ich das groß diskutieren musste?! „Ähm, also. Ja. Würde ich gerne. Nur…“ Eine fragend hochgezogene Augenbraue. Ich seufzte. Ich hatte keine gute Ausrede. Ich hatte nur die Wahrheit und die Kraft der Verzweiflung. „Na ja. Ich bin… noch gar nicht hier eingeschrieben.“ Erneut musste ich mich räuspern. „Und das fällt Ihnen jetzt ein? Zwei Wochen nach Beginn des Semesters?“ Da war er doch wieder, ein deutlicher Anflug von Spott. Ein nicht gerade kleiner Teil von mir wollte einfach nur wegrennen und sich heulend irgendwo verkriechen. Aber wohin hätte ich gehen sollen? Wenn ich das hier noch durchstand, konnte ich heute Abend vielleicht, ganz vielleicht, in einem Schlafzimmer des Internats schlafen gehen. Konnte aufhören wegzurennen und anfangen anzukommen. Ich musste einfach wissen, dass ich es zumindest versucht hatte. „Ja, ich weiß, tut mir leid. War nicht so einfach, hier herzukommen. Und ich war mir auch gar nicht sicher, wie ich das anstellen soll. Meine Eltern leben nicht mehr und meine Adoptiveltern hätten mich hier unter keinen Umständen angemeldet und ich wollte unbedingt… was lernen“, bremste ich meinen ungeplanten Redeschwall ab. Noch eine hochgezogene Augenbraue. Dann: „Nun. Das erklären Sie Doktor Haxxley am besten selbst.“ Der Blick der Sekretariatsperson wanderte bedeutungsschwer zu dem goldenen Amulett auf meiner Brust. „Wir sind hier zwar nicht die Jugendwohlfahrt. Aber“, - obwohl wir allein im Raum waren, wurde ihre Stimme plötzlich zu einem Flüstern -, „ich könnte mir vorstellen, Sie können ihn… überzeugen.“ ~~~ Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, und doch fühlte es sich an, als hätte ich Ewigkeiten im Büro des Rektors verbracht, als ich schließlich heraustrat und mich nur mit Müh und Not davon abhalten konnte, närrische Luftsprünge zu vollführen. Der Sekretariatsmensch hatte Recht behalten: Ich hatte es geschafft, Doktor Haxxley dazu zu bringen, mich an der Schule bleiben zu lassen!!!!! Aber auch mit dem Preis hatte er sich nicht verschätzt. Ich fühlte mich seltsam nackt ohne mein Amulett, das nun an einer Wand von Haxxleys Büro baumelte. Und die Erinnerung an dessen herablassende Art ließ mich nicht los. Dieser starre Blick aus turmalingrünen Augen, der deutlich machte, dass er von Träumen und Hoffnungen nur äußert wenig verstand. Dieses gönnerhafte Grinsen, als er mir letztendlich doch einen Platz an seiner Schule zugestanden hatte. Hoffentlich waren nicht alle Menschen hier so! Haxxley für seinen Teil hatte sich letztendlich verabschiedet, um Schwertkampf zu lehren. Da ich erst ab dem nächsten Tag am Unterricht teilnehmen sollte, wanderte ich nun etwas verloren über das Schulgelände. Aufs Zimmer wollte ich noch nicht gehen: Die wurden nämlich jeweils zu zweit geteilt und ich wollte meiner Mitbewohnerin ungern den Schrecken ihres Lebens einjagen, wenn ich einfach ohne Vorwarnung bei ihr im Schlafzimmer saß. Erstmal würde ich beim Abendessen die Gelegenheit nutzen, mich vorzustellen. Auch wenn mir davor schon jetzt graute. Ich hasste es, irgendwo neu zu sein. Ich hatte dann immer das Gefühl, irgendwer hätte mich auf eine Bühne gestoßen, grelle Lichter auf mich gerichtet, leider aber vergessen, mir zu verraten, welchen Text ich überhaupt aufsagen sollte. Aber irgendwie würde ich das schon hinter mich bringen. Jetzt, da ich es an die Schule meiner Träume geschafft hatte, schien alles möglich. Erschöpft, aber irgendwie doch zu neugierig, um mich einfach irgendwo hinzusetzen, lief ich weiter über den ausschweifenden grünen Innenhof des Internats. Irgendwo hier musste sich auch der Litar Shpëtimi aus dem nahe gelegenen Vetmia-Gebirge über das Schulgelände schlängeln, wie ich aus der Geschichte um Annabelle wusste. Nach einem langen, immer noch etwas ungläubigen Blick auf den Steinernen Turm ließ ich den hinter mir und kam schließlich an einem nicht weniger verwitterten Torbogen an. Und – direkt unter dem Torbogen, mit dem Rücken an die Steine gelehnt, saß schon ein anderer Mensch. Sein helles Gesicht war halb von glatten, schulterlangen Haaren verdeckt, die ebenso grün waren wie das Moos, das zwischen den Steinen wucherte. Ich war so nah, dass ich ihn vor sich hin murmeln hören konnte, doch er sah nicht auf. Sofort schossen mir tausend Fragen durch den Kopf: Was machte er ganz allein hier draußen, obwohl doch gerade Unterricht war? Warum ignorierte er mich so gänzlich? War er zu eitel, einer neuen Mitschülerin auch nur ein kurzes „Hallo“ zuteil werden zu lassen? War er am Ende gar aus dem Unterricht geschickt worden, weil er sich gemein verhalten hatte? Oder lag es schlicht und ergreifend an mir? Gab ich so einen abstoßenden Anblick ab, dass er sich lieber erst gar nicht mit mir abgab? Später sollte ich lernen, dass ich mit all diesen Sorgen daneben gelegen hatte. Ich sollte lernen, dass der Name dieses Menschen Jake war und er mich an diesem Tag überhaupt nicht bemerkt hatte. Viel zu vertieft war er gewesen in eine beeindruckend realitätsgetreue Zeichnung eines Käfers, der vor ihm auf dem Boden herumgekrabbelt war. Ich sollte lernen, dass Jake in meinen Jahrgang ging, den Schwertkampfunterricht aber nicht selten schwänzte. Ich sollte lernen, dass er einer der wundervollsten Menschen war, denen ich je begegnet war. Doch all das wusste ich in diesem Moment noch nicht. Und wie sehr er mir einmal wehtun würde, das ahnte ich auch nicht.

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