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Racherecht und Recht

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Das römische Recht, oftmals als Roms vornehmstes Vermächtnis bezeichnet, wurde erst nach dem Untergang des weströmischen Reiches gesammelt. Auch auf juristischem Gebiet hielten die Römer sich lieber an Präzedenzfälle als an Regeln; die ersten primitiven Gesetze, das Zwölftafelgesetz von 451 v. Chr., waren und blieben die Grundlage des Rechts.

Da das Recht prinzipiell die Macht einschränkt, sind die Machthaber nicht prinzipiell am Recht interessiert und geben Gesetze erst dann, wenn das Volk genug soziale Bedeutung erlangt hat, um Forderungen zu stellen. In Rom wie in Griechenland war es der Handel mit anderen Völkern, der ein anspruchsvolleres Bürgertum hervorbrachte. Roms Entwicklung von einer primitiv bäuerlichen zu einer primitiv städtischen Gesellschaft fand unter etruskischer Herrschaft statt. Als der letzte, etruskische, König von den ältesten Sippen, deren „Väter“, die patres, im Senat saßen, abgesetzt worden war, verschärfte sich der Gegensatz im Volk so sehr, daß man fortan zwei Wörter für dies Volk brauchte: populus für die privilegierten Patriziergeschlechter und plebs für den gemeinen Haufen der Handelsleute, Handwerker und kleinen Bauern, die keine politische Macht besaßen. Die staatlichen Götter, Jupiter, Juno, Minerva, die 509 ihren Tempel auf dem Capitol bekamen, waren die Götter der Patrizier, doch die Plebejer waren mächtig genug, um 493 auf dem Aventin einen Tempel für die urwüchsigeren Götter Ceres, Libera, Liber (Demeter, Persephone, Dionysos) errichten zu können. Die Patrizier beherrschten den Senat und die Volksversammlung, die Plebejer bildeten ihre eigene Gegenversammlung und wählten ihre eigenen Vertreter, die Volkstribunen. Als die plebs zu einem kritischen Zeitpunkt mit kollektiver Auswanderung drohte, fühlten die Patrizier sich gezwungen, die Volkstribunen anzuerkennen, die das Recht zum Eingreifen erhielten, wenn ein (Patrizier-)Beamter seine Macht über einen Plebejer willkürlich ausübte. Im Laufe der Zeit erhielten sie das Vetorecht bei allen öffentlichen Beschlüssen (ausgenommen waren Beschlüsse über Krieg und Frieden). Es gelang den Volkstribunen, der willkürlichen Machtausübung wirklich die Grenze zu setzen, die die Veröffentlichung des Gesetzes – auf den zwölf Tafeln – darstellte.

Das Zwölftafelgesetz bezeichnet keinen bereits vollzogenen Übergang vom Sippen- und Racherecht zum mehr bürgerlichen Recht, sondern eine Übergangsphase, aus der die Römer nie herauskamen. Vor diesem Hintergrund müssen Senecas humane Rechtsbegriffe verstanden werden. Von alters her besaß der Familienvater uneingeschränkte Gewalt über den gesamten Hausstand, die familia, die ursprünglich eine Selbstversorgereinheit darstellte. Viele Angelegenheiten, z. B. die Unzucht weiblicher Familienmitglieder, unterstanden noch zur Kaiserzeit der Jurisdiktion des Familienvaters. Noch bis 374 n. Chr. hatte er das Recht, unerwünschte Kinder auszusetzen. Zu Senecas Lebzeiten konnte ein Sohn gegen seinen Vater einen Prozeß führen,8 aber Seneca erwähnt auch, daß ein Vater seinen Sohn totpeitschen ließ, was keine andere Strafe bewirkte, als daß sich das Volk auf dem Forum auf ihn stürzte, so daß der Kaiser ihn beschützen mußte.9

Die Tatsache, daß der römische Staat sich so wenig wie möglich in das Privatleben seiner Bürger einmischte, darf nicht als Ausfluß einer „liberalen“ Ideologie verstanden werden, sondern ist als Beibehaltung der traditionellen Familienjustiz zu sehen. Der Staat hatte keinerlei Machtmittel, keine Polizei, zur Handhabung des Gesetzes. Nach dem Zwölftafelgesetz war private Rache zwar nicht ohne weiteres erlaubt, doch der in seinem Recht Gekränkte konnte seinen Fall einem Beamten vorlegen, der ihm dann die Rache gestatten konnte. Im Prinzip galt das Gesetz der Vergeltung, auch wenn das Gesetz einen Vergleich empfahl. Selbstjustiz war, vor allem wenn es um Verteidigung von Grund und Boden ging, bis weit in die Kaiserzeit hinein erlaubt: „ihren Landbesitz lassen sie von niemandem in Beschlag nehmen, und wenn geringfügiger Streit herrscht über die Grenzziehung, rennt man nach Steinen und Waffen; in ihr eigenes Leben lassen sie andere eindringen, nein, vielmehr holen sie selber sogar dessen künftigen Besitzer herbei,“ schreibt Seneca.10

Die juristische Bezeichnung für die Geltendmachung eines Rechtsanspruchs war vindicare, was oft ganz einfach „rächen“ bedeutete. Cicero, der ansonsten Grausamkeit unter Bürgern verurteilt, betrachtet nichtsdestoweniger die vindicatio, das Bedürfnis, physische Gewalt oder andere Formen der Kränkung zu rächen, als ein natürliches Bedürfnis, so wie Religiosität, Pflichtgefühl, Dankbarkeit, Respekt und Wahrheitsliebe.11 Es war unter der Würde, dignitas, der Römer, eine Beleidigung, eine iniuria, hinzunehmen, ein Begriff, der große Bedeutung hatte und im Laufe der Zeit in Rom einen enormen Umfang annahm. Die alten Römer ließen sich anscheinend nur durch Taten kränken, während man die Römer der Kaiserzeit auch durch Worte beleidigen konnte, so daß sich bei den Schriftstellern der Kaiserzeit nicht die heftigen Angriffe auf Personen finden, die zur Zeit der Republik üblich gewesen waren. Nach dem Zwölftafelgesetz stand auf iniuria zwar nur eine Geldstrafe, auf das Singen von Schmähliedern dagegen die Todesstrafe, denn das Absingen von Spottversen vor der Tür eines Beamten war die Art und Weise, in der das Volk sein Mißvergnügen zum Ausdruck bringen konnte.12 Da das Volk jetzt unter dem Schutz des Gesetzes stand, wurde diese Art der Volksjustiz also streng verboten.13

Da die Vollstreckung der Strafe für eine Kränkung dem Verletzten oblag, ist klar, daß es riskanter war, einen großen Mann zu kränken als einen kleinen. Der große Mann konnte sich auch leichter in seiner Ehre gekränkt fühlen. In Wirklichkeit hatte der kleine Mann überhaupt keine Möglichkeit, sein Recht geltend zu machen, es sei denn, ein größerer half ihm. Die „Kleinen“ der Gesellschaft suchten also als Klienten Rechtsschutz bei den „Großen“, deren Würde sich unter anderem in der Anzahl ihrer Klienten äußerte. Die römische Gesellschaft war demnach nicht nur horizontal in Klassen, sondern auch vertikal in „Familien“ eingeteilt, und während eine Klassensolidarität nicht existierte, war die Familiensolidarität solider, da sie auf gegenseitigem Interesse beruhte. Die Klienten erhielten materielle Unterstützung von ihren „Patronen“ und unterstützten dafür diese bei den Wahlen. Dies führte dazu, daß die inneren Konflikte in Rom, nachdem die plebs dem populus gleichgestellt worden war, nicht so sehr den Charakter eines Klassenkampfs annahmen, sondern eher den eines Kampfs zwischen „Großen“, die ihre Würde zu verteidigen und Beleidigungen zu rächen hatten. Julius Cäsars Begründung dafür, daß er die Würfel fallen ließ und gen Rom marschierte, war, daß er in seiner Ehre gekränkt worden sei; er sei, wie er schrieb, absolut nicht gekommen, „um böses Blut zu stiften, sondern nur, um sich gegen die Böswilligkeit seiner Gegner zur Wehr zu setzen ... und um die Freiheit für sich und das römische Volk, das von einer Clique unterdrückt worden sei, zu vindizieren.“14

Obgleich das Recht zur Selbstjustiz, das die römische Republik untergrub, in der Kaiserzeit eingeschränkt wurde, blieb die Einstellung bei Hoch und Niedrig die gleiche. Parodiert wird sie in Petronius’ Roman „Satyricon“ aus der Zeit Senecas. Hier beteuert die junge Dame Quartilla, die den Gott Priapus um ein Mittel gegen Erkältung gebeten hat und an die jungen Herumtreiber, die Hauptpersonen des Romans, verwiesen worden ist, daß ein ganzes Regiment „das Unrecht gerächt und ihre Würde verteidigt“ hätte (iniuriam meam vindicaret et dignitatem), wenn sie sich nicht entgegenkommend gezeigt hätten.15 Bessere Leute konnten gegebenenfalls ein ganzes Regiment von Klienten stellen.

Seneca - Ein Humanist an Neros Hof

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