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Vergil und das goldene Zeitalter

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Im Jahre 42 schlugen Octavian und Antonius Cassius und Brutus bei Philippi in Makedonien. So sagt man gern, leicht verkürzt; es würde zu weit führen, wollte man die Namen aller Soldaten nennen, und die Namen sind auch nicht bekannt. Aber trotz ihrer Anonymität hatten die Soldaten im Bürgerkrieg viel zu sagen. Bei mehreren Gelegenheiten weigerten sie sich, Schlachten zu schlagen, und das dringlichste Problem der Sieger von Philippi war die Beschaffung von Land und Sold für über hunderttausend Soldaten. Octavian konfiszierte in Italien weite Landgebiete für sie. Die ehemaligen Besitzer wurden vertrieben. Im ersten seiner Hirtengedichte, der Bucolica, die Vergil um 40 v. Chr. schrieb, sieht man einen mit seiner Herde davonziehenden Hirten im Gespräch mit einem anderen, der von Octavian selbst die Erlaubnis zum Bleiben erhalten hat. Anscheinend legt Vergil größeren Wert auf das Glück des letzteren als auf das Unglück des ersteren, obgleich er selbst das Land seiner Väter in Mantua verlassen mußte. Das Opfer war nicht zu groß für den Frieden, der nun eine Realität zu sein schien.

Einer der Soldaten, die bei Philippi auf der falschen Seite gekämpft hatten, bekam später einen berühmten Namen – Horaz. Er schrieb ein bitter ironisches Gedicht, die sogenannte 16. Epode, in dem er seine Mitbürger dazu auffordert, Rom aufzugeben, das unter seinen eigenen Kräften zusammenbreche, in See zu stechen und die Inseln der Seligen zu finden, wo Kronos, der Herrscher des goldenen Zeitalters, den die Römer Saturn nannten, der Sage nach noch immer herrschte. Vermutlich wurde das Gedicht nach dem erneuten Bruch des Friedens geschrieben und bevor Antonius und Octavian im Jahre 40 in Brundisium (Brindisi) wieder Frieden schlossen. Der Bund wurde, wie es der Brauch war, durch die Ehe zwischen Octavians Schwester, Octavia, und Antonius besiegelt, obwohl Antonius bereits mit Königin Kleopatra von Ägypten zusammenlebte.

Möglicherweise stellte Vergil sich vor, daß eine Frucht dieser Ehe den Frieden in alle Ewigkeit sichern sollte, möglicherweise war der Friedensschluß an sich mirakulös genug, um Vergil auf mythische Gedanken an den Friedensfürsten zu bringen, von dem auch im Osten prophezeit wurde. Sein berühmtes viertes Hirtengedicht über das Erlöserkind wirkt wie eine Antwort auf den Vorschlag von Horaz, Rom abzuschaffen: auch Vergil träumte davon, daß das goldene Zeitalter das eiserne ablösen sollte, aber er stellte dies nicht als bitteren Spaß, sondern als erhabenen Ernst dar. Man muß dabei immer bedenken, daß Roms Tage von Anfang an gezählt waren und daß das zweite „Großjahr“ sich seinem Ende zuneigte, daß der Bürgerkrieg und der moralische Verfall als Symptom des Endes aller Zeiten erlebt wurde, auf das auch die Prophezeihungen verwiesen, die man der Sibylle von Cumae, einer Priesterin des Apollo, zuschrieb, an die man sich in kritischen Situationen um Rat wandte. Vor diesem Hintergrund ist die unendliche Erleichterung zu sehen, die der Frieden von Brundisium hervorrief. Vergil brach in Gesang aus und widmete ihn dem einen der Konsuln dieses denkwürdigen Jahres 40, dem Asinius Pollio:

„Musen des Hirten und Sängers, Höheres lasset uns singen!

Jeden erfreut nicht Gebüsch und ein niedriger Strauch Tamarisken:

Singen von Wäldern wir, seien die Wälder des Herrschers auch würdig!

Nun ist gekommen die letzte Zeit nach dem Spruch der Sibylle;

Neu entspringt jetzt frischer Geschlechter erhabene Ordnung.

Schon kehrt wieder die Jungfrau, Saturn hat wieder die Herrschaft;

Schon steigt neu ein Erbe herab aus himmlischen Höhen.

Sei nur dem nahenden Knaben, mit dem die eisernen Menschen

Enden, und allen Welten ein goldenes Alter erblühet –

Gnädig sei ihm, du Helferin, Reine! schon herrscht dein Apollo!

Während du, o Pollio, führest, beginnt dieses Aeons

Herrlichkeit, fangen an die hohen Jahre zu schreiten,

Die unsres Frevels Spuren, wenn solche noch blieben, vernichten,

Die aus unaufhörlichen Ängsten erlösen die Länder.

Jener empfängt das Leben der Gottheit, schauet die Götter

An und Heroen vereint, wird selber von ihnen geschauet.

Friedlichen Erdkreis regiert er mit Kraft, vom Vater ererbet.“35

In den dreißiger Jahren festigte Octavian seine Stellung in Italien, Antonius die seine im Osten. Octavian bereitete die bevorstehende Abrechnung durch eine Propagandaaktion vor, die an das italische Nationalgefühl appellierte: Es gelte den Westen gegen Antonius zu verteidigen, der – wie es hieß – sich in Kleopatras Macht befinde, die Hauptstadt nach Alexandria verlegen und freie römische Bürger zu Untertanen einer orientalischen Despotie machen wolle. In jenem Jahrzehnt schrieb Vergil sein großes Gedicht, die Georgica, zu Lob und Preis der Landwirtschaft, des ländlichen Lebens und Italiens. So wie er in seinem Adventsgedicht Hesiods goldenes Zeitalter und seine Göttin Gerechtigkeit, Dike, zur Unzeit zurückkehren ließ, so richteten sich seine Georgica teilweise gegen Hesiods „Werke und Tage“: die Arbeit an der Erde ist in Vergils Darstellung kein Fluch, sondern auch eine Arbeit am Menschen, die dessen Tugenden zur Entfaltung bringt. Am moralischen Verfall der Stadt hat der Bauer keinen Anteil, über seinem Leben liegt, trotz der Plackerei des eisernen Zeitalters, noch immer der Glanz des goldenen. Da der moralische Verfall Symptom des Endes aller Zeiten war, bildeten die noch lebendigen Bauerntugenden der Vorväter ein Argument für die Möglichkeit eines Neubeginns, – Vergil soll sein Gedicht Octavian vorgelesen haben, als dieser nach der endgültigen Abrechnung mit Antonius in der Seeschlacht von Actium im Jahre 31 als Sieger heimkehrte.

Octavian, dem der Senat im Jahre 27 den Ehrennamen Augustus verlieh (das Wort ist verwandt mit auctoritas und kann verstanden werden als „der, der (höhere) Autorität hat“), sah sich nun der gleichen Aufgabe gegenüber wie der mythische König Numa, nämlich rauhe Krieger in ein friedliches Volk verwandeln zu müssen. In der Zwischenzeit war das Reich so groß geworden, daß der Weltfrieden zu einer innenpolitischen Notwendigkeit geworden war, sollte sich das Reich nicht wieder im Kampf der Heerführer auflösen. So lag es nahe, den Frieden, die pax romana, die für Rom eine Notwendigkeit war, als Roms besondere zivilisatorische Aufgabe zu verkünden. Und Vergil war es, der sie in seinem Heldengedicht, der Äneis, formulierte:

„Du aber, Römer, gedenke mit Macht der Völker zu walten,

Dies sei deine Berufung – des Friedens Gesetze zu ordnen,

Schon den, der sich gefügt, doch brich den Trotz der Rebellen!“36

Die Äneis ist der Bericht darüber, wie Äneas, der Sohn der Göttin Venus (eine Abstammung, deren auch Julius Cäsar sich rühmte), nach vielen Kämpfen und Qualen das römische Geschlecht begründete. Den endgültigen Kampf um das Land in Latium ficht er gegen Turnus, der die ursprüngliche Bevölkerung, aber auch die alten römischen Kriegertugenden vertritt. Er ist wild und ehrliebend, sucht eben die Bestätigung seiner virtus in der gloria,37 und es ist kein Zufall, daß Vergil diese beiden traditionell zusammengehörigen Begriffe nur in der Schilderung des edlen, doch primitiven Turnus in Beziehung zueinander setzt. Der Sieger ist ganz anderer Art, er heißt immer pius Äneas, was man in der christlichen Tradition oft mit „der fromme Äneas“ übersetzt, doch diese Frömmigkeit besteht darin, daß man das Allgemeine über das Private stellt, seine eigenen Wünsche den Forderungen der größeren Ganzheiten zuliebe zurückstellt, so wie Äneas seine Liebe zu Dido aus Rücksicht auf seine vom Schicksal bestimmte Aufgabe aufgeben muß. Pietas bedeutet also Familiengefühl, Sohnesrespekt u. ä., doch bei Vergil bezieht sich die Pietät auf das römische Geschlecht. Ein Geschlecht gerade soll Äneas ja begründen, das Geschlecht nämlich, das sich im eisernen Zeitalter in Geschlechter aufgelöst hatte und im goldenen wieder eins werden soll.

Mit der Äneis verfolgte Vergil seine Prophezeihung vom goldenen Zeitalter weiter und ließ die Geschehnisse der Gegenwart nicht nur eine Folge der vergangenen, sondern sogar deren Zweck sein: Augustus war der, der da kommen sollte, das war bereits dem Stammvater des Geschlechts klar:

„Dies ist der Mann, er ist’s, der so oft vom Schicksal verheißne

Caesar Augustus, des Göttlichen Sohn, der das goldene Alter

Wieder nach Latium bringt, dort, wo vor Zeiten Saturnus

König gewesen.“38

Es ist nicht weiter verwunderlich, daß ein Dichter einem Machthaber schmeichelt, das hat es auch vor und nach Vergil gegeben. Erstaunlicher ist, daß ein so inspiriertes Gedicht wie die Äneis alles fassen konnte, was ein Machthaber begehren konnte (das könnte dem Dichter Skrupel eingebracht haben – wollte er möglicherweise deshalb das unvollendete Gedicht bei seinem Tode vernichtet sehen? Dies ist das Thema von Hermann Brochs großem Roman „Der Tod des Vergil“) – und das nicht, weil Vergil gefallen oder den Wünschen des Machthabers nachkommen wollte, denn so etwas hat nie sonderlich inspirierend gewirkt, sondern einfach deshalb, weil Augustus der „mythischen“ Bereitschaft der Zeit entgegenkam: Für das Volk und für die Dichter war er der, der da kommen sollte. Auch Horaz, der anfangs die Räumung von Rom zugunsten der glückseligen Inseln vorgeschlagen hatte, lokalisierte das goldene Zeitalter schließlich in Rom. Der Frieden mußte auf eine Generation, die nie etwas anderes als Krieg erlebt und ein „mythisches“ Entsetzen vor dem sich nähernden Ende aller Zeiten gehegt hatte, wie ein Wunder wirken.

Vergil läßt in der Äneis Jupiter selbst die Theorie dementieren, wonach Roms Tage gezählt seien:

„Diesem setze ich weder ein Ziel noch Frist für die Herrschaft.

Reich ohne Grenzen sei ihm beschieden.“39

Kein Evangelium konnte Augustus willkommener sein. Er verstand es, den Zeitgeist zu nutzen. Im Jahre 17 v. Chr., sechs Jahre nachdem Roms zweites Großjahr zuende gegangen war, fand er es an der Zeit, den Beginn des neuen Weltalters zu feiern. Dies geschah in einem zwölf Tage dauernden „Jahrhundertfest“, an dem ganz Rom teilnahm. Vielleicht gelang es hier zum ersten und letzten Mal, das gesamte römische Geschlecht um einen geistigen Inhalt zu vereinen, so wie das bei den Festen der Sippengesellschaft der Fall gewesen war. Zu dieser Gelegenheit – zwei Jahre nach Vergils Tod – war es Horaz, der die Adventshymne, carmen saeculare, verfaßt hatte. Gesungen wurde sie von einem Doppelchor römischer Jungen und Mädchen, die den Wunsch ausdrückten, die goldene Zeit möge noch goldener werden und ewig dauern. Rom, dessen Tage von Anbeginn an gezählt waren, hieß von nun an die Ewige Stadt.

Seneca - Ein Humanist an Neros Hof

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