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Das Gute und der Staat: Sokrates und Platon
ОглавлениеWenn die Sophisten das Recht des Individuums in seinen natürlichen Neigungen begründeten und allgemeingültige Kriterien für das Rechte zurückwiesen, so konnten sie letzten Endes in die Lage geraten, das Recht des Stärkeren zu verteidigen. Die Sophisten kennen wir freilich vor allem durch Platon, der ihren Werterelativismus bekämpfte und ihn vielleicht deshalb besonders hervorhob. In seinen Dialogen ließ er Sokrates in heftiger Diskussion mit den Sophisten auftreten und ihre Meinungen und Argumente ad absurdum führen.
Sokrates versuchte sich gegenüber dem Moralrelativismus der Sophisten nicht als Moralprediger, sondern suchte zu beweisen, daß es logisch unhaltbar sei, die allgemeinen Moralbegriffe (von Gut und Böse, Recht und Unrecht) aufzugeben, die die Bedingungen eines sinnvollen Gesprächs (und Zusammenlebens) bilden. Im Sinne dieses sokratischen Geistes wählte Platon für seine Schriften die Dialogform. Das Gespräch unterscheidet sich von der Rede dadurch, daß es nicht private Meinungen doziert, sondern die gemeinsamen Voraussetzungen in Erscheinung treten läßt: Sokrates verkündete das Gute und das Wahre nicht, sondern ließ es hervorstrahlen oder durch seine Abwesenheit glänzen.
Sokrates’ ironische Gesprächskunst (die Grundbedeutung des Wortes Dialektik) scheint „negativer“ gewirkt zu haben als die Überredungskunst der Sophisten. Nachdem Athen im Peloponnesischen Krieg von Sparta besiegt worden war (404), lag es nahe, daß die Athener eine innere Ursache der Niederlage im Verfall der Sitten erblickten; Sokrates, der sich stets darum sorgte, „nichts Ruchloses und nichts Ungerechtes zu begehen“,17 wurde angeklagt, an andere Götter als die des Staates zu glauben und die Jugend zu lehren, ein Gleiches zu tun. Wenn er dies auch abstritt, so leugnete er doch nicht, daß zwischen der staatlichen Auffassung von den Göttern und seiner eigenen ein Unterschied bestehe: „Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gott mehr als euch“,18 sagte er zu seinen Mitbürgern, und in seiner Apologie richtete er die denkbar härteste Anklage gegen den Staat: „Notwendig muß, wer in der Tat für die Gerechtigkeit streiten will, auch wenn er sich nur kurze Zeit erhalten soll, ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches.“19
Sokrates, der die Auffassung der Sophisten vom Gesetz als einer willkürlichen Einrichtung bekämpfte, gab ihnen so ironischerweise recht. Was im Staat für Recht und Gesetz galt, war tatsächlich willkürlich – und genau das war das Falsche. Sache des einzelnen war es dann, nicht das unter den herrschenden Umständen Beste für sich selbst, sondern das Gute zu suchen im Kampf gegen die widrigen Umstände, die das Gute auf das Opportune reduzieren, auf das, was gut für einen selbst ist. Wenn der einzelne in seinem Kampf für das Rechte dem Staat widerstehen muß, dann muß er auch über dem Staat stehen können. Sokrates’ Individualismus war insofern radikaler als der der Sophisten, zu denen ihn die Zeitgenossen im übrigen zählten.
Sokrates ist laut Hegel20 geradezu der „Erfinder der Moral“, vor ihm wußten die Griechen nichts von einer absoluten Moral, nichts vom absoluten Guten, sondern kannten nur eine soziale Sittlichkeit. In ihrem Kampf darum, den Staat auf das Gesetz und die Vernunft zu gründen (statt auf Privilegien und Tradition), war den Bürgern der Unterschied zwischen dem gesellschaftlichen Gesetz, nach dem das Individuum, und dem moralischen Gesetz, nach dem der Staat beurteilt werden kann, nicht bewußt gewesen. Erst in der Krise des Staates stellt sich die Frage nach dem Ideal, von dem der Staat abweicht. In der Demokratie war es natürlich, nach dem zu streben, was gut für einen selbst ist, und – mit den Sophisten – das Streben danach als natürlich zu begreifen. Ausgehend von Sokrates’ Begriff des Guten als das, was unter allen Umständen gut für alle ist, war es besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu verüben. Ein guter Mensch kann Unrecht erleiden, aber: „Einem guten Mann kann nichts Böses widerfahren.“
Sokrates meinte, eine innere Stimme, ein „Dämon“ hindere ihn daran, etwas Falsches zu tun, und wenn es wohl auch ironisch gemeint war, daß er in seiner Einfalt eines Dämons bedürfe, der ihm sage, was ein jeder sich selbst sagen konnte, so irritierte das begreiflicherweise seine Mitbürger. Wenn der einzelne Mensch nicht das Maß für Gut und Böse ist, dann ist es undemokratisch, daß ein einzelner Mensch es sein soll. Wenn nicht der Mensch oder der Staat festlegt, was Moral und Recht ist, dann muß es von vornherein gegeben sein, dann muß, was gut und gerecht ist, im Wesen der Dinge liegen. Den Bürgern aber mußte Sokrates’ Idee von dem Guten als etwas anderem als dem vom Staat für gut Befundenen ziemlich luftig erscheinen (Aristophanes versetzte in seiner Komödie Sokrates denn auch in die Wolken). Platon, der Schüler des Sokrates, versuchte die Frage zu beantworten, von welchem Ideal der Staat abgewichen sei, und die Gesellschaftsordnung in der ewigen Ordnung der Dinge zu verankern. Er erhob Sokrates’ Idee vom Guten zur Idee des Guten, zu einer höheren, ja, der höchsten Realität; freilich mußte er jedoch einen Idealstaat konstruieren, damit die Idee des Guten und Gerechten im Staat zu ihrem Recht kommen konnte.
Platons „Staat“ ist also eine Utopie, charakteristisch ist jedoch, daß er über die ideale Staatsverfassung schreibt, als habe sie irgendwann in der Vergangenheit einmal existiert und sich aufgrund einer wachsenden Abweichung (in der Kinderzucht!) von bestimmten kosmischen Zahlenverhältnissen aufgelöst, was wiederum zu einer wachsenden psychischen und sozialen Disharmonie geführt habe. Auch die Geschichte der Verfassungen trägt bei Platon den Charakter eines gesetzmäßigen Kreislaufs: Die Regierung der Besten (gerade das bedeutete ja Aristokratie) gehört natürlicherweise dem Anfang an, als alles neu war. Das Ideale läßt sich nicht verbessern, nur verschlechtern, deshalb ist Veränderung für Platon „das bei weitem Bedenklichste“.21
Liegt aber das Beste am Anfang der Zeit, so liegt das absolut Gute außerhalb der Zeit. Mircea Eliade22 schrieb, daß der primitive Mensch in der kultischen Wiederholung der vorgeschriebenen Handlungsmuster die Zeit aufhebe, und fügte in diesem Zusammenhang hinzu, daß die primitive Weltanschauung eine „platonische Struktur“ habe. Das heißt umgekehrt auch, daß Platons Weltanschauung eine primitive Struktur hat: während das relativistische Denken der Sophisten als der erste Ausdruck einer „modernen“ Mentalität bezeichnet werden kann, kann man Platon als „den Philosophen der primitiven Mentalität“ betrachten. Platon hielt sozusagen die Erinnerung an das primitive Wirklichkeitserlebnis, d. h. das Erlebnis einer zeitfreien Wirklichkeit, fest zu einem Zeitpunkt, als dies keine soziale Realität mehr war. Im Stadtstaat war trotz der Stadtfeste und Tragödien (vgl. S. 225) eine kollektive Wiedererschaffung des ewig Gleichen nicht möglich. So wurde es denn die philosophische Angelegenheit des einzelnen, die „Ideen“ wiederzubeleben, die ewigen Vorbilder der vergänglichen Dinge, die eben nur Abbilder, nur Schattenbilder sind. Aber als solche konnten sie an das Dahinterliegende erinnern: der Schöne oder die Schönen konnten die Erinnerung an das Schöne an sich, die Idee des Schönen, erwecken (die Idee in ihrer ursprünglichen Bedeutung ist nichts, was man denkt, sondern etwas, was man sieht) und die Seele sich in erotischer Begeisterung erheben lassen, was nur möglich ist, weil die Seele vom Anbeginn an in die Welt der Ideen gehört, so wie der Körper in die Welt der Sinne. Die Unsterblichkeit, die in den Schöpfungsmythen den Göttern vorbehalten war, zu einem Zeitpunkt, als die Zeit in der menschlichen Gesellschaft eine Rolle zu spielen begann, konnten die Sterblichen in Platons philosophischen Mythen wiedergewinnen, indem sie sich von der Welt der Sinne und der Sinnlichkeit befreiten und zur Erkenntnis des ewig Gleichen gelangten; zur Erkenntnis zu gelangen bedeutet bei Platon eine moralische Leistung, „Tugend ist Wissen“.
So wie es den einzelnen Menschen Anstrengungen kostet, will er das Vernünftige der Seele zum Sieg über das Unvernünftige, das Begehrliche, führen, so müssen die Unvernünftigen im Staat, die begehrlichen Gewerbetreibenden, im Zaum gehalten werden, damit die Vernünftigen, die Philosophen, herrschen können. Im gerechten Staat sind die seelischen Fähigkeiten nämlich so gerecht verteilt, daß die höchsten Fähigkeiten dem höchsten Stand vorbehalten, die niedrigsten dem niedrigsten zugewiesen sind. Insofern sichert der gerechte Staat seinen Bürgern das Leben in Übereinstimmung mit ihrer Natur, zu dessen Fürsprecher sich die Sophisten gemacht hatten, nur betonte Platon im Unterschied zu ihnen, daß die Menschen von Natur aus unterschiedlich seien und nicht aufgrund ihrer unterschiedlichen sozialen Stellung. In Hellas, wie in anderen Gesellschaften der Antike, war es üblich, die Sklaverei als „natürlich“, als in der niedrigeren Natur der Sklaven begründet, aufzufassen. Es war auch üblich, die körperliche Arbeit, die oft von Sklaven ausgeführt wurde, als minderwertig zu begreifen, aber nicht, daraus zu folgern, daß diese Arbeit es sei, die die Sklaven minderwertig mache. In anderen Fällen meinte Platon allerdings schon, daß es Beschäftigungen gebe, die die Seele verderben könnten: Handel und Gelderwerb erzeugten in den Seelen eine verschlagene und unzuverlässige Gesinnung, heißt es in den „Gesetzen“ (Nomoi), Platons letztem großen Werk.23
Die vollkommene Gesellschaft braucht kein Gesetz, weil sie auf dem eigenen Gesetz der Natur aufbaut. In den „Gesetzen“ dreht sich das Gespräch nicht mehr um den besten Staat, in dem alles allen gemeinsam zur Verfügung steht, sondern um den bestmöglichen, in dem alles gleichmäßig verteilt ist und jeder seine Bodenparzelle hat. Freilich macht die Verschiedenheit der Menschen es notwendig, sie in vier Vermögensklassen einzuteilen. „Wir verlangen aber, daß weder Gold und Silber im Staate sei noch auch ein eifriger Erwerb durch ein handwerksmäßiges Treiben und Wucher und auch nicht durch schimpfliches Aushalten, sondern durch das, was der Landbau hergibt und erzeugt“ – und auch das nicht in einem solchen Ausmaß, daß dadurch der Zweck des ganzen, die Pflege von Seele und Körper, vernachlässigt würde.24 Die Stadt dürfe nicht zu nah am Meer liegen, da dies zu Seefahrt und Handel verführe, sie müsse Selbstversorger sein und dürfe keine zu hohe Ausfuhr haben, da dies Gold- und Silbergeld ins Land bringe, was man wohl „das größte Unglück, das einen Staat treffen kann“, nennen könne. An anderer Stelle heißt es, es gebe nichts Verderbenbringenderes für einen Staat, als wenn der junge Mensch besondere Anerkennung genieße, wenn er immer mit etwas Neuem hervortrete, denn das „bringe insgeheim eine Veränderung in der Sinnesweise der jungen Leute hervor und beeinträchtige das Ansehen des Alten, erhöhe das des Neuen in ihren Augen.“25 Veränderung ist etwas besonders Verderbliches für eine Gesellschaft, in der jeder seine Parzelle hat und die Anzahl der Parzellen und Familien konstant gehalten werden muß, wenn das soziale Gleichgewicht gewahrt bleiben soll. Platons Land-Stadt-Gesellschaft ist eine konsequente Gesellschaft des Gleichgewichts oder Nullwachstums, was heutzutage nicht ganz so „reaktionär“ wirkt wie in der großen Zeit des Entwicklungsoptimismus. Platon, der den Verfall des Stadtstaates selbst hatte erfahren müssen, hatte schlechte Erfahrungen mit der Entwicklung gemacht, und die weitere Entwicklung gab ihm auf ihre Weise recht, ohne daß seine ewigen Ideen sie hätten bremsen können.
Die abendländische Geistesgeschichte hat Platon dafür jedoch stärker geprägt als irgendein anderer Denker, und zuweilen hat man ihn für die Fehlentwicklung verantwortlich gemacht, die nach Auffassung einiger Leute für sie charakteristisch ist. Heidegger zufolge machte Platon die Wahrheit eher zu einer Frage nach dem richtigen Verhältnis der Menschen zu den Dingen als zu einer Frage nach dem Wesen der Dinge selbst und bereitete damit den Weg für des Menschen technisches Herren-Verhältnis zu den Dingen.26 Dem Wissenschaftshistoriker Farrington zufolge war seine Abwertung des Materiellen ganz im Gegenteil ein Hemmschuh für die technisch-wissenschaftliche Entwicklung.27 Die eine Auffassung mag ebenso falsch sein wie die andere, sicher ist jedoch, daß Platons Dualismus, seine Trennung von sinnlich und übersinnlich, eine Voraussetzung für die Naturwissenschaft bildete, die erst in christlicher Zeit entstand (vgl. S. 211). Der griechische Philosoph, der (zu Lebzeiten von Sokrates) am weitesten in Richtung auf eine „objektive“ Naturbetrachtung vorstieß, nämlich Demokrit, behauptete ebenso wie Platon, daß das Wirkliche nicht unmittelbar durch die Sinne erfaßbar sei, nur war das Wirkliche für ihn nicht ideal, sondern materiell, Atome in einem leeren Raum.28 Damit war der Gegensatz zwischen philosophischem Idealismus und Materialismus begründet. Aber ob man Platon nun die ganze Ehre oder die ganze Verantwortung für die idealistische Anschauung, nämlich, daß etwas hinter den Dingen liege, zuschieben will, – diese Ehre oder diese Verantwortung ist selbst für Platon zu groß. Er hat die „platonische Struktur“, der die primitive Erlebnisweise folgt, nicht erfunden, sondern eher entdeckt. Er hatte das Ursprüngliche in lebendiger Erinnerung, und wenn er mit seiner dichterischen Kraft seither hat gefallene Seelen erheben können, dann vermutlich, weil auch sie eine – weniger lebendige – Erinnerung an das gleiche bewahrt hatten.