Читать книгу Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - Страница 8
Drei
ОглавлениеEs hatte ja so manches gegeben, an das ich mich nach meiner Ankunft am Kullë Guri erst hatte gewöhnen müssen. Eines davon war, dass hier die Schlaftrakte erstens nach Geschlechtern und zweitens nur nach den Geschlechtern „männlich“ und „weiblich“ aufgeteilt waren. Zunächst einmal ergab das nicht mal Sinn. In Kaluara - der Stadt, in der ich aufgewachsen war -, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, ausgerechnet in der Schule ausgerechnet nach Geschlecht zu sortieren. Und dann auch noch so fehlerhaft! Einer der positiveren Eigenschaften dieser oft doch eher anstrengenden Großstadt. Auch in Büchern begleiteten mich schon seit meiner Kindheit Charaktere, die alle möglichen Geschlechter hatten - oft sogar mehrere oder gar keine. Wäre Annabelle wirklich hier gewesen, ihr erster Kommentar wäre vermutlich gewesen: „Können wir nicht nach was Sinnvollerem sortieren? Menschen, die schnarchen, zu Menschen, die das nicht stört? Oder zwei Menschen, die gerne über die selbe Zeitschrift quatschen wollen, in ein Zimmer?“ Dass das weite Spektrum der Geschlechter andernorts alles andere als selbstverständlich bekannt war, hatte ich so allerdings erst sehr spät gelernt und meist erfolgreich verdrängt. Im Mädchen-Schlaftrakt zu schlafen, fühlte sich auch gar nicht unbedingt falsch an. Auch wenn es sich definitiv falsch anfühlte, mit welcher Selbstverständlichkeit Haxxley mich diesem zugewiesen hatte. Er kannte mich doch gar nicht! Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass Menschen wie er Leute anhand ihres Körpers in Geschlechtsschubladen steckten. Dieser Logik zufolge qualifizierten mich anscheinend meine Brüste für ein Mädchen-Zimmer? Oder so? Ganz verstanden hatte ich es nicht. Vielleicht lag es in Wahrheit auch daran, dass sowieso nur im Mädchen-Trakt noch ein Bett frei gewesen war. Was ich erstmal irgendwie hingenommen hatte, hatte ich später angefangen, ziemlich schade zu finden: Dass Jake im Jungen-Trakt schlief und zudem auch bereits einen Mitbewohner hatte, bedeutete, dass wir kein Zimmer teilen konnten. Jetzt jedoch kam mir das doch ganz gelegen. Zu schmerzhaft wäre es gewesen, plötzlich ganz allein im Zimmer zu leben und bei jedem Betreten Jakes Weggang vor Augen geführt zu bekommen. Es war ja so schon schlimm genug: Kein gemeinsames Frühstück gab es mehr, keine gemeinsamen Schulstunden, keine gemeinsamen Abende mehr - wieder etwas zum dran gewöhnen, obwohl ich es im Grunde gar nicht wollte…
So saß ich nun weder am Kleinen Torbogen, noch am Fluss, sondern auf meinem Bett. Drüben am Tisch saß meine Mitbewohnerin Zoé, das im Kontrast zu ihren kurzen knallorangenen Haare irgendwie stets blassweiß wirkende Gesicht in einen Kriminalroman vergraben. Auch wenn wir eher selten über wirklich Persönliches redeten, so fiel doch sogar ihr auf, dass irgendwas nicht stimmte. Am Ende des Kapitels sah sie auf: „Alles in Ordnung bei dir?“ Ich war mir gar nicht sicher, wie genau sie mitbekommen hatte, dass Jake und ich befreundet waren. Und um über seinen Weggang zu reden, hatte ich gerade ohnehin keine Energie. Also meinte ich ausweichend: „Schon okay. Ich bin nur etwas müde. Und etwas unsicher, ob ich das heute in Naturkunde alles richtig verstanden habe.“ Das war natürlich totaler Unsinn, und vermutlich wusste Zoé das auch. Naturkunde war mein bestes Fach und ich hatte darin noch nie etwas nicht auf Anhieb verstanden. Aber sie nahm meine Erklärung so hin und versprach, das aktuelle Thema am nächsten Tag noch einmal mit mir durchzugehen. „Danke“, murmelte ich und verkroch mich unterm Federbett. Zum Schlafen war es noch etwas zu früh, aber ich wusste auch sonst nicht so recht was mit mir anzufangen. Also starrte ich einfach vor mich hin, der Decke entgegen.
Diese war in unserem Zimmer mit kleinen glitzernden Steinen besetzt. Im Halbdunklen sah es so aus, als lägen wir direkt unter dem offenen Sternenhimmel. Noch war ihr Leuchten nur schwach zu erkennen, aber es hob meine Laune trotzdem ein wenig. Egal, was der Tag an Strapazen mit sich gebracht hatte: Wenn ich hier lag und hinaufschaute, fühlte ich mich ruhig und glücklich. Lächelnd ließ ich meine Gedanken schweifen, weg von den Ereignissen der letzten Tage…
Nach dem zweiten Zusammentreffen zwischen Jake und den Scherben war alles sehr schnell gegangen. Mit Doktor Haxxley hatte er noch am selben Abend gesprochen. Hatte ich mir von diesem irgendeine Art von Gegenwehr erhofft, so hatte ich gehörig daneben gelegen. Irgendwie vergaß ich immer, wie verbreitet das Bild der Elite-Akademie in den Bergen doch war. Haxxley schien nicht die geringsten Befürchtungen zu haben, dass Jake in der Stählernen Burg etwas zustoßen könnte. Ganz im Gegenteil: Auch er schien ganz begeistert von dem Gedanken, dass einer seiner Schüler es auf die Akademie des Cabrysz geschafft hatte. Vielleicht, so dachte ich insgeheim, war er gleichzeitig sogar ein wenig froh, den jungen Rebellen endlich los zu sein – auf eine Art, die dem Ansehen der Schule auch noch eher zuträglich denn schädlich war.
Nach dem Gespräch mit dem Direktor hatte Jake seinen Eltern einen Brief geschrieben. Da er längst über zweihundertzweiundzwanzig Monde alt war, konnten sie seinen Plänen ohnehin nicht widersprechen; ganz egal, ob sie nun stolz oder besorgt waren. Am nächsten Nachmittag nach dem Unterricht hatten wir dann gemeinsam seine Sachen gepackt. Das war überraschend schnell gegangen - genau genommen schneller, als mir lieb gewesen war. Viel war es ja auch nicht, was Jake ans Kullë Guri mitgebracht hatte, dafür waren die Schlafzimmer zu klein.
Als letztes hatte er die Flagge der Band Schaukelpferd von der Wand genommen. „Hier, behalt du die“, hatte er gesagt und sie mir in die Hand gedrückt. Und kichernd hinzugefügt: „Weißt du noch, wie wir mal nachts am Kleinen Torbogen gestanden, uns die Flagge als Umhang um die Schultern geworfen und so getan haben, als würden wir allein die ganze Welt retten?“ Unter dem folgenden Lachanfall hatte ich die Flagge kaum entgegennehmen können. Ja, daran erinnerte ich mich nur zu gut. Schaukelpferd machten fabelhafte Musik, und wenn sie gerade nicht damit beschäftigt waren, zogen sie durch die Dörfer und bekämpften böse Magier*innen wie etwa Cabrysz‘ Scherben. Mit der Zeit waren sie zur Legende geworden – einer Legende, der auch wir manchmal gerne nachhingen. Ganz ohne Aufregung war es freilich nicht über die Bühne gegangen, dass Jake die Flagge beim Einzug über sein Bett gehängt hatte. Nicht lange und sein Zimmernachbar Tristan hatte sich bei Doktor Haxxley über die „politische Symbolik“ beschwert, die Jake an seiner Wand hängen hätte. Eine hitzige Diskussion später hatte der die Flagge zunächst abnehmen müssen, schließlich habe er sich in der Schule neutral zu verhalten – nur, um sie einfach wieder aufzuhängen, als sich der Sturm gelegt hatte. Sollte Haxxley doch sagen, was er wollte: das kleine bisschen Rebellion ließ Jake sich nicht nehmen. Schließlich war sein Schlafzimmer ja wohl sein privater Raum, wie er sagte. Das hatte zwar zu einem zweiten Zusammenstoß mit Tristan und unserem Schulleiter geführt - Jake von der Schule zu werfen, traute der sich jedoch auch wieder nicht. Immerhin war er trotz seiner Abneigung gegen das Schwertkämpfen einer seiner besten und angesehensten Schüler. Wer wollte den schon gehen sehen? So war stattdessen ein Zimmertausch veranlasst worden. Dadurch hatten wir näheren Kontakt zu Nathan gewonnen, mit dem Jake zuletzt sein Zimmer geteilt hatte. Nathan mochten wir beide bedeutend lieber als Tristan. Er konnte Schaukelpferd ebenfalls etwas abgewinnen, wenn es auch nicht seine Lieblingsmusik sein mochte. Manchmal hatte er sogar mit uns am Kleinen Torbogen oder am Ufer des Litar rumgehangen. Schaukelpferd spielten in jeder Erinnerung an solche Abende im Hintergrund. Jake besaß nämlich nicht nur ihre Flagge, sondern auch so ungefähr jede Kristallscheibe, die von ihnen verfügbar war. Auch hier mussten wir natürlich ein wenig darauf achtgeben, uns nicht von Doktor Haxxley erwischen zu lassen – aber bitte, was war die Schulzeit schon ohne ein klein wenig Eigensinn? Letzten Endes waren wir auch immer davongekommen. Ob ich mich trauen würde, die Flagge bei mir im Zimmer aufzuhängen, war ich mir nicht sicher. Drama konnte ich so überhaupt nicht brauchen. Aber ich nahm sie trotzdem gerne an: So blieb sie mir als Erinnerung. Als Zeichen, dass sich unsere Wege hier zwar vorerst trennten, wir uns aber dennoch gegenseitig erhalten bleiben würden.