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Von der Philologie zur Philosophie

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Es mag verwunderlich erscheinen, daß die Rhetoriker ausgerechnet Seneca vorwarfen, er bewerte die Form höher als den Inhalt, denn kein Römer hat den Rhetoren das gleiche mehr vorgeworfen als Seneca, – was der Grund ihrer Aversion sein mag. Seneca übernimmt die gute alte Sokratische Unterscheidung zwischen den Künsten, die die Leute (vielleicht) für etwas besser geeignet machen, und der Lebenskunst, der Philosophie, der Liebe zur Weisheit, die allein den Menschen besser machen kann. Er hat es auf alle Fachleute abgesehen, die erstaunlicherweise das Fach, das sie selbst ernährt, für das alleinseligmachende halten, und besonders abgesehen hat er es auf Grammatiker und Philologen, die die Wirklichkeit zu Worten, und nicht die Worte zu Wirklichkeit machen. Es könne nützlich sein, wenn der Grammatiker in Homer und Vergil unterrichte, denn wieviel Gutes stehe nicht bei Homer und Vergil. Doch wenn Vergil schreibe: „Unwiderruflich flieht die Zeit“,22 dann lasse das den Grammatiker nicht daran denken, daß er seine Zeit nicht verschwenden sollte, sondern es veranlasse ihn zu der Beobachtung, daß Vergil, wenn er von der Zeit spricht, immer den Ausdruck „flieht“ gebraucht. Daß ein Grammatiker und ein Philologe nicht das gleiche von Ciceros „Staat“ haben wie ein Philosoph, ist nicht ungewöhnlich (denn „jeder sucht sich aus demselben Stoffgebiet das für seine Studien Geeignete heraus: auf derselben Wiese holt die Kuh Gras, der Hund den Hasen, der Storch die Eidechse“23), seltsamer ist, daß die Philosophen oft nicht mehr davon haben als die Philologen oder Grammatiker. Das liegt daran, daß die Philosophen auch gern richtige Fachleute sein möchten „und ... hinter den Grammatikern, hinter den Mathematikern nicht zurückbleiben“ wollen. „Was bei deren Wissenschaften überflüssig war, haben sie getreulich in ihre übernommen. Und was ist der Erfolg? Sie verstehen besser zu reden als zu leben.“24

Von Anbeginn an, von Natur aus, haben die Schüler einen starken Hang zum Guten, doch bei ihren Lehrern wird ihr Intellekt, nicht ihre Seele geformt – „so ist denn aus der Philosophie im Grunde die reinste Philologie geworden“,25 ein Satz, den Nietzsche umkehrte, als er in seiner Antrittsvorlesung als Philologieprofessor in Basel im Jahre 1869 Philologie zu Philosophie machen wollte.26 Seneca sammelt seine gesamte Kritik des römischen Unterrichts in dem berühmten Satz, der auch gern umgedreht wird, wenn man ihn zitiert: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.“27

Seneca selbst wandte sich in seiner Jugend von den Philologen zu den Philosophen und zitiert seine Lehrmeister an verschiedenen Stellen in den Briefen an Lucilius, die er während seiner letzten Lebensjahre schrieb. Einer dieser Lehrmeister, Papirius Fabianus, „nicht einer von diesen theoretisierenden Philosophen, sondern von den wahren und alten“28, hatte selbst die Redekunst zugunsten der Philosophie aufgegeben. Senecas Vater, der mit dieser Entwicklung nicht gerade einverstanden war, erwähnt ihn dennoch als Beispiel dafür, daß die Redekunst zu allen Künsten führen kann. Seneca selbst nennt ihn einen „in seiner Lebensweise, in der Wissenschaft und, was weniger wichtig ist, auch in der Beredsamkeit hervorragenden Mann.“29

Eine von seinem Briefpartner Lucilius geäußerte Kritik an Fabianus’ Stil beantwortet Seneca damit, daß Fabianus nicht Worte, sondern Seelen habe formen wollen, seine Worte seien gewählt, aber nicht gesucht gewesen, und wenn er als Redner nicht vollkommen gewesen sei, so habe er doch die Fähigkeit besessen, seine Schüler anzufeuern und zur Nachahmung anzuspornen, ohne sie von vornherein mutlos zu machen.30

Seine philosophische Erweckung scheint Seneca jedoch dem Stoiker Attalus zu verdanken. Wenn er ihn von den selbstgeschaffenen Plagen der Menschheit sprechen hörte, dann fühlte er sich von Mitleid mit der ganzen Menschheit ergriffen – und von Bewunderung für den Philosophen, der über all das erhaben ist, dem andere unterliegen. Von Attalus lernte Seneca zwischen den natürlichen und den unnatürlichen Bedürfnissen zu unterscheiden und Austern und Pilze, Salben und Parfums, heiße Bäder und weiche Betten zu meiden.31 Auch von den Neupythagoreern lernte Seneca in seiner Jugend. Von Quintus Sextius, den er zwar nicht gehört, aber mit Begeisterung gelesen hatte, hatte er die pythagoreische Sitte gelernt, den Tag mit einer Erforschung des Gewissens zu beschließen.32 Sotion, der Schüler von Sextius, hatte ihn gelehrt, daß Grausamkeit bei dem, der Tiere tötet, zur Gewohnheit wird und daß tierische Nahrung für Körper und Seele schädlich ist. Von der Seelenwanderungslehre war er wohl nicht völlig überzeugt worden, doch Sotion war liberal gewesen und hatte gesagt, daß es immer von Nutzen sei, wenn man genügsam lebe und sich anderer Ernährungsgewohnheiten befleißige als Löwen und Geier, auch wenn man des Meisters Glauben nicht teile, daß man ehemalige Menschen verzehre, wenn man Tiere esse. „Auf Grund dieser Belehrung“, schreibt Seneca, „enthielt ich mich von da an der tierischen Nahrung; nach Verlauf eines Jahres war es eine leichte und auch angenehme Gewohnheit. Meine geistige Elastizität kam mir größer vor, und ich möchte heute nicht entscheiden, ob es so war oder nicht. Weshalb ich aufgehört habe? Meine Jugend fiel in die Anfangszeit der Regierung des Kaisers Tiberius: damals entfernte man alle fremdländischen Gottesdienste, aber auch das Nichtverzehren gewisser Tiere galt als Beweis des Aberglaubens. Daher nahm ich auf Bitten meines Vaters, der zwar keine verleumderische Anklage fürchtete, aber die Philosophie haßte, meine frühere Gewohnheit wieder auf; es wurde ihm nicht schwer, mich zu besserem Essen zu bereden.“33

Im Jahre 17 n. Chr., als Seneca ungefähr 20 Jahre alt war, wurden einige Neupythagoreer, die sich astrologischer Zukunftsforschung schuldig gemacht hatten, verbannt. Im Jahre 19 verbannte der Senat die Anhänger der ägyptischen und jüdischen Religion, sofern sie sich nicht innerhalb einer gewissen Frist von ihrem Aberglauben lossagten. Neben der Angst davor, unrömischer Umtriebe angeklagt zu werden, hatte Seneca noch einen anderen Grund, bessere Mahlzeiten einzunehmen, er litt nämlich viele Jahre hindurch an Tuberkulose:

„Anfangs kümmerte ich mich nicht darum, noch jung genug, diese Beschwerden zu ertragen und den Krankheiten Trotz zu bieten. Später mußte ich mich darein schicken und kam so weit herunter, daß ich völlig abmagerte und sozusagen selbst zu Schnupfen wurde. Wiederholt nahm ich Anlauf, mein Leben zu beenden; was mich hielt, war der Gedanke an meinen hochbetagten, grundgütigen Vater. Ich zweifelte nicht an meinem Mut zum Sterben, eher an seiner Kraft, meinen Verlust zu ertragen ... Was mich damals tröstete, will ich Dir sagen. Doch zuvor die Bemerkung, daß die Mittel zu meiner inneren Beruhigung zugleich Medizin für meine äußere Krankheit waren. Ein Trostwort, das sich hören läßt, ist Arzenei, und was den Geist aufrichtet, nützt auch dem Körper: unsere Studien hielten mich. Der Philosophie verdanke ich, daß ich mich wieder aufrichtete, daß ich genas. Ich danke ihr mein Leben, und das ist das Geringste, was ich ihr zu danken habe.“34

Seneca konnte nicht nur der Philosophie für seine Besserung danken, sondern auch seiner Tante: „Unter ihrer liebevollen und mütterlichen Obhut bin ich, lange Zeit krank, wieder zu Kräften gekommen“.35 Sie war mit einem römischen Ritter verheiratet, der ungefähr von 16 bis 31 n. Chr. Präfekt in Alexandria war. (Ägypten hatte eine Sonderstellung im römischen Imperium inne. Es war die private Domäne des Kaisers und wurde von einem kaiserlichen Beamten des Ritterstands verwaltet.) Seneca war offenbar in den letzten Jahren von dessen Amtszeit zur Erholung in Ägypten. Er erzählt, daß der Onkel auf der Heimreise gestorben sei und er selbst Zeuge gewesen sei, wie die Tante alles daran gesetzt habe, seine Leiche zu retten36 – vermutlich sollte die Leiche während eines Unwetters den Wellen überantwortet werden, wie es der Aberglaube verlangte. Sonst erzählt Seneca nichts von seinem Aufenthalt in Ägypten, anscheinend dem einzigen fremden Land, das er besucht hat, aber Plinius führt in der Literaturliste zu seiner Naturgeschichte ein Werk von Seneca „Über die Geographie und die religiösen Sitten Ägyptens“ sowie ein entsprechendes Werk über Indien an. Auch über Minerale, Fische und Erdbeben hat Seneca in seiner Jugend geschrieben, vielleicht während seines Aufenthalts in Alexandria. Alle diese Schriften sind verlorengegangen, aber ihre Titel zeugen zumindest von seinem Interesse für die Natur und möglicherweise auch für die Weisheit des Ostens.

Seneca - Ein Humanist an Neros Hof

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