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Die Geschichtsschreiber und die Idee des Verfalls

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Es wurde zur offiziellen römischen Ideologie, daß der jeweilige Kaiser, wer immer das war, das goldene Zeitalter inauguriert und Frieden und Wohlstand geschaffen habe. Sinn hatte dies genau genommen nur dann, wenn dem ein eisernes Zeitalter vorausgegangen war, und es ist begreiflich, daß man einem neuen römischen Kaiser mit um so größerer Begeisterung huldigte, je schlimmer sein Vorgänger gewesen war. Da dies oft der Fall war, strahlte die Erwartung des goldenen Zeitalters immer wieder vor einem immer dunkleren Hintergrund auf. Die vorherrschende Stimmung der Kaiserzeit war düster; die alte Vorstellung vom moralischen Verfall war die Vorstellung in den Werken der Geschichtsschreiber. Einer von ihnen schrieb:

„Die erste Kindheit erlebte Rom unter Romulus, seinem Gründer und gleichsam Nährvater. Das Knabenalter legte es unter den anderen Königen zurück. Als es sich erwachsen fühlte, ertrug es die Knechtschaft nicht mehr; es zog vor, den Gesetzen zu gehorchen statt den Königen. Diese Jünglingszeit endete mit dem Punischen Krieg. Rom erstarkte und trat in sein frühes Mannesalter ein. Als Karthago, das ihm lange die Herrschaft streitig gemacht hatte, weggefegt war, dehnte Rom seine Macht zu Land und Meer über die ganze Welt aus. Bis es endlich, als alle Könige und Völker unterworfen waren ... von seiner Kraft schlechten Gebrauch machte und sich selbst schwächte. Sein Alter begann, als es, zerrissen von Bürgerkriegen ..., abermals in die Monarchie zurücksank wie in eine zweite Kindheit. Als es die Freiheit verlor, die es unter der Führung des Brutus verteidigt hatte, alterte es so, als könnte es sich nicht mehr aufrecht erhalten, wenn nicht gestützt auf die Monarchen.“50

Dies schrieb Senecas Vater, der ebenfalls Seneca hieß, in hohem Alter zur Zeit des Kaisers Caligula, was seine negative Haltung, wenn nicht zu Roms Alter, so doch zum Kaisertum erklärt. Die Schwäche des von Augustus begründeten Systems war, daß es auf einem Mann und seinem Heer ruhte. Trotz aller Formalitäten besaß der Kaiser absolutistische Macht, und die sah der alte Seneca in Caligulas rabiater Herrscherwillkür nicht so sehr ad absurdum geführt, als vielmehr bis zur äußersten Konsequenz getrieben.

Die Willkür des Kaisers machte es schwieriger, Glück und Erfolg als Lohn für moralische Verdienste aufzufassen, vor allem, da unter Tiberius und Caligula Schurken zum Gipfel der Ehre gelangten. Bei Seneca ist fortuna zu einem negativen Begriff geworden, der als Bezeichnung für alle die äußerlichen Umstände, auf die der Mensch keinen Einfluß hat, in einen Gegensatz zu virtus tritt, das gleichzeitig seine Bedeutung ändert und allmählich die moralische Kraft bezeichnet, mit der der Mensch – z. B. Cato – in seinem Kampf gegen das Unrecht Leiden auf sich zu nehmen vermag.

Für den großen Geschichtsschreiber der Kaiserzeit, Cornelius Tacitus, der noch immer den altrömischen Idealen anhing, bedeutete das Fehlen der virtus, die auf dem Felde der Ehre Ruhm erntet, daß Rom das Glück nicht mehr auf seiner Seite hatte und seinem Untergang entgegenging. Für ihn wie für den älteren Seneca war die Monarchie an sich schon ein Symptom des moralischen Verfalls.51 Trotz seiner Aversion gegen die Monarchie und seiner Sympathie für die Republik betrachtete er diese als ein überstandenes Stadium.

Für Tacitus ist es noch immer klar, daß die Geschichte schicksalsbestimmt ist, aber er stellt die seinerzeit aktuelle Frage, ob alles, auch die Sympathie und Antipathie des Kaisers, vorherbestimmt sei oder ob des Menschen eigene Haltung und Handlung einen Einfluß darauf habe, ob er sein Leben ohne Katastrophen zuende führen könne, wenn er die rechte Mitte zwischen hartnäckiger Aufsässigkeit und jämmerlicher Untertänigkeit finde.52 – Tacitus verhehlt nicht, daß er selbst, der unter dem Tyrannen Domitian (im Jahre 88 n. Chr.) Senator und Prätor gewesen war, sich zu einer ihm widerstrebenden Folgsamkeit gezwungen gesehen hatte – ein Beispiel dafür, wie schwer es gerade den führenden Männern des römischen Reiches fallen konnte, ihre persönliche Würde zu bewahren. So wie Cäsars Marsch auf Rom gekränkte Würde zugrunde lag, so ahnt man gekränkte Würde hinter Tacitus’ indignierter Schilderung der römischen Kaiser und ihrer Gefolgsleute. Diesen Hintergrund sollte man im Gedächtnis behalten, da seine Annalen oder Jahrbücher eine Hauptquelle für das Folgende bilden. Für die Römer war und blieb das Moralische (und Unmoralische) die Triebfeder der Geschichte, deshalb waren und blieben die Geschichtsschreiber Moralisten. Das trifft auch auf die zweite Quelle zur Geschichte der Kaiserzeit zu, auf Sueton, wenn er sich auch keine Gedanken über den Lauf der Geschichte machte oder irgend etwas im Zusammenhang sah. Er war lange Zeit hindurch Kabinettssekretär bei Kaiser Hadrian und betrachtete in seinen Kaiserbiographien (von etwa 120) die Kaiser aus der Kammerdienerperspektive. Wenn es Tacitus schwer fiel, vor lauter Kaisern das Reich zu sehen, so fiel es Sueton schwer, vor lauter Unternehmungen und Eigenschaften und besonders Lastern die Kaiser zu erblicken. Auf diese Weise wurde die Geschichte der Kaiserzeit vor allem als die Geschichte kaiserlicher Laster überliefert.

Seneca - Ein Humanist an Neros Hof

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