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Goldenes Zeitalter und Zivilisation: Hesiod

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Mit dem Mythos vom goldenen Zeitalter, das am Anfang war, hielt der Mensch des Altertums an einer, freilich romantischen, Erinnerung an einen sozialen Zustand fest, den man insofern durchaus als einen Naturzustand bezeichnen kann, als der primitive Mensch in engerem Kontakt mit der Natur lebte als der zivilisierte, d. h. der Mensch, der in einer Stadt lebte. Der Übergang von einer naturgebundenen Gesellschaft, in der alles sich gleich bleibt, zu einer städtischen Gesellschaft, in der vieles neu ist, ist die große zivilisatorische Veränderung, die dem Menschen erst einen Begriff von der Veränderlichkeit der Dinge vermittelt. Am Anfang gleicht die Zeit nicht einer ständig zu etwas Neuem führenden Linie, sondern einem ständigen Kreislauf. Die kultischen Feste der Stammesgesellschaft waren Wiederholungen, Nachschaffungen dessen, was am Anfang geschah, die Mythen waren Berichte darüber, keine Theorien, wie die Dinge entstanden waren, sondern Darstellungen, wie sie entstehen. Und ebensowenig wie die Gesellschaft hat das Mitglied der Gesellschaft eine Geschichte: es kommt erst richtig zu sich, wenn es außer sich ist, wenn es in der Ekstase des Kults vorgeschriebene Handlungsmuster wiederholt. „Durch jede wirkliche Handlung, also durch jede Wiederholung einer archetypischen Handlung, [wird] die profane Zeit aufgehoben, so daß diese Handlung an der mythischen Zeit teilhat“, schreibt Mircea Eliade in seinem Buch „Kosmos und Geschichte“,2 das reich ist an Beispielen für den Widerstand, der sich in den primitiven Gesellschaften und auch noch in den großen Kulturen des Altertums gegen die Zeit und die Geschichte richtete. Der Mythos vom goldenen Zeitalter ist an sich bereits Ausdruck eines solchen psychischen Widerstands, und natürlich wurde dieser Mythos erst geschaffen, als alles sich verändert hatte.

Der Gedanke eines immer minderwertigeren Menschengeschlechts im goldenen, silbernen, ehernen bzw. eisernen Zeitalter findet sich (im 7. Jahrhundert v. Chr.) in Hesiods Gedicht „Werke und Tage“, einem der ersten, verworrensten und tiefsinnigsten, primitivsten und revolutionärsten Gedichte der Weltliteratur. Es besteht zu einem großen Teil aus den Ratschlägen, die ein Bauer anderen erteilt, damit sie wissen, wie und wann was auf dem Feld und im Hause getan werden muß: Für Hesiod war es noch natürlich, daß alles der Ordnung der Natur folgte. Er erteilt jedoch auch gute Ratschläge für die Seefahrt, obgleich er herzlich schlecht von ihr denkt: An einer anderen Stelle heißt es, daß die Leute überhaupt nicht zur See zu fahren brauchten, wenn in ihrer Gesellschaft Gerechtigkeit herrschte, denn dann trüge ihre Erde reichlich Frucht. Hieraus kann man schließen, daß Seefahrt und Handel erst dann notwendig sind, wenn die Gesellschaft nicht mehr gerecht ist.3

Und Hesiods Gesellschaft ist nicht mehr gerecht. Sein Gedicht scheint zum Teil durch Erbzwistigkeiten mit seinem Bruder inspiriert zu sein, der sich durch Bestechung die Unterstützung der großen Herren gesichert hatte.4 Die großen Herren müssen wir uns denken wie die Könige der Ilias, doch bei Hesiod erahnt man sie in einem viel trüberen Licht als dem Glanz, der sie bei (dem etwas älteren) Homer umgibt. Homers Helden fühlen sich leicht gekränkt und nehmen schnell Rache, und wenn sie sich vergessen, können sie in homerischer Unschuld sagen: „Zeus trägt die Schuld“. Hesiod, dem es als kleinem Mann innerhalb der Gesellschaft schwerer fällt, seinem Recht Geltung zu verschaffen, droht ihnen dagegen mit Zeus: „Haus und Geschlecht verdorren nach dem Ratschluß des olympischen Zeus, ihr mächtiges Heer stürzt er in den Staub, ihre Mauern legt er brach, und ihre Schiffe trifft er auf dem Meer“5 – wenn sie nicht gerecht sind.

Doch dieser Glaube daran, daß Gerechtigkeit sich lohnt und die Ungerechten bestraft werden, steht im deutlichen Gegensatz zu Hesiods Charakteristik seiner eigenen Zeit als des „eisernen Zeitalters“, in dem Macht gleich Recht ist, der Übeltäter gepriesen wird, Verwandte einander bekämpfen und es keine Hilfe gegen das Böse gibt. Anders war das im goldenen Zeitalter, als alle von den Früchten der Erde lebten und von dem Bösen nichts wußten. Es ist ganz deutlich, daß das ferne goldene Zeitalter in Hesiods Phantasie als ein Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen aufgetaucht ist: die Erfahrung von Unrecht geht dem Gerechtigkeitsgedanken voraus.

Das Seltsame ist nun aber, daß während des goldenen Zeitalters nicht der gerechte Zeus den Himmel beherrschte, sondern sein Vater Kronos, den Zeus seines Amtes enthob. Während wir von den ersten Menschen vernehmen, sie hätten wie Götter gelebt, ohne Mühe und Sorgen und ohne den Tod als etwas anderes denn als Schlummer zu kennen, müssen wir feststellen, daß die Götter damals eher wie Menschen des eisernen Zeitalters lebten, was Hesiod in diesem Zusammenhang diskret verschweigt, wovon er jedoch in einem anderem Gedicht, der Theogonie („Die Geburt der Götter“), ausführlich berichtet. Hier erfahren wir, daß der gutmütig umgängliche Kronos seinen Vater Uranos kastrierte und nachher seine eigenen Kinder, die späteren olympischen Götter, verschlang. Die Väter in der Götterwelt hatten eindeutig etwas dagegen, daß ihre Kinder hochkamen – und ihnen die Macht nahmen. Als Zeus schließlich die Macht übernommen hatte, traf auch er seine entsprechenden Vorkehrungen, doch während seiner Zeit geschieht das äußerst Seltsame, auf das die Mythen im übrigen nicht näher eingehen: daß die Zeit in der Götterwelt stehenbleibt. Die Götter behalten ihr einmal erreichtes Alter und zeugen danach nur noch Kinder mit den Sterblichen. Sieht man genauer hin, um zu erfahren, wo die Zeit geblieben ist, dann sieht man, daß diese Sterblichen, diese Menschen sie auf sich haben nehmen müssen.

Die Menschen waren von Prometheus geschaffen worden, und Zeus erblickte in ihnen möglicherweise eine Gefahr für seine Herrschaft; jedenfalls ließ er sie frieren, so daß Prometheus vom Herd der Götter Feuer für sie stehlen mußte. Zeus sah ein, daß er mit den Menschen leben mußte, in seiner Gerissenheit ließ er jedoch Hephaistos, den Gott der Schmiedekunst, einen Frauenmenschen für die Menschen anfertigen, die demnach bis dahin lauter Männer gewesen sein müssen, und diesen Frauenmenschen, Pandora, schickte er zu Prometheus’ weniger gescheitem Bruder Epimetheus. Als zweiter Adam erlag dieser der Versuchung der Frau und ihrer Mitgift, der Büchse der Pandora, aus der sich alle möglichen Übel über die Welt der Menschen verbreiteten; nur die Hoffnung blieb zurück. Doch in der Hoffnung verhält sich der Mensch zur Zeit, und genau genommen brachte Pandora gerade die Zeit und die Sterblichkeit zu den Männern, die sich auch erst mit Hilfe der Frau vermehren konnten. Die Generationskonflikte bei den Menschen setzten ein, als sie bei den Göttern abflauten: Im eisernen Zeitalter können Väter nicht mit ihren Kindern und Kinder nicht mit ihren Vätern auskommen, und Brüder nicht mit Brüdern, schreibt Hesiod.6

In Hesiods mythologischen Erzählungen finden sich demnach zwei gegensätzliche Entwicklungslinien: Die Menschen werden mit der Zeit kriegerischer, die Götter friedlicher, bis sie sich auf dem Olymp über die Zeit erheben und ebenso sorglos leben wie die Menschen des goldenen Zeitalters, als alles sich gleich blieb. Freilich fällt es Hesiod schwer, diese letztere Entwicklungslinie nachzuziehen. Er erzählt seinen Pandoramythos in „Werke und Tage“ im Anschluß an seinen Ausfall gegen die habgierigen großen Herren, die nicht wissen, „wieviel mehr als das Ganze die Hälfte“7 ist. Die Menschen könnten sich mit Leichtigkeit an einem Tag genug für ein ganzes Jahr verschaffen, wenn nicht Zeus aus Zorn über die List des Prometheus ihre Lebensmittel versteckt und Mühe und Sorgen über sie gebracht hätte. Zeus, der Vater der Gerechtigkeit, mit dem Hesiod sonst den großen Herren droht, scheint also mit diesen gemeinsame Sache zu machen, wenn es darum geht, dem kleinen Mann das Leben sauer zu machen.

Die olympischen Götter sind denn auch, deutlicher bei Homer als bei Hesiod, eher nach dem Ebenbilde des Fürsten als nach dem des Menschen geschaffen, ihre himmlische Gewalt über die sterblichen Menschen etabliert sich zur gleichen Zeit, als es in der Welt der Menschen zwischen den herrschenden Geschlechtern und den anderen Sterblichen zum Gegensatz kommt – den anderen Sterblichen, deren Felder nicht länger reichlich Früchte tragen, so daß sie zuweilen zur See fahren müssen. Die olympischen Götter, Zeus, Hera, Athene usw., die bei Homer eine große Familie geworden sind, ein Herrschergeschlecht, waren ursprünglich primitive Lokalgötter, und Kronos, den das Oberhaupt Zeus entthronte, war – laut Robert Graves8 – ursprünglich ein Korngott, der alljährlich niedergemäht wurde wie das Korn auf dem Feld und wie der „heilige König“, der in einigen primitiven Gesellschaften am Ende seiner Amtszeit geopfert wurde, damit seine Kraft in den Kreislauf einfließen konnte (im Laufe der Zeit wurde an manchen Orten statt des Königs ein männliches Kind geopfert; das mag der Grund dafür sein, daß Kronos in dem Mythos seine Kinder verschlingt). Der Umstand, daß Zeus Kronos die Macht entreißt, spiegelt insofern den Übergang von der primitiven Stammesgesellschaft, deren König sozusagen für die Gesellschaft geopfert wurde, zu der größeren Sippengesellschaft wider, in der der König und die herrschende Sippe die Macht in der Gesellschaft übernehmen. Da dieser Übergang zu größeren sozialen Gegensätzen und gleichzeitig von der Barbarei weg führt, deren Ausdruck das Menschenopfer ist, kann man ihn sowohl als „Fall“ wie auch als „Fortschritt“ begreifen: Hesiod schrieb auf seine eigene primitive Art und Weise dialektisch. Und wenn Seneca in seinem Mythos vom goldenen Zeitalter behauptete, daß die Führer anfangs keine Macht ausgeübt, sondern sich für das Volk geopfert hätten, so enthielt dies einen historischen Kern.

Seneca - Ein Humanist an Neros Hof

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