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Sechs
ОглавлениеKurz nach den Prüfungen hatten wir wenigstens etwas zu feiern – also, abgesehen davon, dass wir den ewigen Lern-Marathon hinter uns hatten: Ich wurde zweihundertzweiundzwanzig Monde alt! Endlich war ich offiziell unabhängig von meinen Adoptiveltern. Jetzt musste ich auch außerhalb meiner kleinen künstlichen Welt innerhalb der Schulmauern nichts mehr mit ihnen zu tun haben! Wirklich nicht! Niemals wieder! Ich hatte das Gefühl, ich sei aus einem Verließ ausgebrochen und nun war auch endlich der Suchbefehl nach mir aufgehoben worden.
Die viele Arbeit der letzten Wochen hatte mich so sehr erschöpft, dass ich nach dem Abendessen trotz aller Aufregung einfach wegpennte. Doch Zoé wäre nicht Zoé, hätte sie mich nicht pünktlich zum höchsten Stand des Mondes aufgeweckt. Der zweihundertzweiundzwanzigste Vollmond seit meiner Geburt – sofern ich den Angaben meiner Adoptiveltern Glauben schenken konnte. „Hey, hey, hey, hey, heeeeeey!“, rief Zoé aus und stupste mir gegen die Schulter. Irritiert blinzelte ich in das helle Licht vor meinen Augen. Es dauerte eine ganze Weile, bis mir klar wurde, dass es sich um die flackernden Flammen von sage und schreibe zweihundertzweiundzwanzig Kerzen handelte. Noch einen Moment länger brauchte ich, um zu kapieren, dass diese Kerzen sich auf einer völlig überdimensionierten lila Torte befanden. „Meinen aller-allerherzlichsten Glückwunsch zu deinem zweihundertzweiundzwanzigsten Vollmond!“, schrie meine Mitbewohnerin gut gelaunt. Peinlich wurde mir bewusst, dass ich gerade mitten im Gemeinschaftsraum unseres Korridors saß, komplett zerknautscht in dem Sofa versunken, auf dem ich eingenickt war. Eilig setzte ich mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Um mich herum standen Zoé, Liz, Cara, Zeraphine und Nathan, um mir zu gratulieren. Die Torte schwebte zwischen uns in der Luft und ihre Kerzen fingen bedrohlich an zu flackern, als Zoé an ihr vorbei stürmte, um mir um den Hals zu fallen. Ich drückte meine Mitbewohnerin und fühlte, wie mir die Rührung die Tränen in die Augen trieb. Noch vor zwei Semestern hätte ich im Leben nicht damit gerechnet, zu meinem zweihundertzwei-undzwanzigsten Vollmonds Menschen um mich zu haben, die so etwas für mich vorbereiteten. Genau genommen hatte ich nicht einmal jetzt mit dem hier gerechnet. Und doch standen sie nun alle um mich herum, umarmten mich der Reihe nach und beglückwünschten mich. „Vielen, vielen, vielen, vielen Dank!“, konnte ich nur immer wieder wiederholen. Schließlich ließ Nathan Teller und Besteck erscheinen. „Na, Nana? Schaffst du es, alle Kerzen auf einmal auszupusten?“, kicherte Liz. Die Flammen ließen ihre kurzen Locken noch knallpinker erscheinen als sonst, jede einzelne Sommersprosse auf ihrer dunkelbraunen Haut hervortreten, prägten ihr gut gelauntes Grinsen tief in mein Gedächtnis ein. Die Bilder dieser Nacht würden mir noch lange, lange in glücklicher Erinnerung bleiben. „Fordere mich nicht heraus, sonst lösche ich die Kerzen einfach mit einem Wasserstrahl und die ganze Torte ist ruiniert!“, gab ich lachend zurück. „Und das wäre doch schade, die sieht nämlich wirklich gut aus!“ Erst jetzt realisierte ich, dass es nicht nur die Torte war, die gut aussah. Während ich geschlafen hatte, hatten die fünf das gesamte Zimmer dekoriert. Die Tische waren mit Glitzer bedeckt, von den Lampen hingen bunte Herzen und Blumen, und einmal quer durch den Saal war ein Banner mit den Worten „Alles Gute, Nael!“ gespannt. Ich war sprachlos. Das alles fühlte sich an wie ein Traum. Als würde ich selbst auf einer funkelnden Wolke umher schweben. Grinsend schloss ich alle noch ein zweites Mal in die Arme. Dann rief ich: „Wer will Kuchen?!“ und wir stürzten uns auf das Kunstwerk. „Wo hab ihr dieses Monstrum eigentlich herbekommen?“, fragte ich kauend. „Gemeinschaftsprojekt“, erklärte Liz stolz und schluckte ihren letzten Bissen herunter, nur um sich gleich noch ein zweites Stück zu nehmen. „Gebacken haben Cara und ich, Zeraphine hat die handgezogenen Kerzen beigesteuert, Zoé hat auf den bunten Tortenguss bestanden.“ Cara und Zeraphine reckten die Daumen in die Höhe. Mit ihren strahlend blauen Haaren im beinahe exakt selben Farbton sahen sie aus wie Geschwister, die gemeinsam durch dick und dünn gingen, auch wenn Caras Haare kurz und glatt waren und Zeraphines lang und lockig. Doch bevor ich in irgendwelche Gedankenschluchten zum Thema Familie abstürzen konnte, fuhr Zoé auch schon mit vollem Mund fort: „Außerdem haben Nathan und ich für die Dekoration gesorgt. Wobei mir einfällt: Sag mal, Nathan, hattest du nicht auch einen Kristallscheibenspieler organisiert?“ „Selbstverständlich!“, grinste der Angesprochene. „Was wäre denn bitte eine Party ohne Musik?!“ Kurz fragte ich mich, ob die beiden keine Angst hatten, erwischt zu werden – wenn es eines gab, womit das Lehrpersonal keinen Spaß verstand, dann war es die Nachtruhe. Doch dann sah ich Nathan grinsen und mir fiel wieder ein: Klar, dieses Problem ließ sich ja nun wirklich einfach umgehen. Schon als wir zusammen am Kleinen Torbogen gesessen hatten, hatten wir oft zur Sicherheit einen Zauber gewirkt, der die Geräusche um uns nur für uns hörbar machte. Garantiert hatte Nathan den längst angewandt. Das beruhigte mich ein wenig, wenn auch nicht vollständig. Was, wenn der Zauber nicht geklappt hatte, oder im Lehrkörper ein Gegenzauber bekannt war? Oder irgendwer einfach zu einem spontanen Kontrollgang vorbeikam? Aber zum Glück hatte ich ja etwas, das mich ablenkte. Eine verdammt großartige Mondfeier, zu der die Anderen sich rührend viele Gedanken gemacht hatten! Es dauerte nicht lange, da war der Raum erfüllt von dem Klang von Schaukelpferd. Und… Traurigkeit kroch mir in die Brust. Die Wolke, auf der ich gerade noch emotional geschwebt war, wurde mit einem Schlag zu einer tiefgrauen Regenwolke. Tränen regneten mein Gesicht hinunter und ich hatte das Gefühl, zu fallen. Bis gerade eben war ich so glücklich gewesen wie noch nie in meinem Leben – oder jedenfalls sehr, sehr lange nicht mehr. Jetzt bekam diese leuchtende Blase einen Stich. Wir saßen hier im Kullë Guri, feierten meinen zweihundertzweiundzwanzigsten Vollmond, es war total großartig – doch wer fehlte, war Jake. Bis die Musik angefangen hatte zu spielen, hatte ich das glatt vergessen gehabt, so überrumpelt und überwältigt war ich gewesen. Doch ohne ihn fühlte sich die tollste Feier unvollständig an; als stünde ein leerer Stuhl mitten im Raum und ich konnte einfach nicht daran vorbeigucken. Fragend sahen die Anderen mich an. „Haben wir was Falsches gesagt?“, fragte Nathan vorsichtig. „Nein, schon gut. Ist nur alles sehr verwirrend. Dieses ganze Erwachsenwerden“, gab ich ausweichend zurück. „Ohhh ja!“, stimmte Nathan zu. Zoé warf mir einen skeptischen Blick zu: „Sicher, dass du über nichts reden möchtest?“ „Ja, alles gut. Ihr seid die Besten!“ Und dann fand ich mich mitten in einem Gewirr von Haaren und Armen wieder, als sie mich alle gleichzeitig erneut umarmten. Lachend plumpsten wir vom Sofa herunter und kullerten regelrecht über den Boden. Dass Jake nicht dabei sein konnte, blieb trotzdem wie ein leichter Stich in den Hinterkopf. „Da fällt mir ein: Wir haben ja ein Geschenk für dich!“, rief Zoé plötzlich. Beim Gedanken, zur Feier meines zweihundertzweiundzwanzigsten Vollmondes auch noch ein Geschenk zu bekommen, war ich schon zum zweiten Mal in dieser Nacht total überwältigt. „Das wäre doch nicht nötig gewesen“, murmelte ich. „Nicht nötig? Ich geb‘ dir gleich nicht nötig! Du wirst zweihundertzweiundzwanzig Monde alt, natürlich bekommst du ein Geschenk!“ „Und ich bin mir sicher, es wir dir gefallen…“, fügte Nathan grinsend hinzu. Zoé holte ein kleines Päckchen aus der Hosentasche. Ich zog die Augenbrauen nach oben: „Verarscht ihr mich? Da passt doch höchstens eine Walnuss rein.“ „Du wirst dich freuen, fest versprochen!“, gab Zoé zurück und überreichte mir das Geschenk. Meine Finger zitterten vor Aufregung, als ich das dunkelblaue Papier entfernte. Ein kleiner goldener Gegenstand fiel mir in den Schoß. Ich musste zweimal hinschauen, um zu glauben, was ich sah. Dann war jede Angst vor Sanktionen auf einen Schlag vergessen und ich kreischte vor Freude: „Ihr habt nicht ernsthaft… wie… wo habt ihr das denn her?????“ Zoé und Nathan stießen die Fäuste zusammen. „Ist das wirklich…?“ „…das Amulett deiner Oma, ganz genau“, führte Zoé meinen Satz zu Ende und grinste. „Der Haxxley hat so viel Goldkram in seinem Büro, dem fällt das doch gar nicht auf. Zumal Zeraphine hier sich als begabte Kopiererin herausgestellt hat.“ Mit offenem Mund wirbelte ich zu Zeraphine herum, starrte zwischen Zoé, Nathan und ihr hin und her. „Ihr habt das Amulett aus dem Büro von Doktor Haxxley geklaut????“ Sprachlos schlug ich die Hand vor den Mund. „Exakt“, bestätigte Zoé stolz. „Du bist jetzt zweihundertzweiundzwanzig Monde alt, Nael. Haxxley kann dir überhaupt nichts mehr. Das Amulett gehört dir.“ Gerade, als ich mit Nathans Hilfe das Amulett umgelegt hatte und es mit Glückstränen in den Augen fest an mein Herz presste, klopfte es wummernd an der Tür.