Читать книгу Seneca - Ein Humanist an Neros Hof - Villy Sørensen - Страница 25
Rom unter Tiberius
ОглавлениеAls alter Mann (in seinem 49. Brief) schrieb Seneca: „Was geschieht nicht ‚eben erst‘, wenn man sich in Erinnerungen verliert? ‚Eben erst‘ saß ich als Knabe zu den Füßen des Philosophen Sotion, ‚eben erst‘ habe ich angefangen, als Anwalt Prozesse zu führen, ‚eben erst‘ hatte ich die Lust dazu verloren, ‚eben erst‘ die Fähigkeit.“37 Viel mehr hat Seneca über seine ereignisreiche Karriere als Redner nicht zu berichten. Über seine politische Karriere als Quästor, Ädil, Prätor, Konsul, Kaisererzieher und Mitregent hat er nichts gesagt. Man weiß auch nicht, ob er wegen Krankheit von dem sonst obligatorischen Militärdienst befreit war, den Söhne von Senatoren und Rittern als Offiziere (Tribunen) im Laufe eines halben Jahres ableisten konnten. Seneca benutzt in seinen Schriften zuweilen martialische Bilder, sonderliches Interesse am oder Erfahrung aus dem Soldatenleben verrät er jedoch nicht. Vielleicht verbot Senecas spanischer Stolz ihm die Erwähnung seiner eigenen Meriten – hierin bildet er einen absoluten Gegensatz zu Cicero –, aber darüber hinaus hätte es auch gefährlich sein können, wenn Seneca zu viel über das politische Leben gesagt hätte, das er aus nächster Nähe miterlebte.
Senecas Karriere als Redner begann im letzten Teil der Regierungszeit des Kaisers Tiberius. Tiberius, der vom Tod des Augustus im Jahre 14 n. Chr. bis 37, d. h. von seinem 56. bis zu seinem 79. Lebensjahr princeps war, trug schwer an seinem Erbe. Dadurch daß Augustus seine Mutter Livia geehelicht hatte, war er der Stiefsohn des Augustus geworden. Tiberius hatte sich als Feldherr ausgezeichnet, sich jedoch nicht die gleiche Volksgunst erworben wie sein Bruder Drusus. Auch mit seinen Ehen hatte er Pech gehabt, während der Sohn von Drusus, Germanicus, im Feld wie in der Ehe das Glück auf seiner Seite gehabt hatte: Mit der Enkelin des Augustus, Agrippina, hatte er drei Söhne und drei Töchter. Gerüchten zufolge hatte Augustus selbst Germanicus zu seinem Nachfolger machen wollen, Livia jedoch die Kandidatur ihres eigenen Sohnes durchgesetzt, wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als die ersten vier von Augustus bestimmten Thronnachfolger gestorben waren. Tiberius hatte sich jahrelang übergangen gefühlt und nahm diese Bitterkeit mit auf den Thron. Sein Anrecht auf den Thron beruhte auf seiner Adoption durch Augustus, gegen den er eine Abneigung hegte und dessen Format ihm fehlte. Er reagierte auf den Kaiserkult, den man mit Augustus getrieben hatte, und wollte eine größere Selbständigkeit des Senats, fühlte sich aber gleichzeitig gekränkt, weil man ihm nicht mit größerer Ehrerbietung begegnete.
Im Jahre 19 starb Germanicus eines – wie man heute vermutet – natürlichen Todes, aber Gerüchten zufolge hatte Tiberius ihn vergiften lassen. Sein Tod rief so große und erbitterte Trauer hervor, daß Tiberius und Livia es nicht für geraten hielten, an den Trauerfeierlichkeiten teilzunehmen, was das Volk noch mehr vor den Kopf stieß. Das Bedürfnis des Volkes, zu lieben und zu hassen, bildete im Rom der Kaiserzeit einen politischen Faktor. Für die Großen der Gesellschaft galt ein unbarmherziges Entweder-Oder: man hielt sie entweder für Über- oder für Unmenschen. Augustus, der das neue goldene Zeitalter geschaffen hatte, war nach seinem Tode zum Gott erhoben worden, über Tiberius dichtete der Volkswitz:
„Du hast die Zeiten Saturns, die goldnen, Cäsar, verwandelt.
Denn solange du lebst, werden sie eiserne sein.“38
Als sich Tiberius, der Schmeichelei der Großen überdrüssig und des Hasses der Vielen leid, im Jahre 26 nach Capri zurückzog, da liefen Gerüchte über seine unglaublichen Ausschweifungen um, über die man bei Sueton nachlesen kann. Tiberius hatte Grund genug, menschenfeindlich und mißtrauisch zu sein, aber sein Mißtrauen lieferte ihm immer noch mehr Gründe dafür. Wer allen mit Mißtrauen entgegentritt, der wird sein Zutrauen leicht einem einzelnen, und oft dem Unwürdigsten, schenken. So ließ sich der sonst pedantisch gewissenhafte Tiberius in Rom durch den gewissenlosen Gardepräfekten Sejanus vertreten, der seine Macht demonstrierte, indem er die Garnison der Prätorianer direkt nach Rom verlegte, und seine Macht dazu benutzte, die Reihen der engsten Familienmitglieder des Kaisers zu lichten. Agrippina und ihr ältester Sohn mit Germanicus, Nero, wurden verbannt, während der zweitälteste Sohn, Drusus, auf der Kaiserburg gefangengehalten wurde. Nero starb unter zweifelhaften Umständen, Sejanus übernahm seine Witwe und wurde, obgleich „neuer Mann“, Konsul und de facto Thronfolger. Er wollte jedoch den Tod des Kaisers nicht abwarten, und als Tiberius die Gefahr endlich erkannte, besaß Sejanus so große Macht, daß er geradezu durch einen Putsch gestürzt werden mußte. Für Seneca war Sejanus ein gutes Beispiel für das Schicksal des Machtgierigen: „An jenem Tag, da ihn der Senat noch geleitet hatte, zerriß ihn das Volk in Stücke.“39 Das geschah im Jahre 31, dem Jahr, als Seneca aus Ägypten zurückkehrte.
Der Fall des Sejanus führte jedoch nicht zu einer Veränderung. Tiberius, der sein Vertrauen getäuscht sah, brachte nun niemandem mehr Vertrauen entgegen, am allerwenigsten seinen eigenen Verwandten. Drusus ließ er im Gefängnis umkommen. Gajus, den jüngsten Sohn des Germanicus, jetzt dem Thron am nächsten, hatte er mit sich nach Capri genommen, um nichts zu riskieren. In Rom herrschte weiterhin das Schreckensregiment. Seneca, der an einer Stelle die erste Zeit der Regierung des Tiberius positiv erwähnt, schreibt so über die letzte Zeit: „Unter dem Kaiser Tiberius war die Versessenheit darauf, Leute in den Anklagestand zu versetzen, häufig und fast allgemein, und das setzte den Bürgern, ohne daß sie die Waffen gegeneinander erhoben, schwerer zu als aller Bürgerkrieg. Man fing die Aussagen von Betrunkenen auf und die unschuldigsten Scherze. Nichts war sicher; jede Gelegenheit zum Wüten kam gelegen. Und man war auf das Schicksal der Angeklagten nicht mehr begierig, da es nur eines war.“40