Читать книгу Nervennahrung - Verena Lugert - Страница 4
ES WAR ENDE MÄRZ, IN DER HOCH-ZEIT DES CORONA-LOCKDOWNS, ALS DER ANRUF VON SPIEGEL.DE KAM.
ОглавлениеICH WAR KURZ VORHER noch dabei gewesen, in Hamburg meine kleine Experimentierküche einzurichten, ich wollte sie im Mai eröffnen, das Küchenaufmaß stand, ich hatte ein kleines Ladenlokal angemietet, in dem vor über hundert Jahren ein Fischladen gewesen war. Die Fliesen zeugten noch davon: Riesige Hummer schmückten die alten Wände, die in Smaragdgrün und Perlmutt leuchteten, auch die ausgesuchte Küche würde in einem Grünton sein, einer schimmernden Mischung aus Salbei- und Lindgrün. Ich wollte dort Rezepte entwickeln, meine Tastings stattfinden lassen und in kleinem Rahmen Koch- und Gewürzkurse geben. Ich hatte in den Monaten vorher das große Glück gehabt, für die Lebensmittelindustrie eine neue Marke mitentwickeln zu dürfen, nach toll verlaufenen Tests in Österreich war das Produkt bereits dort in den Supermärkten gelistet und sollte in den kommenden Wochen in den deutschen Markt eingeführt werden. Ich war in der Zeit wie elektrisiert. Und weil mir alles, was mit dem Entwickeln zu tun hatte, eine so große Freude gemacht hat, hatte ich beschlossen, nun wirklich Ernst zu machen und meine schon so lange geplante Versuchsküche zu starten. Der Laden war gemietet, die Küche geplant, das Konzept stand und hatte einen Namen, „I Food“. Ich liebte den Namen und das Herz darin, es drückte genau das aus, was ich für das Kochen und Essen empfand: große Liebe.
Diese Liebe hatte mich vor ein paar Jahren meinen erlernten Beruf als Reportage-Journalistin für Magazine wie „Geo“, „Stern“, „Merian“ und „Die Zeit“ aufgeben lassen, denn mit den Jahren war der Wunsch, Köchin zu werden, immer größer geworden. Ich hatte ihn immer aufgeschoben, wusste aber mit Ende dreißig, dass ich es nun einfach tun musste. Ich gab mein Leben in Hamburg auf, zog nach London und schrieb mich an der geschichtsträchtigen Kochschule Le Cordon Bleu ein. An der wurde ein Intensivkurs angeboten, der die Kocheleven in weniger als einem Jahr (mit Unterricht bis in die Nacht und an den Wochenenden) zum begehrten Diplom bringen sollte, das von der britischen Industrie- und Handelskammer wie ein Gesellenbrief anerkannt war.
ICH KÄMPFTE MICH DURCH DIE AUSBILDUNG UND FAND DANACH EINE STELLE ALS KÖCHIN IN EINEM RESTAURANT DES CELEBRITY-KOCHES GORDON RAMSAY, IN DEM SICH MIR VOLLKOMMEN NEUES ERÖFFNETE: EINE WELT FÜR SICH, ERFÜLLT MIT SCHÖNHEIT, GESCHMACK UND HÖCHSTEM KÖNNEN.
Aber auch ein Arbeiten bis zur Erschöpfung in 16-Stunden-Schichten und eine Besessenheit im Streben nach Perfektion, dem in der Spitzengastronomie alles andere untergeordnet wird. Diese Zeit war eine der verrücktesten, intensivsten und trotz aller Plackerei schönsten in meinem Leben, die aber nach gut einem Jahr durch einen Bandscheibenvorfall ein jähes Ende fand, was mir fast das Herz brach.
Zurück in Deutschland, wandte ich mich wieder dem Schreiben zu, nun aber ausschließlich dem kulinarischen, unterbrochen von einer viermonatigen Hospitanz in der Experimentierküche von Heston Blumenthal, dem englischen Kochsuperstar, der mit Hypnotiseuren, Parfümeuren und Experimental-Psychologen der Uni Oxford zusammenarbeitet – und bei seinen Kreationen auch Schokoladendrucker und Virtuelle Realität einsetzt. Oder das Meeresrauschen als Geschmacksverstärker bemüht. Sonic seasoning nennt er dies.
Danach schrieb ich weiter für Foodmagazine, reiste, interviewte Dreisterneköche, Kochphilosophen und Food-Psychologen und durfte einige meiner ganz großen Idole treffen. Und ich schrieb ein Buch über meine Zeit in der Sternegastronomie.
DOCH ICH WUSSTE: EIGENTLICH WILL ICH KOCHEN, NICHT AUSSCHLIESSLICH DARÜBER SCHREIBEN. ICH WOLLTE REZEPTE ENTWICKELN, NEUE KOMBINATIONEN AUSLOTEN, EXPERIMENTIEREN, GERICHTE ERFINDEN.
Es kamen die ersten Aufträge, dann eben dieser wunderschöne, große, bei dem eine ganz neue Marke aus der Taufe gehoben werden sollte … Ich stand Anfang 2020 also in den Startlöchern.
Und dann kam Corona.
Ich hatte, als Mitte März klar war, dass der Lockdown anstand, in Hamburg mein noch leeres Ladenlokal abgeschlossen und ratlos, ängstlich und traurig den Zug nach Augsburg bestiegen, um in dieser vollkommen unwägbaren Zeit bei meinen Eltern zu sein, ich wusste ja nicht, ob man in den folgenden Wochen und Monaten überhaupt noch Bahnfahren konnte. Wie alle anderen saß ich dann in diesem Angstglockenfrühling zu Hause. Ich aß nervenberuhigende Gummibären im Akkord, schaute Nachrichten, klickte mich durchs Netz und sah der Kurve bei ihrem steilen Anstieg zu. Bis eben jener Anruf von „Spiegel.de“ kam. Ob ich mir vorstellen könnte, täglich eine Art Lockdown-Rezept zu veröffentlichen? Für ein wirklich, wirklich einfaches Gericht, das schnell und aufwandsfrei nachkochbar wäre, ohne Zutatenschnickschnack, niemandem wäre gerade danach, für ein paar frische Korianderblätter das Haus zu verlassen. Vor allem Eltern wären in dieser Zeit überfordert und jonglierten verzweifelt mit den Anforderungen Homeoffice und Kinderbetreuung – und der Tatsache, dass statt Betriebskantine und Kita-Mittagessen nun als weiterer Punkt Selberkochen auf dem Zettel stand. Ich sagte Ja.
UND FAND MICH JÄH IN EINEM FEUERSTURM WIEDER, IM KOMMENTARFELD, DAS SICH UNTER JEDEM ARTIKEL AUF SPIEGEL.DE BEFAND. VIEL ZU LEICHTE REZEPTE, SAGTEN DIE EINEN. ZU VIELE ZUTATEN, SAGTEN DIE ANDEREN.
Und die Fotos! Mein Brathähnchen wurde als Brandopfer bezeichnet. Es war perfekt knusprig, als es aus dem Ofen kam. Aber ohne Extralicht, mit meiner uralten Handykamera fotografiert und vollkommen unbearbeitet, sahen die Sachen tatsächlich auf meinen Bildern deutlich weniger appetitlich aus als in echt.
Ich war verzweifelt und hätte beinahe das Handtuch geworfen – da trat meine Schwester auf den Plan: Sie übernahm das Fotografieren und suchte auf Dachböden, in Gartenschuppen und Kellern von Tanten und Eltern nach Geschirr, Stoffen und Hintergründen für die Bilder. Man konnte ja nichts kaufen, alle Geschäfte waren im Lockdown geschlossen, außer den Apotheken und Supermärkten war alles zu. Die Lieferungen bei Amazon dauerten statt ein paar Tagen auf einmal bis zu drei Wochen. Für besseres Licht bastelte meine Schwester einen Reflektor aus einem Tablett, das sie mit Alufolie umwickelt hatte. Diesen Reflektor, der das Tageslicht einfing und auf den Teller warf, hielt ich dann mit ausgestreckten Armen, während meine Schwester fotografierte.
UND DIE GERICHTE BEGANNEN ZU LEUCHTEN. „DIE FOTOS WERDEN BESSER, FRAU LUGERT!“, HIESS ES NUN IN DEN KOMMENTAREN.
Und es mehrten sich die unheimlich freundlichen und dankbaren Posts, die beschrieben, wie viele Menschen jeden Tag auf die Kolumne warteten, weil das tägliche Kochen sie beruhigte, ihren Tag strukturierte und ihnen Freude schenkte. So ging es durch den Lockdown. Und als Ende Mai eine zögerliche Normalität eingesetzt hatte, waren meine Schwester und ich so drin im Kochen und Fotografieren, dass wir freudig das Angebot vom „Spiegel“ annahmen, unsere aus der Not geborenen Lockdown-Rezepte als wöchentliche Foodkolumne weiterzuführen. Mit Gerichten, die toll schmeckten und, auch wenn die Zutatenliste nun etwas länger sein durfte, immer noch einfach waren.
Einfachheit und Freude. Genau darum geht es für mich: Kochen soll keinen Stress machen, sondern froh. Denn Essen bedeutet für mich Glück – und im besten Fall Liebe .
Verena Lugert