Читать книгу Seneca - Ein Humanist an Neros Hof - Villy Sørensen - Страница 26

Gerichtswesen

Оглавление

Geht man an das kaiserliche Rom mit den üblichen Klischees über das Römische Recht im Kopf heran, dann muß man stutzig werden, weil die Tatsachen ein ganz anderes Bild vermitteln. Das sogenannte Römische Recht, corpus juris civilis, wurde erst nach dem Untergang des Weströmischen Reiches im 6. Jahrhundert n. Chr. gesammelt und hatte größeren Einfluß auf die Nachwelt, als es in der Vergangenheit gehabt hatte. Die Römer hielten sich lieber an Sitten und Gebräuche als an Gesetze und hatten beispielsweise keine geschriebene Verfassung. Der Staat regelte nicht alle Dinge, erließ beispielsweise kein Ehegesetz, sondern überließ so viel wie möglich den Bürgern selbst. Diese staatliche Zurückhaltung, im Prinzip lobenswert, hatte jedoch die Schwäche, daß in Rom das Recht das Recht des Stärkeren nie so richtig zu brechen vermochte. Zu den üblichen Klischees über die Römer gehört die Vorstellung, daß nicht Macht und Eroberungen und Reichtum ihre eigentliche Leidenschaft gewesen seien, sondern Recht und Gesetz,41 jedenfalls zur Zeit der Republik – aber in der letzten Zeit der Republik jedenfalls war es das eifrige Bemühen der Großen darum, Recht zu bekommen, das zu rechtlosen Zuständen führte und den Boden für das Prinzipat bereitete. Wenn auch der Kaiser die Großen erniedrigte, so erhöhte er dafür doch nicht die Kleinen. Der kleine Mann konnte noch immer nur als Klient eines Großen zu seinem Recht gelangen. Charakteristisch für das römische Rechtswesen waren und blieben die Ungleichheit vor dem Gesetz und die private Initiative.

Es gab in Rom keinen Staatsanwalt, keinen öffentlichen Ankläger, dafür aber um so mehr private. Die Bürger konnten nicht nur in ihrem eigenen Namen, sondern auch im Namen des Kaisers klagen. Wenn einem Anwalt eine Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung gelang, wurde er belohnt, wurde die Klage abgewiesen, wurde er bestraft. Mit der Sache war also ein Risiko verbunden, das die braven Leute nicht eingehen konnten, aber auch ein Gewinn, der die Beschäftigung als privater Berufsanwalt zu einem einträglichen Geschäft machte, besonders da die Großen der Gesellschaft diese Ankläger, die delatores, gebrauchen konnten, um ihre persönlichen Feinde zu treffen.

Über diese Fälle saß der Senat zu Gericht, und dieser fürchtete, die Majestät zu beleidigen, wenn er Angeklagte nicht wegen Majestätsbeleidigung verurteilte, die normalerweise mit dem Tode bestraft wurde. Natürlich war der Kaiser selbst oberste Rechtsinstanz; zur Zeit der Republik konnte ein jeder römische Bürger an das Volk appellieren, während der Kaiserzeit konnte er (wie das Beispiel des Paulus zeigt)42 an den Kaiser appellieren. Formal war es seine Volkstribunengewalt, die den Kaiser zu einer Art „universalem Ombudsmann“43 machte. Es gibt auch Beispiele dafür, daß der Chef selbst liberaler war als der Senat und die Statthalter, denen die richterliche Gewalt in den Provinzen oblag – aber Tiberius pflegte nicht zu begnadigen.

Für das Zivilrecht waren zwei der jährlich gewählten Prätoren zuständig. Der eine kümmerte sich um Fälle zwischen römischen Bürgern, der andere um die Fälle derer, die dem Reich unterstanden, ohne das römische Bürgerrecht zu besitzen. Die Prätoren hatten jedoch keine richterliche Gewalt. Ihre Aufgabe bestand darin, die streitenden Parteien anzuhören und die Streitfrage in einer „formula“ zu präzisieren, und damit gingen die Parteien dann zum Richter. Sie konnten ihren Richter selbst wählen, konnten sie sich jedoch nicht einigen, dann benannte der Prätor einen oder mehrere Richter aus der jährlichen Liste, zu der Vermögen und Ritterrang qualifizierten. Seneca begründet seinen Widerstand gegen einen Vorschlag, wonach Undankbarkeit kriminalisiert werden sollte, damit, daß nur ein Weiser über die Gesinnung eines Mannes richten könne, und von einem Richter verlange man ja nicht Weisheit, sondern nur Vermögen.44

Auch eine juristische Ausbildung verlangte man von einem Richter nicht. Die richterlichen Gewalten: der Kaiser, der Senat, der Stadtpräfekt von Rom, die Statthalter und die privaten Richter, konnten einen Rat juristischer „Assessoren“ (Beisitzer) beiziehen, aber dieser hatte eben nur beratende Funktion. Jurist zu sein war eher ein Hobby als ein Beruf, doch als die kaiserliche Bürokratie wuchs und erstarrte, wurde eine juristische Ausbildung allmählich zu einer ausgezeichneten Qualifikation für Ämter innerhalb der Staatsverwaltung.

Ebensowenig wie die Richter waren die Anwälte von Beruf aus Juristen. Sie waren ausgebildete Redner, Rhetoren, und während der Kaiserzeit, als die Volksversammlung dahinsiechte und der Senat in der Regel dem Kaiser nach dem Munde redete, konnte sich ein rhetorisches Talent nur im Gerichtssaal entfalten, vor allem in der Basilica Julia auf dem Forum, wo die „hundert Männer“, die centumviri, aus denen im Laufe der Zeit 180 wurden, über die mondäneren Fälle zu Gericht saßen. Nach einem alten Gesetz, der Lex Cincia, war es verboten, Prozesse gegen Bezahlung zu führen, und wenn dieses Verbot natürlich auch umgangen wurde, so zeigt es doch, daß die Anwaltstätigkeit hoch geachtet war: Mitglieder der Senatsfamilien konnten es sich erlauben, als Anwälte aufzutreten; für Mitglieder „neuer“ Familien war eine Karriere als Gerichtsredner der sicherste Weg nach oben.

Seneca verrät keinen sonderlichen Respekt vor der Anwaltstätigkeit, die er eine Zeitlang selbst ausübte: „Diese vielen Tausende, die zum Forum schon am frühen Morgen eilen – wie schändliche Händel, um wieviel schändlichere Anwälte haben sie! Einer klagt gegen die Entscheidungen seines Vaters, derer sich würdig zu erweisen besser gewesen wäre, ein anderer streitet mit seiner Mutter, ein dritter kommt als Denunziant eines Verbrechens, dessen offenkundig eher er schuldig ist, und einen Richter, der verurteilen wird, was er selber getan hat, wählt man, und die Zuhörer nehmen Partei für eine schlechte Sache, verleitet durch des Anwalts Rede.“45

Das Publikum spielte eine große Rolle bei den großen Prozessen, die zu den öffentlichen Lustbarkeiten zählten. Abgesehen von dem Denunziationskoller, von dem das kaiserliche Rom zeitweise ergriffen wurde, scheint die Stadt das ganze Jahr hindurch von einem Prozeßkoller geplagt gewesen zu sein: So wie die Redner sich nicht politisch, sondern nur juristisch entfalten konnten, so konnten die Bürger, die nur schwer politischen Ruhm zu ernten vermochten, wenigstens auf ihrer Würde bestehen und ihr Recht vor Gericht suchen.

Vergil hatte dies als die Mission der Römer gesehen: mit dem Recht zu herrschen und das Gesetz des Friedens zu geben. Die römischen Geschichtsschreiber verraten zuweilen ihr Entsetzen über die gräßlichen Sitten der barbarischen Völker, Sitten, die die Römer oft verboten.46 In den Provinzen waren Todesurteile dem Statthalter vorzulegen, wofür der Prozeß gegen Jesus ein Beispiel liefert. Die Römer waren sich sozusagen ihres besseren Rechtes bewußt, zwangen aber ihre eigenen Gesetze den besiegten Völkern nicht auf. Es war selbstverständlich, daß die Menschen nicht gleich waren, nicht nur in den verschiedenen Gesellschaften, sondern auch innerhalb der einzelnen Gesellschaft. Man hatte in Rom höchst unterschiedliche Rechte und Pflichten, je nachdem, ob man einer Konsuln-, Senatoren- oder Ritterfamilie entstammte, ob man ein Freigeborener oder ein Freigelassener war. Die Sklaven hatten überhaupt kein Recht, und bei dem Verhör eines Sklaven war Folter obligatorisch. Das gleiche Verbrechen führte nicht zu gleicher Strafe: Einfache Leute wurden zu Zwangsarbeit oder zum Tod in der Arena verurteilt (vgl. S. 134), während vornehme Leute für die gleichen Verbrechen verbannt wurden oder den Befehl bekamen, sich umzubringen. „Ist’s auch recht bei euch, einen römischen Menschen ohne Urteil und Recht zu geißeln?“, fragt der Apostel Paulus und erschreckt auf diese Weise den Militärtribunen, der verrät, daß er selbst sich das römische Bürgerrecht für eine hohe Summe erkauft hat (was zwar verboten, unter Claudius aber möglich war).47

Das römische Bürgerrecht verlieh Rechte, die andere Leute nicht hatten: die konnte man ohne weiteres geißeln, und die konnten nicht an den Kaiser appellieren. Das Bürger-Recht, ius civile, unterschied sich auf diese Weise als priviligiertes Recht vom ius gentium, das für alle Völker innerhalb des Römischen Reiches galt und eine Bezeichnung für die von den Römern akzeptierten Sitten war, zu denen z. B. das Menschenopfer nicht gehörte. Während das Recht der Völker, das ius gentium, also enger gefaßt war als das ius civile der Bürger, erfährt es im Laufe der Zeit eine erweiterte Bedeutung und wird im 17. Jahrhundert zur Bezeichnung für das Völker-Recht. Aber bereits die von der Stoa beeinflußten römischen Schriftsteller benutzen „das Recht der Völker“ zuweilen im Sinne von „Recht, das für alle Lebewesen gilt“ (ius animantium)48 – das in keiner Gesellschaft galt, das die Stoiker in ihren Schriften aber geltend gemacht hatten.

Seneca schreibt in seiner ersten (erhaltenen) Schrift, daß der Zufall (fortuna) die gemeinsamen Güter schlecht verteilt und unter gleichem Recht Geborene anderen unterstellt habe,49 und betonte immer, daß das Wesentliche nicht die soziale Stellung, sondern die moralische Einstellung sei. Ob man aber eine der großen Stellungen, die Ehrenämter, honores, wie sie hießen, weil sie unbezahlt waren und nur von vermögenden Leuten bestritten werden konnten, zu erreichen vermochte, das hing nicht von der moralischen Einstellung ab, sondern eben von der Größe des Vermögens, dem angeborenen Rang und besonders den „Freundschaften“. Vielleicht lag es nicht nur an seiner Krankheit, sondern auch an seinen philosophischen Skrupeln, daß Seneca so lange brauchte, bevor er die öffentliche Laufbahn einschlug, die man mit 25 betreten konnte – Seneca war mehr als zehn Jahre älter, als er endlich so weit kam. Gerade weil der Einfluß, den man durch ein Amt ausüben konnte, begrenzt war, befriedigte es vor allem den Ehrgeiz – oder tat gerade das nicht, denn das erste Amt, die Quästur, qualifizierte für die Prätur, und diese wiederum für das Konsulat, und man empfand es nahezu als Schande, wenn man nicht als Konsul die Spitze der Leiter erklomm und ein Jahr nach einem benannt wurde. Seneca erwähnt die Amtsrangleiter mehrere Male als Beispiel für das Eitle im menschlichen Streben.

Sein großer Bruder Novatus hatte jedoch den Weg geebnet; es hatte ihm sicher weitergeholfen, daß er vom Senator Junius Gallio adoptiert worden war, der allerdings Tiberius’ Zorn auf sich gezogen hatte. Aber Seneca hatte andere Beziehungen, er hatte besonders die Schwester seiner Mutter, die ja die Witwe eines kaiserlichen Präfekten war: „Sie hat für meine Wahl zum Quästor ihren Einfluß geltend gemacht und, die nicht einmal eines Gespräches und einer feierlichen Begrüßung Kühnheit ertrug, für mich aus Zuneigung besiegt ihre Scheu.“ Sie wurde „für mich sogar ehrgeizig.“50 Ambitiös wäre in diesem Zusammenhang das richtigere Wort: ambitiosus bedeutet „einer, der herumgeht“ und ein Wort für sich selbst oder seinen Schützling einlegt; so erhält das Wort allmählich die Bedeutung von ehrgeizig und gefallsüchtig.

Senecas Tante gefiel dem richtigen Zuständigen, Seneca wurde Quästor (Finanzbeamter) und damit, nach dem Ende seiner Amtszeit, auch Senator. Zu diesem Zeitpunkt war Caligula Tiberius auf den Thron gefolgt, und Rom war vom Regen in die Traufe geraten.

Seneca - Ein Humanist an Neros Hof

Подняться наверх