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Individuum und Gesellschaft: Epikur und Zenon

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Von Anbeginn an hatte zwischen den Machtverhältnissen im Himmel und auf der Erde eine gewisse Übereinstimmung bestanden. Dem heiligen König der Stammesgesellschaft entsprach Kronos, der Sippengesellschaft die olympische Götterfamilie und der Rechtsgesellschaft der eine gerechte Gott. In dem geordneten Kosmos fanden die Naturphilosophen die Begründung der gesellschaftlichen Ordnung und des gesellschaftlichen Gesetzes, doch die göttliche Weltvernunft, die die willkürlichen homerischen Götter abgelöst hatte, wurde ihrerseits von einer höheren Willkür abgelöst, und daß der Zufall, tyche, in der Krisenzeit des Stadtstaates zur herrschenden Gottheit wurde, ist kein Zufall. Bei dem ersten der drei großen Tragödiendichter, Aischylos, ist es das Schicksal, moira, das streng, doch gerecht, über die Welt herrscht, bei dem letzten, bei Euripides, spielt tyche eine weit größere Rolle. Entsprechend herrscht moira bei dem ersten Historiker, Herodot, der den siegreichen Krieg der Griechen gegen die Perser in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts schildert, während tyche „die einzige der alten griechischen Gottheiten zu sein scheint, die Thukydides beibehalten hat“.32 Thukydides schilderte in seinem Werk den unglückseligen innergriechischen Krieg während der letzten Hälfte des 5. Jahrhunderts. In der Unbeständigkeit der Zeiten, als das Individuum seine sichere Verankerung im Staat, in der polis verlor, fühlte es sich den Mächten ausgeliefert. Tyche war der Name, den die Intellektuellen ihnen gaben, doch das Volk fürchtete sie unter vielen anderen Götternamen.

Gegen Ende des wechselhaften 4. Jahrhunderts zog Epikur aus der Weltsituation den Schluß, daß die Welt durch einen Zufall entstanden sei. Während Aristoteles im Universum göttliche Zweckmäßigkeit gefunden hatte, war Epikurs Welt nicht zweckbestimmt, doch seine Weltauffassung war es: seine Philosophie hatte die Befreiung des Menschen von der Furcht zum Ziel und wollte einen Weg von der äußeren Disharmonie zu einer inneren Harmonie weisen. Die theoretische Voraussetzung dafür, daß diese psychische Freiheit praktiziert werden konnte, war, daß der Mensch faktisch, von Natur aus, ein freies Wesen und nicht in der Gewalt höherer Mächte sei. Und so griff Epikur Demokrits Atome auf, um mit ihnen eine Welt aufzubauen, in der für Götter kein Platz war (Epikurs Götter waren begreiflicherweise Epikureer und kümmerten sich nicht um die Welt), aber Epikur wich von Demokrit insofern ab, als er den Atomen erlaubte, von der geradlinigen Bewegung, die Demokrit ihnen zugeschrieben hatte, abzuweichen. Auf diese Weise war dann Platz für den Zufall – und für die Freiheit des Menschen. Da die Seele laut Demokrit ebenfalls ein Atom war (auf lateinisch hieß das später individuum: unteilbar), bildete die Atomlehre eine ganz natürliche Grundlage für eine Philosophie, die wie die Epikurs ihren Ausgangspunkt nicht mehr im Ganzen, im kosmos, in der polis suchte, sondern gerade im – Individuum.

Epikur, der sich in gewisser Weise einer „modernen“ Auffassung von der Natur näherte, besaß kein ursprüngliches Interesse an der Natur, sondern interpretierte sie nach Bedarf. Natur, das war für ihn in erster Linie die menschliche Natur, waren die natürlichen menschlichen Bedürfnisse, deren Befriedigung glücklich macht. Wie die Kyniker betonte er, daß das Genügende am befriedigendsten und das Überflüssige das Unbefriedigendste sei. Deshalb richtete man sich an die falsche Adresse, wenn man seither Verschwender und Wüstlinge als „Schweinchen von der Herde Epikurs“ bezeichnete. Dennoch konnten gute griechische Bürger in den Epikureern mit gewissem Recht schlechte Bürger erblicken, da Epikur erkennen mußte, daß der Staatsdienst die philosophische Unerschütterlichkeit störe, und seine Schüler dazu aufforderte, „verborgen zu leben“. Epikur zog die Konsequenz aus der Tatsache, daß das Individuum nicht mehr natürlich im Stadtstaat verankert war: er gestattete ihm, es selbst zu sein.

Epikur gründete seine Philosophenschule in Athen im Jahre 306 v. Chr. Wenige Jahre zuvor war sein philosophischer Nebenbuhler und Gegenpol Zenon von Zypern nach Athen gekommen, wo er die verschiedenen Philosophenschulen besuchte, die platonische Akademie, das aristotelische Lykeion, besonders aber in die Lehre ging bei dem Kyniker Krates, bevor er in dem Säulengang, der Stoa, nach der diese Philosophie benannt wurde, seine eigene Schule aufmachte.

Zenons philosophisches Ziel, die „stoische“ Ruhe, unterschied sich nicht sehr von den Zielen Epikurs. Auch er bot mit seiner Philosophie dem Individuum die Befreiung von den äußeren Umständen an. Doch während sich Epikur mit der Feststellung begnügt hatte, daß der Mensch von Natur aus kein politisches Wesen, sondern ein Individuum sei, war Zenon nicht geneigt, das natürliche Band zwischen Individuum und Gesellschaft zu zerreißen. Der Mensch ist unter allen Umständen ein gesellschaftliches Wesen, und sind die Umstände so schlecht, daß das Individuum in der Gesellschaft nicht zu seinem Recht kommt, so hat es doch einen natürlichen Hang zum gemeinsamen Besten. Deshalb gerät der gute Mensch, wie Sokrates, in einen Gegensatz zum schlechten Staat. Zenon, der ja kein gebürtiger Athener war, war der Richtige, den Unterschied zwischen dem zufälligen Staat, in dem der Mensch geboren ist, und der menschlichen Gesellschaft, zu der der Mensch geboren ist, hervorzuheben, und so konnte er die lange philosophische Diskussion darüber, wie weit das Gesetz in der Natur oder in einer Konvention begründet sei, beenden, indem er unterschied zwischen auf der einen Seite dem im einzelnen Staat, in der polis geltenden Recht und Gesetz und auf der anderen Seite dem einen Gesetz, dem Natur-Recht, das für die ganze menschliche Gesellschaft, die kosmopolis, gilt und von der Natur her alle Menschen gleichstellt. Diese natürliche Gleichheit begründet die stoische Auffassung, nämlich daß jeder Mensch, gleichgültig wie er gestellt ist, die Möglichkeit hat, er selbst, und das heißt auf stoisch „weise“, zu werden. Der Weise ist kein Produkt der Umstände, sondern er beherrscht sie.

Daß der Mensch zur Weisheit, wenn auch bei weitem nicht weise, geboren ist, heißt wiederum, daß er von Natur aus nicht nur ein soziales, sondern auch ein Vernunftwesen ist. Gerade die Sozialität und die Vernunft geben dem Menschenwesen, das als schwächstes geboren wird, die Möglichkeit, das stärkste zu werden, und verleihen dem menschlichen Leben ein moralisches Ziel: das Tier ist, was es ist, von Natur aus, der Mensch soll es kraft seiner Vernunft erst werden. Hierin liegt ein zweiter wesentlicher Unterschied zwischen Epikur und Zenon, der eng mit dem ersten zusammenhängt: das Ziel des Menschen ist nicht (individuelles) Glück, sondern die moralische Haltung, die auch der menschlichen Gesellschaft, aber nicht jedem zufälligen Staat, zugute kommt.

Weise sein bedeutet für Zenon, sich „in Übereinstimmung befinden“,33 nämlich mit sich selbst und damit mit der Vernunft. Zenons Nachfolger an der Schule in Athen, Kleanthes und Chrysippos, modifizierten den Ausdruck zu „sich in Übereinstimmung mit der Natur befinden“ und modifizierten damit auch die Bedeutung dieses alten sophistischen Satzes, den die Kyniker ziemlich anarchistisch praktiziert hatten. Die Natur steht bei den Stoikern nicht für die natürlichen, egoistischen Triebe, sondern für die vernünftige Natur, den logischen Kosmos, mit dem sich der Mensch kraft seiner Vernunft in besserer Übereinstimmung befinden kann als die anderen, unvernünftigeren Geschöpfe. Für Zenon und seine Nachfolger war es einleuchtend, daß das Universum zweck- und vernunftbestimmt ist, und es war ihnen ein Ärgernis, daß dieses Universum durch einen Zufall entstanden sein sollte – dies ist die dritte entscheidende Streitfrage zwischen ihnen und den Epikureern. Nach stoischer Auffassung reagiert der Zufall alles Äußerliche, nicht aber den Weisen. Weise werden heißt, sich von den Umständen befreien und seine Bestimmung erfüllen, die vorherbestimmt ist, – von Gott, vom Schicksal oder der Vernunft oder der Natur, denn all dies ist ein und dasselbe für die Stoiker, die nicht wie die Epikureer Gott außerhalb der Welt, oder wie Platon und Aristoteles über der Welt, ansiedeln, sondern das Göttliche mit dem Natürlichen identifizieren und so einen Monismus (Einheitslehre) an die Stelle des platonischen Dualismus setzen.

Im Laufe der Zeit kam es freilich zu einem Mißverhältnis zwischen der ewigen Bestimmung des Schicksals und den eher willkürlichen menschlichen Bestimmungen, zwischen Natur-Recht und herrschenden Rechtszuständen – man brauchte ja keinen Stoizismus, wenn die Umstände es dem Menschen noch immer leicht machten, er selbst zu werden. Ebenso wie Platon und Aristoteles schrieb auch Zenon einen „Staat“, eine Politeia (die wie die übrigen Schriften der ersten Stoiker verloren gegangen und nur aus Zitaten und Erwähnungen anderer bekannt ist). Darin verlegt auch er die ideale Gesellschaft an den Anfang, als das Gesetz der Natur noch herrschte und zwischen den Menschen noch keine Unterschiede eingetreten waren. Doch selbst in der fortschreitenden Abweichung der Zivilisation von der Natur besteht noch eine gewisse Übereinstimmung; denn der moralische Verfall ist ein Begleitphänomen des kosmischen Prozesses, der in den Weltenbrand mündet, in dem das Universum sich läutert und von vorn beginnt. Die Ewigkeit liegt nicht wie bei Platon über der Zeit, sondern in ihr, und der Weise trägt sie in sich, wenn er in seiner stoischen Ruhe über die Zeit erhaben in der Zeit lebt. Am Anfang war sich alles gleich, und der Weise ist sich noch immer gleich – nicht umsonst vergleichen die Stoiker den unbeirrten Gang des Weisen oft mit dem Lauf der Himmelskörper.

So konnten Zenon und seine Nachfolger die verschiedenen Fäden der griechischen Philosophie zu einem zusammenhängenden Muster verweben, zu einem Zeitpunkt, als der Zusammenhang sich nicht von selbst ergab. Die stoische Philosophie, die am Ewigen in der Zeit festhielt, tat das insofern mit Erfolg, als sie ein halbes Jahrtausend lang die herrschende Geistesrichtung wurde, nämlich in der Zeit, die man „Hellenismus“ zu nennen und als eine Zeit der Auflösung zu verstehen pflegt. Im Altertum verging die Zeit, auch die Auflösungszeit, langsamer. Die großen Katastrophen brachten den Menschen keine neue Auffassung von den Dingen, sondern ließen sie glauben, das Ende sei nahe. Das Christentum, das ziemlich unbeachtet mitten in dieser Zeit, der Zeit Senecas, entstand und in seiner Moralauffassung von der Stoa nicht unberührt war, enthielt nichtsdestoweniger eine neue Naturund Geschichtsanschauung und führte mit seiner radikalen Trennung von Ewigkeit und Zeit zu dem entscheidenden Bruch mit der primitiven Wirklichkeitsauffassung – und zu der modernen Natur- und Geschichtswissenschaft.

Seneca - Ein Humanist an Neros Hof

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