Читать книгу Das Buch vom Bambus - Vladislav Bajac - Страница 19

XIV

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Es gab noch etwas, worüber sich Sung wunderte. Über sich selbst. Er hatte sich nämlich in einem Augenblick, nur einem einzigen gefragt, wie er es zulassen konnte, dass Chio, die immerhin nur eine Dienerin war, sich an ihn so frei, und vielleicht auch auffällig intim wendete. Er dachte dabei nicht nur an ihre unterschiedlichen Positionen. Selbst wenn er diese beiseiteließ, fühlte er nach einer Begegnung mit ihr eine unklare Spur, die sie hinterließ und die ihm nicht zusagte. In einem war er sich sicher: Sollte künftig etwas Schlechtes zwischen ihnen vorfallen, könnte er einzig sich selbst dafür die Schuld geben. Man kann niemandem die Schuld dafür geben, dass er da ist und dass er existiert. Die zweite, gute Seite ihrer Anwesenheit machte ihm vieles leichter. Natürlich hätte er nicht wissen können, welchen Fortgang die Ereignisse nehmen sollten, wenn er sie nicht in seinem Haus angetroffen hätte. Sie half ihm, vergangenes Geschehen besser einzuschätzen, und – was noch wichtiger war – weitaus gelöster Überlegungen über die nahe Zukunft anzustellen.

Das einzige Geschöpf, das all seine Gedanken kannte, war Kiki. Wäre es ihm zufällig vergönnt reden zu können, hätte es alles Mögliche über seinen neuen Herrn ausplaudern können. Seine Gesellschaft tat Sung sehr gut. Er war nicht verpflichtet, jeden seiner Standpunkte darzulegen (obwohl er ihn als Begleiter ernst nahm), und er konnte sich neben ihm nicht allein fühlen. Die täglichen Spaziergänge am Ufer entlang ließen sie zu einem Paar werden, das sich ziemlich gut verstand. Sung erfüllte auch einige Wünsche von Kiki. Und man konnte nicht behaupten, dass dieser keine hatte: Er wollte baden, wenn das Wetter nicht danach war und zerrte Sung hinter sich her ins seichte Wasser. Er bespritzte ihn und hüpfte vor Freude, den Herrn in der unangenehmen Lage zu sehen, sich wehren zu müssen, er kletterte auf Bäume und zielte mit allem nach ihm, was er fand; er kletterte auf seinen Rücken, zerzauste seine Haare, schmatzte ihn mit seinen dicken Lippen ab, wenn Sung in sich gekehrt war. Kurzum, er ließ nicht zu, dass Sung schlecht gelaunt war. Egal, wie oft sich Sung gegen diesen Ansturm guten Willens wehrte, musste er sich nach einer gewissen Zeit eingestehen, dass ihm Kikis Hartnäckigkeit eigentlich behagte. So begann Sung, zu schnellem Denken gezwungen, klare Entscheidungen zu treffen. Die nahe Zukunft verwandelte er in die Gegenwart und ersann die ersten ernsthaften Pläne, die er so schnell wie möglich umsetzen wollte.

Heimgekehrt, nahm er das Schreibzeug und begab sich in den großen Garten. Er fertigte ein Verzeichnis aller dort wachsenden Pflanzen und einen gesonderten Katalog aller Bambussorten an, die er seinerzeit mit seinem Vater gepflanzt hatte. Es gab wenige, die mit einem solchen Reichtum mithalten konnten. Um genügend Platz für neue Arten zu schaffen, fertigte er einen Plan zur Beseitigung der überflüssigen an.

Die nächsten Tage verbrachte er mit dem Roden. Nun hatte er genügend Platz für all die neuen Sorten, die er anzupflanzen plante. Für die bereits existierenden (die er entweder im Garten hatte oder über die er etwas wusste) trug er die ihm bekannten Daten ein: vom Pflanzdatum bis zum Tempo des Wachsens und Blühens, zu speziellen Eigenschaften und zur mögliche Verwendung jeder einzelnen.

Chio geriet über den neuen Eifer ihres Gebieters ins Staunen. Sie bot ihm ihre Hilfe an, doch er lehnte ab.

»Das ist etwas, was allein ich tun muss. Wenn die Zeit gekommen ist, mir zu helfen, sage ich es dir.«

»Sung, darf ich dich etwas fragen?«

Da Sung nicht antwortete, fuhr sie fort.

»Ich habe gehört, dass dein Vater in diese Pflanze verliebt war. Das hast du wahrscheinlich von ihm geerbt. Aber woher diese Wahl, damals wie heute: Bambus?«

Er sann nach, wie viel er ihr dazu sagen sollte. Auf keinen Fall die ganze Wahrheit.

»Also. Erstens muss ich anfangen, mich mit etwas zu beschäftigen. Das haben wir beide begriffen. Zweitens verdanke ich sozusagen diesem hohen Gras, dass ich heute am Leben bin. Wenngleich ich wegen ihm beinahe draufgegangen wäre.«

»Aber was wirst du eigentlich mit dem Bambus machen, wenn du all die Sorten, die du dir wünschst, gepflanzt hast?«

»Ich werde sie ansehen, alle beobachteten Veränderungen notieren, ich werde versuchen, neue Sorten zu bekommen.«

»Aber ich begreife nicht, wozu das alles gut ist.«

Er sah sie an, bevor er antwortete. Er hatte den untrüglichen Eindruck, dass sie ihm überflüssige Fragen stellte. Als wüsste sie weitaus mehr als das, was sie als Antwort erhielt.

»Wenn ich all das Neue notiere, wird es vielleicht heute oder morgen jemandem von Nutzen sein. Ich bin sogar völlig davon überzeugt. Ich werde versuchen, diese Pflanze so nützlich wie möglich zu machen. Jedes Wissen ist zu etwas dienlich.«

Chio wirkte nicht ganz glücklich. Sie erwartete noch etwas.

»Na gut«, entschloss sich Sung. »Für mich ist Bambus ein Lebewesen, sozusagen ein Mensch.«

Chio lächelte zufrieden.

»Diese Antwort ist mir weitaus verständlicher. Danke, dass du mir dein Geheimnis offenbart hast. Es ist ein schönes Geheimnis.«

Eine solche Reaktion hatte er nicht erwartet.

»Bevor du mir die nächste Frage stellst, werde ich dir darauf antworten. Von dem, was ich machen will, wovon ich dir erzählt habe, kann ich nicht leben. Es wird sogar zusätzliches Geld vonnöten sein. Für den Lebensunterhalt werde ich etwas anderes tun. Ich habe den Ältesten Kung gebeten, in der Provinz kundzutun, dass sich im Dorf ein neuer Abschreiber buddhistischer Schriften und Bücher aufhält. Ich gehe davon aus, dass sich alsbald jemand melden wird. Vielleicht kannst du mir dann unter die Arme greifen, falls das auch weiterhin dein Wunsch sein sollte.«

Chio musste nichts sagen. Sie war hocherfreut.

Schon am Tag darauf konnte Sung den Effekt von Chios Glückszustand in Augenschein nehmen. Am Eingangstor waren zwei Holztafeln angebracht. Auf beiden Seiten stand auf Chinesisch und auf Japanisch geschrieben: »Bambustempel«. Er konnte nicht böse sein. Die Bezeichnung entsprach seinen Wünschen. Seine Genugtuung verbarg er nicht; mit einer tiefen Verneigung bedankte er sich bei ihr.

»Chio, das ist Grund genug, uns als gleichberechtigt zu sehen. Von nun an wirst du meine Gehilfin sein. Ich bin für dich nicht länger der Herr. Übrigens, lange Zeit war ich nicht einmal mein eigener Herr, und so werde ich mir das leicht abgewöhnen. Hab Dank.«

Das Mädchen strahlte. Leicht verschämt trug es vor, was es auf dem Herzen hatte.

»Gut, lieber Sung. Aber ich werde weiterhin auch alle Dinge im Haushalt erledigen. Du kannst das nicht, und wir haben kein Geld, um jemanden anzustellen.«

Hinter ihrem Rücken spendete Kiki mit kräftigem Händeklatschen Applaus.


Wenig später brachte der Älteste Kung den ersten Besucher zum Bambustempel, einen Priester des buddhistischen Hauptklosters der Provinz Qingdao. Einen so hohen Gast hatte Sung nicht erwartet. Sein Besuch konnte nur eines bedeuten: dass es um wichtige Schriften ging. Nachdem der Priester ihn ein wenig über den Buddhismus ausgefragt hatte und mit dem, was er hörte, zufrieden war, zeigte er ihm, was er mitgebracht hatte. Es war das bereits aus dem Pāli ins Chinesische übersetzte Sutra Nipata. Es sollte abgeschrieben werden. Der Gast verlangte die besondere Verzierung des Buches, die er Sung überließ.

Als die Besucher gegangen waren, rief Sung Chio zu sich, um ihr die frohe Botschaft über die vereinbarte Arbeit mitzuteilen.

»Ich werde in die Stadt gehen, um das notwendige Werkzeug aufzutreiben. Mit unserem Können werden wir den Auftraggeber überraschen, und wir werden die Freude haben, auch den Nutzen meines Interesses für den Bambus zu sehen.«

Chio unschlüssig zurücklassend, machte sich Sung sofort nach dem Material für die Bestellung auf. Als sie sich überzeugt hatte, dass er fort war, machte sich auch Chio fertig und trat ihre etwas kürzere Reise an. Sie bemühte sich, vor Sung zurück zu sein.


Sung brachte einige Papierkisten heim, verschiedenfarbige Tusche, Pinsel unterschiedlicher Stärke, zahlreiche Fläschchen mit verschiedenen Flüssigkeiten, Holzschnittwerkzeuge, Seide, Sehnen, Federn mehrerer Vogelarten, Schachteln, Leinwand zum Zeichnen und Malen und noch vieles mehr. Als er alles auf dem Boden des Raumes ausgebreitet hatte, der ihm als seine – wie er sie bezeichnete – »Werkstatt« dienen sollte, stand Chio einige Minuten sprachlos vor all diesen Dingen. Dann piepste sie wie eine verschreckte Maus, allerdings vor Freude. Sie schmunzelte beim Anblick ihres neuen Meisters, der mit Genuss alles ordentlich in Borde und Regale stapelte. Alles schien schon immer dort gestanden zu haben. Er rieb sich zufrieden die Hände und sagte scheinbar zu sich selbst: »Jetzt könnten wir loslegen!«

Das Sutra reproduzierte er nicht auf Papier, sondern auf vorbereitete Streifen von grünem Bambus. Reproduzieren war nicht das richtige Wort für das, was er machte. Er ritzte die Buchstaben in die glatte Bambusrinde ein. Nach einigen Tagen bat er Chio, die fertigen Streifen mit Seidenschnüren zu verbinden. Das so gebundene Buch verzierte er mit einer Drachenzeichnung auf dem Einbandstreifen. Die Tage bis zum erneuten Besuch des Priesters verbrachte er damit, das erste gemeinsame Werk zu betrachten. Wohl sah er einige Versäumnisse, wollte jedoch im Nachhinein nichts korrigieren.

Als der Priester seine Bewunderung für das, was er sah, zum Ausdruck brachte, erbebte Sung vor Zufriedenheit. Es war der Augenblick gekommen, seinen Gast mit den Möglichkeiten seiner Werkstatt vertraut zu machen. Er informierte ihn über die vorhandene Fähigkeit, für die Bedürfnisse des Klosters Bücher auch ins Japanische zu übertragen. Der Priester erwies ihm die Ehre, den Vorschlag zu akzeptieren und vertraute ihm dann ein Geheimnis an, von dem er zugab, gedacht zu haben, dass es auch eines bleiben würde: Das Kloster hatte mehrere Exemplare dieses Sutras bei verschiedenen Meistern bestellt, um dann das beste auszuwählen. Dass sie auch nicht einen der Abschreiber vom jeweils anderen in Kenntnis setzten, hatte einen einfachen Grund. Dieses Sutra sollte ein Geschenk für das Oberhaupt der Provinz Qingdao werden. Hätten sie den Meistern gesagt, für wen es sein sollte, wäre nicht sicher, ob sie das bekämen, was jene wirklich können, sondern wahrscheinlich wäre es etwas zu Außergewöhnliches und damit dann kein Geschenk, was ein Kloster einem Landesherrn zu überreichen wünscht.

Sung löste eine Verbeugung seines Gastes aus, als er auf diese Erklärung lediglich erwiderte: »Ich verstehe, was Ihr Wunsch war!« Er staunte nicht weiter darüber, dass seine Arbeit dem hohen Herrscher übergeben werden sollte. Beim Fortgehen fügte der hohe Würdenträger des Klosters hinzu:

»Meister Sung, ich denke, wir werden sie häufig brauchen.«

Wahr ist, dass Sung auf einen derartigen Erfolg nicht zu hoffen gewagt hatte. Er war zufrieden mit dem, was sie vollbracht hatten, und er dachte, dass dies kein sicheres Zeichen dafür sein musste, dass sie etwas Besseres gefertigt hatten als ein anderer es vermocht hätte. Bald konnte er sich von der völligen Zufriedenheit seines ersten Auftraggebers überzeugen. Ein Abgesandter des Klosters kam von nun an regelmäßig und brachte buddhistische Schriften. Darunter waren recht viele in Japanisch. Sung gelang es, von solchen ein zusätzliches Exemplar herzustellen und diese in seiner Bibliothek aufzubewahren. Auf diese Weise nahm seine Sammlung von Texten aus Indien und China mit jedem Monat an Umfang zu. Bei dieser doppelten Arbeit war ihm Chio eine große Hilfe. Sie erledigte alle Arbeiten, die auch er machte, schnell und sauber, mitunter auch schöner als er. Sie war sehr talentiert.

Die Arbeit nahm immer mehr zu. Sungs sichere Hand sprach sich im Land herum, und so eilten von überall Klienten herbei. Sung musste weitere drei Abschreiber einstellen; Geld dafür war genug vorhanden. Es fiel ihm nicht schwer, welche zu finden. Er musste sie eigentlich nur unter den vielen auswählen, die da kamen, um ihm ihre Dienste anzubieten. Auch weiterhin galt es, einen kleineren Teil von Büchern abzuschreiben, die in Japanisch waren. Sung behielt sie bei sich, denn nur er und Chio arbeiteten daran, damit nicht herauskam, dass sie in mehreren Exemplaren existierten.

Da er sich auf das Abschreiben nur einiger Bücher beschränkt hatte, blieb Sung Zeit, sich mit dem Bambus zu befassen. Und Geld gab es jetzt mehr als genug.

Chio war glücklich über das Gelingen ihrer Pläne, wenngleich nun weniger Zeit für den Austausch von Blicken und Worten war. Ihre Zeit sollte erst noch kommen. Sie beschloss, die jetzige etwas zu beschleunigen.

Das Buch vom Bambus

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