Читать книгу Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - Страница 6
Eins
ОглавлениеIch hatte es kommen sehen, doch das machte es nicht im Geringsten besser zu ertragen. Lange waren sie nur ein düsterer Schatten am Rande meines Bewusstseins gewesen. Jetzt standen sie in Fleisch und Blut vor uns. Falls davon bei ihnen noch die Rede sein konnte. Ihr toter Blick hätte mich nicht besser zum Frösteln bringen können, hätten sie mich mit knochigen Fingern in einen Trog gefrorener Herzen gestoßen. Leer und tot und kalt starrten ihre Augen unter den stahlgrauen Kapuzen hervor. Jede Hoffnung, dass es sich um eine Verwechslung handeln könnte, wäre ein kläglicher Versuch des Selbstbetrugs gewesen. Die Scherben des Cabrysz, zwei von ihnen. Sie waren gekommen, um mir meinen besten Freund zu nehmen.
Natürlich wollten sie Jake haben. Wer hätte das nicht gewollt? Schließlich war er Jahrgangsbester in so ungefähr jedem Fach. Außerdem konnte er verdammt gut zeichnen. Okay, letzteres war genau genommen nichts, was am Kullë Guri auf viel Begeisterung stieß. Zeichnen! So ein Firlefanz! Direktor Doktor Haxxley wäre es bedeutend lieber gewesen, Jake hätte endlich mal mehr Interesse am Schwertkampf gezeigt. Ein harter Kerl sein und so’n Quatsch. Aber Schwerter waren einfach überhaupt nicht Jakes Welt. Welten entstanden bei ihm auf dem Papier. Oder auf der Leinwand. Oder an den Wänden seines Zimmers. Aber nicht, indem er eine Klinge in die Hand nahm und andere Menschen damit bedrohte. Dieser ewige Wettstreit, diese aufgesetzte Härte und ständige Angeberei waren ihm total zuwider. Viele Typen an unserer Schule waren so. Konnten es gar nicht erwarten, dass wieder das wöchentliche Schwertkampf-Training anstand. Prügelten sich um die am stärksten glänzenden Waffen. Regelmäßig versuchte irgendwer, ein Schwert aus der Kampfhalle zu schmuggeln, um damit später anzugeben und Aufmerksamkeit zu erheischen. Regelmäßig scheiterte die Person dabei unter dem wachsamen Blick von Doktor Haxxley und Jake machte sich darüber lustig, wenn wir abends am Fluss saßen. Quasi jeden Abend saßen gemeinsam dort - und wenn nicht, dann saßen wir vermutlich gerade am Kleinen Torbogen, dort, wo wir uns zum ersten Mal begegnet waren.
Es ließe sich denken, ein Tag wie dieser käme mit Pauken und Trompeten daher. So ein Tag, der alles verändert. Doch das brauchten die beiden Scherben gar nicht. Sie hatten eine derartig dominante Präsenz, dass es unmöglich war, sie zu ignorieren. Auch wenn ich das liebend gern getan hätte. Die Augen schließen wie ein kleines Kind. Was ich nicht sehe, ist auch nicht da. Nur machte es das natürlich auch nicht besser.
Sie hingegen schenkten meiner Anwesenheit keine allzu große Beachtung, stießen mich unsanft zur Seite. „Ey!”, wollte ich rufen, doch meine Stimme verkümmerte zu seinem unverständlichen Krächzen. Eine Entschuldigung schienen die beiden nicht nötig zu haben. Stattdessen wandten sie sich ohne zu stocken an Jake: „Schön, Sie hier anzutreffen.“ Fast synchron schauten wir beide uns irritiert um und rollten dann mit den Augen. Es war ein Nachmittag in der Schulzeit, wir befanden uns in einer Gasse des anliegenden Dorfes Siguri – das war nun wirklich nicht ungewöhnlich. Und dass es schön war, hier auf Anhänger des Cabrysz zu stoßen, konnten wir auch nicht gerade bestätigen. Uns einfach abwenden und weitergehen konnten wir aber auch nicht. Obwohl sie ja genau genommen auch nur Menschen waren, zogen die beiden uns regelrecht in ihren Bann, auch wenn es ein unangenehmer war. Vielleicht vielmehr eine Schockstarre. So sagte ich nichts, als sie Jake um ein Gespräch unter sechs Augen baten. Ein ungutes Gefühl hatte ich aber dennoch. Für einen Moment trafen mich die stahlgrauen Augen der einen Scherbe und mich durchzuckte die Angst, sie hätten nur einen Vorwand gesucht, ihn ungestört anzugreifen. Hektisch ließ ich den Blick die Straße hinauf und hinunter wandern in der Hoffnung, irgendeinen Menschen zu sehen, den ich kannte. Den ich um Hilfe bitten konnte - darum, ein wachsames Auge auf das Geschehen zu behalten. Uns zu unterstützen, falls es nötig wurde. Doch die Straße war wie leergefegt. Scheiße! Mein Herz begann, panisch zu hämmern. Für einen sehr langen Moment war ich überzeugt, hier und jetzt meinen besten Freund zu verlieren. Dann setzte mein Verstand wieder ein, und zwar in der Form von Annabelle: „Wenn sie Jake angreifen wollen würden, meinste nicht, sie hätten das einfach gleich aus dem Hinterhalt getan, statt sich extra einen Vorwand auszudenken, mit ihm reden?“, flüstere sie in meinem Kopf, und ich musste zugeben, dass sie recht hatte. Okay. Okay. Das machte die ganze Situation zwar nicht angenehmer, aber ein wenig weniger bedrohlich. „Danke, Annabelle. Ich frag jetzt einfach nicht, warum du dich so gut mit Angriffsstrategien auskennst, ja?“ Annabelle grinste viel- und nichtssagend. Ich meinerseits wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Realität zu. Jake neben mir schien noch immer nicht in der Lage, sich von den Scherben loszureißen. Widerwillig stimmte er dem Gespräch zu. Besorgt behielt ich die drei im Auge, als sie einige Schritte weiter-gingen, weg von mir – verstehen, was sie sagten, konnte ich allerdings nicht. Nach dem Gespräch war Jake seltsam drauf. Er wirkte aufgeregt, etwas nervös – aber nicht unbedingt auf negative Art und Weise. Das Gespräch hatte er unbeschadet überstanden, das war schonmal gut. Doch was bitte hatten die Scherben zu ihm gesagt?! Er schien nicht verängstigt oder frustriert. Ganz im Gegenteil: Es schien, als habe er völlig vergessen, mit wem er da gerade gesprochen hatte. Als hätte er eine gute Nachricht bekommen. Eine schöne Erfahrung mit den Scherben?! Davon hatte ich ja noch nie gehört. Und das passte auch überhaupt nicht dazu, wie ich die Situation wahrgenommen hatte - wie ich geglaubt hatte, dass Jake sie ebenfalls wahrgenommen hatte. Gerade er verachtete die Scherben doch zutiefst! So wie in seine Welt aus Kohlestift und Farben keine Schwertkämpfe passten, so passte es erst recht nicht zu ihm, mit einer grauen Kutte durch die Gegend zu laufen und Menschen einzuschüchtern. Denn nichts Anderes taten die Scherben schließlich: Sie zogen durch die Dörfer und terrorisierten die Leute. Und ab und zu versuchten sie eben, talentierte junge Magier anzuwerben. Das wussten wir beide. Auch, dass sie anscheinend zumindest einen Versuch gestartet hatten, Jake auf ihre Seite zu kriegen, wunderte mich nicht. Aber dass dieser so positiv darauf reagierte, machte mich stutzig. Was für ein Angebot hatten sie ihm unterbreitet, vor dem er nicht sofort schreiend weggelaufen war? Hatten sie ihn gar verhext?! Warum regte er sich jetzt nicht mit mir gemeinsam darüber auf, dass die Scherben inzwischen auch schon in Siguri ihr Unwesen trieben? Warum pflasterte er den Heimweg nicht mit Flüchen und Verwünschungen? Im Gegenteil hopste er herum, als hätte er ein besonders schönes Geschenk bekommen – etwas, das ihm gerade in der Öffentlichkeit so überhaupt nicht ähnlich sah. Er war so in seinem Freudentaumel gefangen, dass er gar keine Zeit fand, mir zu erzählen, was die beiden denn nun überhaupt gesagt hatten. Seufzend und kopfschüttelnd ging ich den Weg zurück zur Schule neben ihm her. Für gewöhnlich freute ich mich ja, wenn es Jake gutging und er sich für etwas begeisterte. Doch diese Sache mit den Scherben, die gefiel mir ganz und gar nicht. Was auch immer sie von ihm gewollt und ihm angeboten hatten – es konnte eine Zusammenarbeit mit ihnen im Grunde gar nicht wert sein. Selbst, wenn es etwas war, das Jake gerne haben wollte – mit Cabrysz zu tun haben konnte doch gar nicht gutgehen…