Читать книгу Das Buch vom Bambus - Vladislav Bajac - Страница 12

VII

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Mein erster großer Irrtum war die Erwartung, dass etwas passieren würde. Nachdem ich einige Male vergeblich auf die Beantwortung von Fragen gewartet hatte, die ich meinen Mitbewohnern gestellt hatte, musste ich mich mir selbst zuwenden und die Antworten bei mir finden. Im Kloster war fast alles, was vom Morgen bis zum Abend, manchmal auch die Nacht eingeschlossen, getan wurde, Bestandteil eines Verhaltenskodex, der Unterhaltungen in der Regel nicht zuließ, wodurch sich der Kontakt unter den Schülern auf die gemeinsame Pflichterfüllung in vollkommener Stille beschränkte. Bei der Rezitation der Sutras waren alle gemeinsam zu hören – mit einer Stimme, doch mit fremden Texten. Knappe Gespräche wurden bei der Begegnung mit dem Rōshi geführt, jedoch in der Zurückgezogenheit der Kōan-Übung. Der Meister hatte uns bis jetzt keine gemeinsamen Vorträge gehalten. Selbst nach mehreren hier verbrachten Tagen hatte ich ihn noch nicht persönlich gesehen. Auch darin hatte ich mich geirrt: Ich erwartete eine offizielle Begegnung mit ihm, diese konnte jedoch stattfinden, wenn ich es am wenigsten erwartete. Bis jetzt war Tetsujiro mein Aufseher gewesen, der auch sonst alle Dinge im Kloster zu überwachen hatte. Mehr noch: Er war der Mann, der Probleme löste, Entscheidungen umsetzte und das wichtigste Bindeglied zwischen den Mitgliedern der Bruderschaft darstellte. Er trug den Titel eines Daishi. Obwohl schon hochbetagt, wollte er bei keiner Arbeit abseits stehen und verrichtete dieselben Tätigkeiten wie auch die allerjüngsten Schüler. Ich hatte ihn gesehen, wie er gleichermaßen versiert den Garten herrichtete, chinesische Künste ausführte, Holz trug und Steine verrückte. Angesichts dieser vielen körperlichen Arbeit faszinierten mich seine Hände: Sie waren schmal und zart und hatten feingliedrige Finger von verblüffender Länge. Wenn er die Hände beim Sprechen der Sutras faltete, betrachtete ich sie heimlich und stellte mir ihr Ende irgendwo unter dem Dachboden vor. Sie strahlten etwas Einzigartiges aus und hatten eine seltsame Wirkung auf mich: Wann immer ich mich zerstreut fühlte und sie mit meinem Blick einfangen konnte, genügte das, um wieder Ruhe zu finden und zu dem zurückkehren, was ich unterbrochen hatte. Er hatte ein von feinen Falten durchzogenes, hageres, längliches Gesicht und eine hohe Stirn.

Den Rōshi, den ich noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, malte ich mir als einen Mann von außerordentlichen Qualitäten aus, ohne ihn mir in ganz gewöhnlichen Situationen vorstellen zu können. Er verkörperte für mich all das, was ich noch nicht erreicht hatte. Irgendwie gefiel mir die Idee von der Existenz einer solchen Person, und ich fürchtete mich ein wenig vor dem Zusammentreffen mit ihr, weil es, wie ich glaubte, den Zauber zerstören könnte, mit dem ich sie bereits umgeben hatte.

Tetsujiro aber war in einer noch misslicheren Lage. Sein Titel wies ihm neben der Last der Verantwortung die einfachsten täglichen Pflichten zu, auf die Unwissende verächtlich herabgeschaut hätten. Ich kannte ihn noch nicht gut genug, hatte aber grenzenloses Vertrauen zu ihm. Als ich ihn schließlich eines Tages sah, wie er auf Knien, das Priestergewand zwischen die Beine geklemmt, den Abort scheuerte, war ich perplex. Dieser Mann hatte alles Unvereinbare in sich vereint! Wenn er diese Arbeit erledigte, wirkte es so normal, schlicht und frei von jedem Gedanken über Stolz, Rang und Alter. Die Ruhe, die er ausstrahlte, war sein besonderes Kennzeichen, aber auch Ausdruck des möglichen Erreichens einer Sphäre, in der darüber überhaupt nicht nachgedacht, sondern nur gehandelt wurde.

Als Tetsujiro mir den Tagesablauf der Unsui und die kleinen, mich betreffenden Abweichungen erklärte, blieb sein Gesicht vollkommen ausdruckslos, so als würde ein anderer diese Worte aussprechen, die er wohl schon unzählige Male wiederholt hatte.

Der Tag begann im Frühjahr und Sommer um drei Uhr morgens mit dem Spülen des Mundes mittels einer Kelle, mit dem Waschen des Gesichts und der Morgenrezitation von Sutras. Wer wollte, konnte danach ein Zwiegespräch mit dem Meister führen. Alle anderen übten in der Zwischenzeit bis zum Frühstück Zazen. Anschließend war es wieder Zeit für Zazen sowie für die tägliche Reinigung der Räume, der Kleidung und der Sachen. An festgelegten Tagen hielt der Rōshi stattdessen ab sieben Uhr Vorträge für alle Schüler. Diese Unterrichtsstunden gab es nur einige Monate im Jahr. An den Tagen, die für den Almosengang vorgesehen waren (jeder dritte Tag ab dem zweiten Tag eines Monats), ging man vom Kloster in die umliegenden Dörfer. Mittagessen gab es an den Unterrichtstagen um zehn, wenn man Almosen sammeln ging, um elf Uhr. Nach dem Mittagessen konnten die Priester Zazen üben. Um ein Uhr nachmittags begann die körperliche Arbeit. Vor dem Abendessen um halb vier oder vier wurden die Abend-Sutras rezitiert. Nach Einbruch der Dämmerung war es wieder Zeit für Zazen. Danach stand der Rōshi all jenen zur Verfügung, die ihn in seinem Zimmer aufsuchen wollten. Offizielles Tagesende war im Winter um acht und im Sommer um neun Uhr. Die Nacht war zum Schlafen vorgesehen, der Schüler konnte jedoch auch jetzt Zazen üben, dann allerdings außerhalb der Räume auf der Veranda.

Von all dem konnte ich aber nur wenig gemeinsam mit den anderen, erfahreneren Schülern tun. Ich stattete dem Rōshi keine Besuche ab, sammelte keine Almosen und übte Zazen mehr schlecht als recht. Der Rōshi hielt noch immer keine Vorträge, sodass ich nicht einmal wusste, wie diese abliefen. Die gesamte Zeit, die für die Verrichtung dieser Übungen vorgesehen war, füllte ich mit Arbeit in Küche und Garten, Putzen der Räume aus, kurzum: mit Aushilfstätigkeiten, die im Grunde nichts mit dem zu tun hatten, was ich mir vorgenommen hatte. Jedenfalls dachte ich das. Den anderen gleichgestellt war ich an jenen Tagen im Monat mit den Ziffern vier und neun, an denen wir badeten und uns den Kopf rasierten.

Besonders schwere Übungen hatten die Schüler sommers wie winters während des Ango vom ersten bis siebten, elften bis siebzehnten und einundzwanzigsten bis siebenundzwanzigsten Tag eines Monats auszuführen. Ähnliche, aber noch schwierigere Übungen gab es vom ersten bis zum Morgen des achten Dezember, wenn die Erleuchtung des Shākyamuni begangen wurde. Diese Tage waren ausschließlich mit dem Üben von Zazen und Gesprächen mit dem Rōshi ausgefüllt, was sich über Tag und Nacht hinzog. Schon die Bezeichnung der Übungen, Rohatsu Dai Sesshin, deutete auf die intensive Anspannung des Geistes hin.

Auch nach einigen Monaten Aufenthalt in Dabuji waren diese Übungen für mich noch immer nicht fassbar. Ich erfüllte meine Pflichten, aber es gab keine Freude in meinem Herzen. Getrennt von den anderen, litt ich und versank langsam in Lustlosigkeit. Der einzige Lichtblick in der Monotonie der Tage war Daishi Tetsujiro, dessen zerbrechliche Erscheinung sich oft in meiner Nähe befand, so als würde er zuweilen die Arbeiten mit mir zusammen oder an meiner Stelle verrichten. Seine Aufgabe war es zu kontrollieren, wie jeder seine Pflichten erfüllte, er schien aber nicht nur deshalb in meiner Nähe zu sein. Ich war nicht imstande, die versteckten Gründe dafür zu finden, wenn es sie denn überhaupt gab.

Anfangs kamen mir das Gelübde des fast völligen Schweigens zwischen den Schülern und der sehr dichte Tagesablauf, der häufigere Gespräche unter uns unmöglich machte, sehr entgegen. Alles war neu und unbekannt, erst recht, da ich so verwirrt war und mit mir selbst nicht zurecht kam, sodass ich in meiner persönlichen Unruhe, die noch keinen Bezug zum Wesen des Ortes hatte, an dem ich mich aufhielt, die Ursache für den allzu häufigen Wechsel von Unbehagen und Zufriedenheit mit meiner Situation ausmachte. Die wenigen freien Momente verbrachte ich allein auf den Pfaden des Klostergartens, dessen Pflanzenwelt Vertrauen einflößte und die Seele beruhigte. Doch je mehr Zeit verging, in der ich auch weiterhin von geringem Nutzen für mich selbst war, fand ich immer weniger Trost in diesen Spaziergängen. Der Garten war wundervoll hergerichtet, doch allein der Gedanke daran, dass es mir nicht erlaubt war, ihn selbstständig zu pflegen, machte meine letzten Hoffnungen zunichte. Ironischerweise dachte ich, dass jeder, der mich meine Pfade eintreten sah, denken müsse, ich hätte Höhen vollkommener Ruhe und Harmonie erklommen. Doch ich wandelte aus reiner Gewohnheit umher, aus einer mit der Zeit gefestigten Abhängigkeit heraus.

»Wie ich sehe, verspürst du den starken Wunsch, Kinhin zu üben, aber du hast zu früh damit begonnen!«

Die Stimme war tief und mir unbekannt. Ich drehte mich um und erstarrte. An der Kleidung, die er trug, erkannte ich den Meister. Ich war außerstande, irgendetwas zu sagen, er dafür aber sehr wohl. Ich hatte es noch nicht einmal geschafft, ihn mir genau anzusehen, als er schon weiterredete.

»Zazen im Gehen üben erfahrene Schüler. Aber wenn du es nun schon mal probierst, dann mach es richtig. Du verbindest zwei Arten von Kinhin, man muss sich aber an eine halten. Du gehst leise wie ein Sōtō-Mönch, aber schnell, wie es dich unsere Rinzai-Schule lehren würde. Wenn du auf diese Art und Weise erreichst, was du willst, soll es mir gleich sein. Ich würde dich sogar fliegen lassen. Wenn du entschieden hast, was besser ist, komm zu mir. Am besten morgen früh.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging schnellen Schrittes davon. Mir entwich nur noch ein Seufzer: »Der Rōshi!«

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