Читать книгу Das Buch vom Bambus - Vladislav Bajac - Страница 15

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Das unverhoffte Zusammentreffen mit dem Rōshi hatte mich gehörig verwirrt. Es hatte sich zu einem Zeitpunkt ereignet, als ich keine Rechtfertigung mehr dafür sah, in Dabu-ji zu sein. Jetzt aber hatte sich alles im Nu verändert. Er hatte Lösungen von mir verlangt, über die ich nicht verfügte. Er hatte mir gesagt, ich könne zu ihm kommen, wann ich wolle, dann aber angeordnet, dies habe gewissermaßen sofort zu geschehen. Vielleicht wollte er seine Anordnung ja mit meinem Wunsch in Einklang bringen, ihn endlich zu sehen! Und dann noch seine Bemerkung über mein Meditieren im Gehen! Ich war mir sicher, er wusste, dass ich nur spazieren ging und nichts weiter. Bin ich so naiv oder weiß er so viel? Als ich mich das fragte, ärgerte ich mich, dass ich mir überhaupt so viele Fragen stellte. Auch ohne dass es mir jemand sagte, wusste ich, dass mir deshalb noch nichts gelang, weil ich so ungeduldig und neugierig war und alles, was ich sah, tat und hörte, zu analysieren suchte. Eigentlich zweifelte ich so sehr an mir selbst, dass es schon unerträglich wurde.

Ich tröstete mich damit, dass das Hinterfragen aller Dinge dennoch zu etwas gut war: Ich wurde mir meiner Fehler bewusst. Bevor ich hierherkam, hatte ich mich zwar an einer Art Scheideweg befunden, war aber nicht so tief gesunken, um wegen Mittellosigkeit oder der Hoffnung auf Linderung einer Krankheit ins Kloster zu gehen. Es stimmt, dass ich vor all dem davongelaufen war, was ich bisher erlebt hatte, doch für Dabu-ji hatte ich mich sehr bewusst entschieden. Ich wusste, dass der neue Ort von mir verlangen würde, mich einzuordnen, statt Pläne zu schmieden. Mit einfachen Worten: Ich musste mich dem Fluss anvertrauen und in seiner Mitte versuchen, der Strömung gewachsen zu sein. Bis dahin musste ich nur so viel schwimmen, dass ich nicht unterging. Mehr konnte ich mir zunächst auch gar nicht abverlangen. Was mich am anderen Ufer erwartete, entzog sich meinem Urteil. Ich wusste damals noch nicht, dass es auch ein drittes Ufer gab.

Seit ich hier war, hatte ich ständig das Gefühl, dass der Tag aufgrund irgendwelcher Gesetzmäßigkeiten ohne Mühsal verlief, wie eine Wolke am Himmel, die ich sehe und von der ich weiß, dass sie irgendwo über mir ist, die ich aber nicht anschauen muss, um mir ihres Vorhandenseins sicher zu sein; zieht sie fort, kommt eine andere und immer so weiter. Ob es heiter ist oder der ganze Himmel eine dunkle Decke: Die Wolke ist irgendwo dort.

Am Nachmittag dieses Tages sollte ich Holz für die Küche des Klosters spalten. Angeregt vom Gespräch mit dem Rōshi bemerkte ich zum ersten Mal, dass mich bei dieser Tätigkeit keine trüben Gedanken plagten. Zugleich erschien mir die Arbeit leichter als sonst. Es konnte nicht sein, dass ich an diesem Nachmittag stärker war als an den Tagen zuvor. Ich stellte das Nachdenken beim Arbeiten nicht ein, der Unterschied lag in der Art und Weise. Gleichwohl befielen mich Zweifel in Form von recht klaren Bildern, und was eine Lösung sein konnte (aber nicht notwendigerweise sein musste), zeigte sich in Gestalt von sehr schnellen Lichtstreifen, die aus mir heraus in die Ferne flogen wie abgeschossene Pfeile. Es war, als würde jeder Streifen einen Einstich im Körper verursachen. Ich hatte das Bedürfnis, mich an etwas zu scheuern.

»Cao, du bist heute dem Meister begegnet. Siehst du, auch das kommt vor!«

Das war Daishi Tetsujiro. Wie gewöhnlich sagte er, was er zu sagen hatte, und ging dann weiter seines Weges. Er jetzt also auch noch! Man könnte meinen, er und der Rōshi und alle anderen hätten sich abgesprochen. Wenn sie über dasselbe Wissen verfügten, dann war es wohl auch so. Und siehe da, ich erlebte mein erstes Lächeln. Als sich der Daishi umdrehte, schien auch er zu lächeln.

Zum ersten richtigen Verstehen des Ortes, an den ich gekommen war, hat dieses Lächeln (oder beide) mehr beigetragen als alle bisherigen Versuche, mit eigenen Anstrengungen die erste Stufe zu erreichen. Denn als ich geargwöhnt hatte, alle könnten sich abgesprochen haben, hatte ich natürlich Absprachen im Sinn, wie ich sie von früher kannte. Die hier herrschenden Absprachen waren aber ganz anders geartet: Man reagierte auf Worte und Handlungen wohlüberlegt, doch lagen die Überlegungen schon länger zurück, sodass ein beinahe mechanisches, gedankenloses Reagieren in Verbindung mit der zuvor geschaffenen Grundlage, oder besser gesagt: auf sie gestützt, bei diesen Menschen klare, spritzige, unbegreifliche und auch geistreiche Antworten hervorbrachte. Absprachen bedeuteten hier nichts Schlechtes.

Als es Abend geworden war und alle Unsui sich zurückgezogen hatten, trat ich auf die Veranda heraus. Ich sah in den Himmel, nur um mich zu vergewissern, dass meine Wolke existierte. Der Himmel war vollkommen klar, sodass ich mich einfach darauf verlassen musste, dass sie dort war. Als ich genauer hinschaute, sah ich – nichts, keinen einzigen Stern. Nie zuvor hatte ich in einen klaren Himmel geschaut, der ohne Sterne war. Ich war noch nicht einmal sicher, ob das möglich war. Ich wollte auf sie warten. Sie hatten sich verspätet.

Ich breitete meinen Futon aus und nahm die Zazen-Haltung ein, ohne die Absicht zu haben, es zu üben; es war bequem so. Ich wurde ruhig und wartete ohne Ungeduld. Mein Blick endete irgendwo in der Finsternis. Hätte ich in diesem Moment nachdenken können, wäre ich sicher gewesen, dass ich schlafe. Den Körper spürte ich nicht mehr, ohne dass er taub geworden wäre. Ich befand mich jetzt, noch immer sitzend, ein Stück über dem Futon. Vor mir erschienen nun alle Sterne des Himmels. Und die Wolke. Dann entschwanden sie. Ich auch.


Nach der Morgenrezitation der Sutras saßen einige von uns hintereinander auf der Tatami vor dem Zimmer des Rōshi und warteten auf das Gespräch mit dem Meister. Ich war als zweiter an der Reihe. Die Antwort des Unsui auf die Frage des Rōshi hörte ich nicht. Er schien nicht zufrieden zu sein, denn der Schüler bekam eine heftige Ohrfeige.

Zwischen dem Meister und mir stand nur noch die Kansho, die Standglocke, mit der mein Gespräch mit ihm angekündigt wurde. Ich schlug die Glocke leicht an, wandte mich dem Rōshi zu und verneigte mich sitzend, die Hände im Schoß. Er erwiderte meine Verbeugung.

»Cao, ich habe dir gestern nicht gesagt, dass Shashu als Grundhaltung der Hände beim Gehen empfohlen wird. Das heißt, dass deine Hände verschränkt sein müssen.«

Ich nickte. Er fuhr fort.

»Ich sehe, dass du die meiste Zeit damit zubringst, Holz für die Küche zu spalten und Wasser fürs Baden warm zu machen. Machst du das jetzt besser?«

Eine solche Frage hatte ich nicht erwartet. Ich gab zur Antwort, was ich bemerkt hatte.

»Ich habe gestern diese Aufgabe zum ersten Mal mit mehr Ruhe verrichtet.«

»Du musst wissen, Cao, dass Nachdenken nie zum Verstehen führt. Du hast dich gefragt, warum du so viel körperliche Arbeit verrichtest. Ich werde dir zum Teil darauf antworten. Nachdenken zerstört das Gleichgewicht, Üben hingegen fügt die Bestandteile der Persönlichkeit über den Körper zu einem Ganzen.«

Der Rōshi verneigte sich leicht. Das Gespräch war zu Ende.

Ich begann, meine eigenen Bewegungen und die der anderen mit mehr Aufmerksamkeit und weniger Erklärungsversuchen zu verfolgen, um ihren Sinn zu ergründen. Ich beobachtete, wie ich das Buch mit den Sutras hielt, welchen Klang ich erzeugte, wenn ich die Handglocke beim Rezitieren unterschiedlich schwang, in welchen Zeitabständen der für das Rezitieren im Hondō zuständige Kokushi mit dem Stock den Takt angab oder sein Gehilfe, der Zenji, den Holzfisch Mokugyo schlug, dessen Klang sanft den Rhythmus diktierte. Die Essensschalen nahmen unter den Fingern eine andere Gestalt an, und die Augen sahen etwas Höheres in den Scheiten, die ich weiterhin für den fernen Winter vorbereitete.

Das Buch vom Bambus

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