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Cicero und die Humanitas

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Cicero, der große Redner, der in den Reden gegen den Statthalter Verres zu Beginn seiner Karriere die Ausbeutung der Provinzen durch die herrschenden Klassen angegriffen und seine Karriere als Führer des Senatsadels beschlossen hatte, war nicht umsonst Anhänger eines „gemischten“ Staates. Er war und blieb in allen Lebenslagen ein „neuer Mann“, versnobt und egozentrisch. Er rühmte sich immer, im Jahre 63 als Konsul den Aufstand des Catilina niedergeschlagen zu haben – „nicht ohne Grund, aber ohne Ende“, meint Seneca.30 Doch zugleich war er besessen von seiner Arbeit für einen Staat, in dem ein neuer Mann sich Geltung verschaffen konnte und persönliche Verdienste schwerer wogen als Geburt und „Freundschaften“ und Vermögen. „Keine Form des Staates ist häßlicher als jene, in der die Reichsten für die Besten gelten“,31 schrieb er in seiner Schrift über den Staat, und an anderer Stelle: „Wer sich dem Kreis der Optimaten und Anführer preisgegeben hat, der verliert jenen ernsten und würdevollen Ton seiner Stimme und seines persönlichen Gewichts“.32

Er selbst verlor zuweilen den würdevollen Ton, doch nie die persönliche Leidenschaft. Die größte Schwäche des ehrgeizigen Cicero war sein Wunsch, selbst den Staat lenken zu können, obgleich er kein Staatsmann war, doch sein höchster Ehrgeiz war, dem Staat eine neue moralische Grundlage zu geben. Im Zeitalter des Imperialismus und des Positivismus galt es als unfein, das Politische im Moralischen begründen zu wollen. Niemand ist in diesem Jahrhundert so lächerlich gemacht worden wie Cicero, von Forschern, die mehr Sinn für den souveränen Cäsar als für den schwankenden Cicero hatten. Im Verhältnis zu Cäsar war Cicero freilich der „neue“ und der kleine Mann, und sein Jubel bei Cäsars Tod wirkt peinlich, Cäsar aber war souverän genug, um es besser zu wissen als die Cäsarianer des 20. Jahrhunderts: „Wie viel größer ist es, das Reich des römischen Talentes als das der römischen Macht erweitert zu haben“,33 sagte er – über Cicero. Die Römer hatten ihr Imperium erweitert, ohne sich zu fragen wozu. Die Geschichtsschreiber konnten bedauern, daß die Moral der Vorväter, die virtus, die das Reich geschaffen hatte, nicht lebendig genug war, um es zu erhalten. Cicero aber dämmerte die Erkenntnis, die Seneca dann klarer kam, daß es einer völlig anderen Moral bedürfe, und in seinen Schriften tritt virtus brüderlich vereint mit einem neuen Begriff, der humanitas, auf.

Unter Cäsars Diktatur, als Cicero sich politisch kaltgestellt fühlte, schrieb er eine lange Reihe philosophischer Werke, in denen er sich um eine Vermenschlichung der römischen Kriegerideale bemühte. Zur gleichen Zeit, zu der er seine wütenden Reden gegen Antonius verfaßte, schrieb er sein Buch „Über die Freundschaft“ und versuchte dem Begriff amicitia, der in Rom ja allmählich das gleiche bedeutete wie „Interessen-Verbindung“, die ursprüngliche Bedeutung von gegenseitiger Sympathie zurückzugeben. Obgleich Cicero sich nicht zu einer einzigen philosophischen Richtung bekannte, sondern sich mit imponierendem Überblick über die griechische Philosophie das Beste davon aussuchte, so war es doch vor allem die stoische Lehre von der natürlichen Sympathie als der Grundlage des Staates, die die Grundlage seiner eigenen Staatsauffassung bildete. Über Cicero fand die stoische Idee von den natürlichen Rechten des Menschen ihren Weg in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Cicero nimmt keinen hervorragenden Platz in der Geschichte der Philosophie ein, wo die großen, leicht versponnenen Systeme am eindrucksvollsten wirken, aber er hat nichtsdestoweniger einen größeren Einfluß gehabt als die meisten anderen Philosophen, – wohlgemerkt nicht wegen seiner moralischen Schwächen, sondern kraft seiner moralischen Inspiration.

Oft taucht bei den römischen Schriftstellern der Gedanke auf, daß ein Staat, der nur auf Macht aufbaut, sich nicht von der Gesellschaft der wilden Tiere unterscheide. Die Stoiker, die ein Leben „in Übereinstimmung mit der Natur“ verkündeten, legten genauer dar, daß die Natur des Menschen nicht wie die des Tieres naturgegeben, sondern ihm als moralische Aufgabe gestellt sei. Erst in der Arbeit an der Lösung dieser Aufgabe, an der Formung oder Bildung des Charakters, entsteht die humanitas, die den Mann, vir, zum Menschen, homo, macht, und nicht nur zum Krieger. Der Komödiendichter Terenz hatte nach dem Griechen Menander im 2. Jahrhundert den berühmten Satz formuliert, der vermutlich bereits stoisch beeinflußt ist: Homo sum, humani nil a me alienum puto – Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches sei mir fremd.34 Dieser Humanismus, zu dessen Fürsprechern Cicero und Seneca sich machten, und nicht das Römische Recht, ist Roms vornehmstes Vermächtnis an die Nachwelt.

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