Читать книгу Seneca - Ein Humanist an Neros Hof - Villy Sørensen - Страница 23
III. Ausbildung und Karriere Die Familie Annäus und die Rhetorik
ОглавлениеLucius Annäus Seneca wurde ungefähr 4 v. Chr. in Corduba geboren. Er war also Spanier, worauf die Spanier immer noch Wert legen. 1965 luden sie anläßlich seines 1900sten Todesjahres zu einem Philosophiekongreß1 ein und zogen Verbindungslinien von der Philosophie Senecas zur späteren spanischen Philosophie. Das praktisch-politische Interesse, den Humor und die plaudernde Form hat Seneca in der Tat mit den besten spanischen Denkern gemein, sei es nun, daß sie von Seneca beeinflußt oder psychisch mit ihm verwandt waren. Einen gewissen – spanischen? – Stolz kann man Seneca auch nicht absprechen, der selbst jedoch weder seine spanische Herkunft erwähnt noch irgendeine Form des Lokalpatriotismus verrät. In Corduba, das seit 197 v. Chr. die Hauptstadt der Provinz Baetica war und dessen Bürger auch römische Bürger waren, sprach man ein ebenso gutes Latein wie in Rom. Senecas Vater, der genau die gleichen drei Namen führte wie er, hatte im übrigen zumindest einen Teil seiner Jugend in Rom verbracht und wollte auch sein Alter dort verleben. Er zog mit der ganzen Familie nach Rom, als Seneca noch so klein war, daß er sich in den Armen seiner Tante transportieren ließ.
Der ältere Seneca wurde um die Mitte des letzten Jahrhunderts v. Chr. geboren und wurde fast 90 Jahre alt. Er hatte den Todeskampf der Republik miterlebt und schrieb eine (an anderer Stelle bereits zitierte, jedoch nicht vollständig erhaltene) Geschichte Roms mit republikanischer Tendenz. Seneca schrieb als Einleitung zu diesem Werk die Biographie des Vaters, die ebenfalls verlorengegangen ist. An anderen Stellen spricht er von seinem Vater mit großem Respekt, erwähnt jedoch auch dessen „konservative Starre“, die schuld daran gewesen sei, daß die Mutter, Helvia, keine Möglichkeit bekommen habe, ihre geistigen Interessen zu pflegen: „Hätte doch wenigstens der Männer Bester, mein Vater, weniger den Anschauungen der Vorfahren unterworfen, gewünscht, du solltest nach den Lehren der Weisheit lieber erzogen als nur flüchtig eingeführt werden!“2
Seneca war der mittlere von drei Brüdern, und der Vater zog vermutlich vor allem aus Rücksicht auf die Ausbildung und die Karriere der Söhne nach Rom. Ein öffentliches Schulwesen gab es zwar in Rom ebensowenig wie in Corduba. Der allerelementarste Unterricht wurde in den guten alten Tagen, als es genügte, lesen, schreiben und rechnen zu können, vom Familienvater selbst oder einem „Pädagogen“ aus dem Sklavenstand verabreicht. Doch die Arbeitsteilung in den letzten paar Jahrhunderten der Republik hatte es auch zu einem besonderen, wenn auch nicht sonderlich angesehenen Gewerbe gemacht, den Kindern ihre Schulweisheiten einzutrichtern; nachdem die Römer im zweiten Jahrhundert Griechenland unterworfen hatten und die griechische Kultur dafür Rom zu prägen begann, eröffnete man auch höhere Privatschulen, in denen Griechisch und Latein unterrichtet wurde. Eigentliche Schulbücher benutzte man nicht. Man las die besseren Schriftsteller, zu Senecas Zeit vor allem Homer und Vergil, und erwarb sich so die Kenntnisse, die man zum Textverständnis brauchte – und keine anderen. Schulfächer und Fachlehrer kannte man nicht, der grammaticus schaffte alles.
Der griechische Einfluß war am ausgeprägtesten auf der dritten Stufe der Ausbildung, in den Rhetorik-Schulen, wo der Unterricht anfangs ausschließlich auf griechisch vor sich ging. Die Redekunst besaß natürlich eine große Bedeutung in einer Gesellschaft, in der alle öffentliche Diskussion mündlich stattfand, in der eine politische Begabung sich ohne Rednergaben nicht durchsetzen konnte und in der die Anwälte sich das Ansehen und die Popularität verschaffen konnten, die für eine Wahl zu den politischen Ämtern notwendig waren. In den griechischen Stadtstaaten, die von Volksversammlungen regiert wurden, verfolgte der Redeunterricht also ein praktisches Ziel. Im alten Rom hatten die Väter ihre Söhne mit zum Forum genommen, wo die gerichtlichen Handlungen stattfanden, damit sie rechtzeitig von den großen Rednern lernen konnten. Auf den Rhetorik-Schulen ging man theoretischer vor, und anfangs, im 2. Jahrhundert, machte sich heftiger altrömischer Widerstand gegen das griechische Unwesen bemerkbar.
Auf den Rhetorik-Schulen mußten die Schüler, die das Alter von Oberstufenschülern des Gymnasiums hatten, teils schriftlich Reden ausarbeiten, die mythische oder historische Gestalten in entscheidenden Situationen hätten gehalten haben können, teils mündlich suasoriae vorlegen, d. h. Argumente für oder gegen eine Entscheidung (und wieder waren dies Entscheidungen, die mythische oder prähistorische Helden hatten treffen müssen: Sollte Agamemnon z. B. seine Tochter opfern, um die Götter zu versöhnen?), und Anklage- und Verteidigungsreden in Rechtsstreitigkeiten, die controversiae, halten, nicht so, wie sie in der Wirklichkeit vorkamen, sondern so, wie man sie sich ausdenken konnte, um dem Scharfsinn und der Spitzfindigkeit besonders großen Spielraum zu verschaffen.
Der ältere Seneca hatte während seiner Jugend in Rom die großen Redner aus der letzten Zeit der Republik gehört und selbst erlebt, wie die Redekunst ihr politisches Forum verlor und zu Redeübungen, zur „Deklamation“ degenerierte. Im Alter schrieb er auf Aufforderung seiner Söhne seine Erinnerungen an die Redner jener Zeit und ihre suasoriae und controversiae. Sein Gedächtnis war nämlich so hervorragend, daß er imstande war, 2000 Namen in der richtigen Reihenfolge und 200 Verse rückwärts aufzusagen! In den Redekontroversen ging es um ungeheuer dramatische Dinge. Man sagt zuweilen, die Hauptthemen der Kunst seien Liebe und Tod; die der Redekunst waren Vergewaltigung und Mord. Die römische Brutalität verleugnete sich auch in der Redekunst nicht. Im Mittelalter, als man keinen Sinn für die Geschichte hatte und den älteren und jüngeren Seneca im übrigen für ein und dieselbe Person hielt, betrachtete man die fiktiven Konflikte als historische Ereignisse und bearbeitete sie für das Volk unter dem Titel Gesta Romanorum, die Taten der Römer, ein unterhaltsames Volksbuch, das viel gelesen wurde und Stoff für viele spätere Dichtungen lieferte.
Als Beispiel sei hier in einer Zusammenfassung aus dem 4. Jahrhundert eine Kontroverse angeführt, die sich zumindest ein reales Problem stellt, nämlich: Kann man einen Menschen allein aufgrund seiner Gedanken, und nicht erst aufgrund seiner Taten, verurteilen? Bei der Angeklagten handelt es sich um eine der Vestalinnen, deren Aufgabe es war, das heilige Feuer der Vesta auf dem Herd der Stadt zu hüten, und die sich zur Führung eines keuschen Lebens verpflichtet hatten. War eine Vestalin der Unzucht schuldig, mußte sie nach dem Gesetz lebendig begraben werden, was jedoch seit 216 v. Chr. nicht mehr vorgekommen war.
„Eine Vestalin schrieb diesen Vers:
Glücklich die Braut! Darauf möchte ich sterben, daß Hochzeit schön ist.
Sie wurde der Unzucht angeklagt.
Die eine Partei: Glücklich die Braut, sagt, wer zu sein es begehrt; darauf möchte ich sterben, sagt, wer es beteuert; Hochzeit ist schön: entweder schwörst du bei dem, was du kennst, oder du schwörst einen Meineid auf eine Sache, die du nicht kennst, keines von beiden gehört sich für eine Priesterin. Vor dir senken die Beamten ihre fasces3, dir weichen Konsuln und Prätoren aus. Ist das ein geringer Lohn für deine Jungfräulichkeit? Eine Vestalin sollte selten schwören, und wenn, dann nur bei Vesta. Ich möchte sterben, – wohl weil das ewige Feuer ausgegangen ist? Ich möchte sterben, – wohl weil du zur Ehe aufgefordert worden bist? Ich rufe dich, Vesta, um die höchste Strafe an, damit du dich so grausam zeigen kannst, wie du deiner Priesterin verhaßt bist. Lies dein Gedicht vor, damit ich hören kann, was das für Zeug ist. Mußt du absolut ein Gedicht schreiben, deine Worte zierlich in Versfüße bringen und mit deinen Versrhythmen die Strenge brechen, die du deinem Tempel schuldig bist? Wenn du unbedingt die Ehe preisen willst, dann erzähl von Lukretia4, schreibe über ihren Tod, bevor du bei deinem eigenen schwörst. Wie würdig bist du nicht der höchsten Strafe, du, für die es Freudigeres gibt als deine eigene Priesterschaft! Es ist schön: Wie klare Worte, wie kommen sie aus der Tiefe der Seele, wenn auch aus einer Seele, die sich eher auf etwas ihr Unbekanntes als über etwas ihr Bekanntes freut. Unkeusch ist auch, wer ohne Unzucht nach Unzucht begehrt.
Die andere Partei: Einen einzigen Vers wirft man ihr vor, und noch nicht einmal den ganzen. Aber, so sagt ihr, es ziemt sich überhaupt nicht, ein Gedicht zu schreiben. Groß ist der Unterschied zwischen dem, was man tadeln, und dem, was man strafen kann. Niemanden kann man wegen Unzucht verurteilen, wenn nicht der Körper geschändet worden ist. Glaubt ihr vielleicht, die Dichter schreiben, was sie selbst vertreten? Sie hat ehrbar gelebt und keusch. Ihre Lebensführung ist nicht zu ausschweifend gewesen, ihr Gespräch mit Männern nicht zu ausgelassen. Eines Verbrechens jedoch, das gestehe ich, ist sie schuldig: Sie hat Phantasie! Weshalb sollte sie nicht Cornelia5 beneiden, weshalb nicht die, die Cato gebar, weshalb nicht diejenigen, die Kinder bekommen, die dann Priesterinnen werden?“6
Wichtig in der Kontroverse war der color, das unterschiedliche Ausmalen des Konflikthintergrunds durch die unterschiedlichen Redner. Ein erfinderischer Kopf konnte zuweilen die ganze Sache in einem anderen Licht erscheinen lassen, wenn er den streitenden Parteien andere Motive zuschrieb. Das kann natürlich den Sinn für Effekte, möglicherweise aber auch das psychologische Gespür geschärft haben. Seneca fragt an einer Stelle, wieviel man davon habe, daß man Knoten löse, die man selbst gebunden habe, aber er gesteht doch, daß es zuweilen lustig sein und Scharfsinn und Aufmerksamkeit anregen kann.7 Eine Nachwelt, die unter Unterricht vor allem die Mitteilung von – oft unnützem – Wissen verstanden hat, nahm jedoch Abstand von der römischen Erziehung zur Redefertigkeit und wunderte sich darüber, daß die praktisch veranlagten Römer keine praktischer angelegte Ausbildung anzubieten hatten. Einer der großen Kenner des alten Rom, der französische Historiker Jérôme Carcopino, der alles an der römischen Schule, auch die Tatsache, daß Jungen und Mädchen in den unteren Klassen gemeinsam unterrichtet wurden, verwerflich findet, erblickte merkwürdigerweise die Ursache des wenig praxisorientierten Unterrichts in dem „überentwickelten praktischen Sinn“ der Römer: „Immer auf der Jagd nach sofortigem Profit, sahen die Römer nie den langfristigen Vorteil zweckfreier Forschung.“8 Ursprünglich hatte der griechische Redeunterricht zwar den praktischen Zweck gehabt, die römischen Beamten dazu zu befähigen, es mit den Griechen, die sie regieren sollten, aufnehmen zu können. Und die lateinische Rhetorik, die zu Beginn des ersten Jahrhunderts v. Chr. eingeführt wurde, war anfangs in den Augen der Machthaber deshalb suspekt, weil sie das Privilegium der Redefertigkeit immer weiteren Kreisen zugänglich machte. Doch das freie Wort verlor allmählich immer mehr an Bedeutung, als die Volksversammlungen dahinsiechten und der Senat dem Kaiser nach dem Munde redete. Die Redekunst wurde zum Selbstzweck „und entbehrte allmählich jeglichen substantiellen Inhalts“, schreibt Carcopino.9
Merkwürdigerweise war diese weltfremde Rhetorik ungeheuer beliebt. Die großen Redner wurden in Rom sehr bewundert und erregten überall, wohin sie kamen, Aufsehen; wenn sie auf dem Forum sprachen, strömte das große Publikum herbei. Das lag nicht nur daran, daß der Unterricht der Grammatiker, der nicht nur für die Kinder der Ober-, sondern auch für die der Mittelschicht von Nutzen oder Schaden gewesen war, das Publikum eine gute Formulierung schätzen gelehrt hatte, sondern auch daran, daß die Rhetoren sich vom Publikum hatten belehren lassen: „Der Grammatiker prägte seine Schüler, entwickelte ihren Geschmack, versorgte ihr Gedächtnis; kurz, er schuf das große Publikum, das das literarische Leben der Zeit verstehen und an ihm teilhaben konnte. Der Rhetor unterwarf sich der Tyrannei des Publikums, arbeitete nach seinen Befehlen und richtete sich nach seinen Anforderungen. Seine Gefügigkeit hatte wichtige Konsequenzen. Die römische Literatur hatte von Anfang an die Tendenz, sich innerhalb der intellektuellen Kreise zu isolieren... Mit der Deklamation betritt das große Publikum die Bühne und schafft sich die Literatur, von der es träumt... Es brauchten nur einige Genies aufzutauchen, die dies begriffen und es, während sie ihm seine Befriedigung verschafften, gleichzeitig über sich selbst erhoben, und man hatte die Erneuerung der Literatur. ... Eines dieser Genies war Seneca. Man kann nicht sagen, ob dieser raffinierte Stoiker ... bewußt für das Durchschnittspublikum schrieb. Aber da auch er mit der Milch der Deklamation genährt war, existierte zwischen ihm und diesem Publikum eine Art prästabilierte Harmonie“, – so schreibt A.-M. Guillemin.10 Und Tatsache ist, daß die beiden Schriftsteller, die man oft für die am meisten von der Rhetorik geprägten hält, nachdem diese in der Kaiserzeit zum Selbstzweck geworden war, nämlich Ovid und Seneca, die beliebtesten waren. Ovids Beliebtheit wird von ihm selbst beteuert und durch Inschriften in Pompeji bestätigt, Senecas Verbreitung und Einfluß bezeugen viele Grabsteine, für die er Trost- und Weisheitsworte lieferte, und im übrigen die späteren Schriftsteller, die dies bedauerten. Beispielsweise erinnert sich der Rhetorikprofessor Quintilian gegen Ende des ersten Jahrhunderts, daß Seneca seinerzeit der einzige Schriftsteller gewesen sei, den die jungen Leute gelesen hätten, und das habe natürlich an dessen Unarten gelegen: seiner Verachtung für die gute alte Normalprosa (Ciceros), seinem sprunghaften Stil und seinem Hang zu einprägsamen Sentenzen.11
Was Quintilian gegen die Redner der Kaiserzeit einzuwenden hatte, das hatte bereits der ältere Seneca eingewandt. Er rühmte die Redner aus der Zeit der Republik, vor allem Cicero, den er leider nicht selbst gehört habe, nicht weil er nicht alt genug gewesen sei (bei Ciceros Tod war er ungefähr 12 Jahre alt), sondern weil der Bürgerkrieg ihn zu Hause in Corduba festgehalten habe.12 „Alles, was die römische Beredsamkeit dem großsprecherischen Griechenland entgegenzusetzen oder über dieses Griechenland zu setzen hat, blühte um Cicero auf; alle die Begabungen, die Glanz auf unser Geistesleben geworfen haben, wurden damals geboren“, schreibt er und malt weiter den Verfall der Sitten aus: Tag für Tag ist es schlimmer geworden, mögen daran nun die luxuriösen Zeiten schuld sein – „denn nichts ist so tödlich für begabte Geister wie Überfluß (luxuria)“13 – oder ein ewiges Gesetz, wonach das Höchste in das Niedrigste umschlägt. Es scheint ein ewiges Gesetz zu sein, daß Väter die Kulmination des Geisteslebens in ihre eigene Jugendzeit verlegen, aber der Konservatismus des älteren Seneca hatte Zukunft: Seine und Quintilians rhetorische Ideale beherrschten die spätere Kaiserzeit. Den jüngeren Seneca schätzten die Schriftsteller des 2. Jahrhunderts nicht sehr hoch. Sie sprachen von seinem „gewöhnlichen Stil“,14 der den Unkundigen gefalle. Positiver wird er erst wieder bei den ersten christlichen Schriftstellern beurteilt.
Als der ältere Seneca seine rhetorischen Erinnerungen schrieb, hatte der jüngere allem Anschein nach sein philosophisches Werk noch nicht begonnen, wohl aber seine Karriere als Redner. Eine mögliche Unstimmigkeit wird an einer Stelle angedeutet, wo der Vater an seine Söhne schreibt: „Ihr nehmt sicher keinen Anstoß an dem ungeschliffenen Stil und der zerbrochenen Komposition, bevor ihr in mein Alter kommt. Vorerst zweifle ich nicht daran, daß euch selbst die anstößigen Unarten Vergnügen bereiten.“15 Ganz jung waren die Söhne zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Aus den Vorreden des Vaters zu seinen Büchern geht hervor, daß die beiden ältesten ihre öffentliche Laufbahn angetreten hatten, und um das erste Amt auf der Rangleiter, das Amt als Quästor, bekleiden zu können, mußte man 25 Jahre alt sein. Mela, der jüngste Sohn, hatte keine Ambitionen. Dafür sei er der Begabteste, meint der Vater, der an ihn einige besonders väterliche Worte richtet: Er will ihn nicht zu etwas drängen, wozu er keine Lust hat. Er ist zufrieden damit, daß Mela mit dem (Ritter-)Rang des Vaters zufrieden ist, und da der Weg, den seine großen Brüder eingeschlagen haben, hoffnungs- und gefahrenvoll ist, ist er froh darüber, den jüngsten in einem sicheren Hafen zu wissen. Aber er spornt ihn nun trotzdem an, sich auf die Redekunst zu verlegen, da sie den Weg zu allen anderen Künsten bahne.16
Aus dem Trostbrief, den Seneca einige Jahre später an seine Mutter schreibt, geht hervor, daß der älteste Bruder, Novatus, in der Zwischenzeit zu Amt und Würden gelangt ist, während Mela, der Jüngste, so weit auf dem Wege der Weisheit gelangt ist, daß er beschlossen hat, nicht Karriere zu machen. Seneca schmeichelt seiner Mutter damit, daß Novatus ihr Ehre machen und Mela um so mehr Zeit für sie haben werde,17 und das war sicher nicht nur Schmeichelei, denn das Familiengefühl war auch in der Familie Annäus stark. Tacitus meint allerdings zu wissen, daß Mela mehr an Geld als an Ehre interessiert gewesen sei und daß er gemeint habe, er könne mehr als kaiserlicher Prokurator (aus dem Ritterstand) denn als Senator verdienen.18 Im übrigen bewahrte er die Verbindung zu Corduba und wurde dort Vater des Marcus Annäus Lucanus, der sich später als Dichter hervortat. Novatus wurde irgendwann von dem Redner Junius Gallio adoptiert und übernahm dessen Namen. Die römische Adoption sollte nicht etwa elternlosen Kindern Eltern, sondern kinderlosen Familien – oft erwachsene – Söhne sichern. Unter dem Namen Gallio wurde Novatus Konsul und im Jahre 52 Prokonsul (Statthalter) der Provinz Achaea (Griechenland). Kraft dieses Amtes wurde er nach dem Bericht der Apostelgeschichte19 mit dem Apostel Paulus konfrontiert, den die Juden von Korinth angeklagt hatten, doch Gallio sagte, er gedenke darüber nicht Richter zu sein.
Seneca äußert an mehreren Stellen seine Zuneigung zu seinen Brüdern, vor allem zu Novatus-Gallio, an den er zwei seiner Schriften richtete und den er in einer dritten20 wegen seiner Unempfänglichkeit für Schmeicheleien rühmte. In einem Epigramm bringt er den Wunsch zum Ausdruck, seine Brüder möchten ihn überleben, nur über seinen Tod trauern und nur in Liebe miteinander wetteifern – und der kleine Marcus, der sie jetzt mit seiner lieben Kindersprache erfreue, möge einmal mit seinen Redner-Onkeln in der Beredsamkeit wetteifern.21