Читать книгу Das Buch vom Bambus - Vladislav Bajac - Страница 6

ERSTER TEIL I

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Obuto Nissan zog sich an und machte sich zur morgendlichen Besichtigung der Haine seines Herrn auf. Gewöhnt an die Einsamkeit, in der er so viele Jahre lebte, pflegte er beim Laufen Selbstgespräche zu führen. Seinen Entschluss, sich nicht unter die Leute zu mischen, wenn es nicht nötig war, hatte er wenige Monate nach der Hochzeit, am Todestag seiner Auserwählten gefasst. Das ganze Jahr über wütete in der Gegend die Pest und alles, was Nissan zu begreifen vermochte, war die Unendlichkeit menschlichen Leids. Als er schließlich einsah, dass das Schicksal ihn nicht um sein Leben bringen würde, meldete er sich bei Daimyō Bonzon als Hüter der entlegensten Bambushaine auf dem Berg Shito. Von da an stieg Nissan volle dreißig Jahre nicht vom Berg herab. Die einzige Berührung mit Menschen kam zustande, wenn einmal im Verlauf mehrerer Monate einer der Zen-Priester des Tempels Dabu-ji auf seiner Pilgerschaft in seine Hütte einkehrte um sich auszuruhen.

Sein Lohn wurde ihm einmal im Jahr von einem der Aufseher des Herrschers, dem Samurai Ishi gebracht, zusammen mit Nachrichten aus dem Kaiserreich. Mit ihm tauchten zur Bambusernte gewöhnlich auch Arbeiter auf, die nach verrichteter Arbeit zu ihren entlegenen Häusern zurückkehrten, ohne mit Nissan auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben. Nissan verbrachte seine Zeit in Gesellschaft des Riesengrases, dessen Seele er gar zu kennen glaubte.

An diesem Morgen erwartete ihn eine besondere Aufgabe: Er nahm Werkzeug mit, um das größte Bambusrohr der Plantage zu schneiden, und zwar auf Anweisung des Aufsehers Ishi. Der hohe Bambus schien sich zu sträuben und Nissan brachte all seine Kraft auf, um ihm beizukommen. Einige Stunden später lag der Bambus zu seinen Füßen. Müde ließ sich Nissan auf den Stamm nieder, starrte versunken auf die endlosen Reihen des Heeres, dessen Anführer er war. Er hatte die Angewohnheit, sich oft mit seinen Soldaten zu unterhalten. Diesmal antwortete ihm auf eine seiner Fragen ein undeutlicher Ton aus dem Stamm, auf dem er saß. Nissan erhob sich langsam, neigte seinen Kopf in Richtung Ton und wiederholte die Frage. Als er aus dem Innern des Stammes ein deutliches Klopfen vernahm, sprang er vor Schreck zur Seite.

»Da drinnen muss ein Tier sein. Aber wie ist es hineingekommen?«, fragte sich Nissan laut.

»Das werde ich dir nicht sagen, aber hilf mir hier heraus«, antwortete ihm eine schrille, deutliche Stimme.

Nissan sprang auf und versteckte sich schnell hinter dem erstbesten größeren Bambus. Von dort aus starrte er auf das, was sich vor seinen Augen abspielte.

Aus dem Bambusrohr krabbelte ein Kind, richtete sich auf und streckte seine Arme nach ihm aus. Nissan machte große Augen; er konnte einfach nicht glauben, was er da sah. Er rührte sich nicht von der Stelle. Das kleine Mädchen sprach:

»Ich fürchte mich nicht vor dir. Warum kommst du nicht zu mir?«

Nissan sammelte sich und eilte zu ihm hin. Noch immer gebührlich Abstand haltend, fragte er:

»Wer bist du?«

»Ich heiße Kagujahime. Ich habe niemanden und bin gekommen, um bei dir zu leben, falls du mich aufnimmst.«

»Aber woher bist du gekommen?«, fragte Nissan, um noch ein wenig Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

»Na, du hast es doch gesehen. Aus dem Bambus.«

»Hmm. Du wirst mir das später erzählen.« Er fasste einen Entschluss. »Ich nehme dich als meine Tochter auf.« Danach beendete er wortlos die begonnene Arbeit, während Kagujahime ihn schweigend beobachtete.

Gemeinsam machten sie sich zu Nissans Hütte auf. Die Kleine nahm dabei seine Hand. Er beobachtete sie heimlich aus dem Augenwinkel und schritt beinahe stolz aus. Bis jetzt hatte niemand Schutz bei ihm gesucht, geschweige denn seine Hand gedrückt!


Kagujahime war erst zehn Jahre alt, doch sie verrichtete alle häuslichen Arbeiten flink und geschickt und machte Nissans Hütte zu einem echten Heim. Auf einmal hatte alles seinen Platz, jeder Winkel strahlte Ruhe aus. Nissan war überglücklich, hatte aber Sorge, nicht imstande zu sein, ihr seine Dankbarkeit zu zeigen. Doch die Kleine bemerkte auch das geringste Zeichen seiner Aufmerksamkeit und gab ihm das deutlich zu verstehen.

Immer wenn die Zen-Mönche bei Nissan einkehrten, zog sie sich, nachdem sie diese bedient hatte, sittsam in einen Winkel des Raums zurück und reagierte lediglich auf Nissans Geheiß. Nach und nach, angespornt von ihrer Zurückgezogenheit, bezogen sie die Kleine ins Gespräch ein. Es stellte sich heraus, dass sie sehr flink im Denken und sehr gebildet war.

Ein Jahr später vollzog sich auch eine erste merkliche Veränderung in Nissans Verhältnis zu den Menschen oder besser gesagt: der Menschen ihm gegenüber. Der Samurai Ishi war nicht der Einzige, der sich für die kleine Kagujahime interessierte. Die Plantagenarbeiter erfanden nach und nach verschiedene Ausreden, um irgendwie zur Hütte zu kommen oder diese gar zu betreten, und alles nur, um die Kleine zu sehen. Nissan fragte sich, was sie an ihr so interessant fanden. Er sah sie als Kind wie jedes andere auch. Und erst, als er zufällig einem Gespräch zweier Tagelöhner lauschte, begriff er, dass sie von der anmutigen Schönheit der Kleinen sprachen. An sie gewöhnt, hatte er sie nicht auf diese Weise betrachtet.

In den folgenden Jahren ebbte die Neugier der Leute nicht ab. Im Gegenteil, immer mehr Reisende kehrten in ihrem Heim ein, wiederum mit Hilfe verschiedener Ausflüchte. Egal, wer kam, er musste einen starken Grund haben, zu ihnen heraufzusteigen, denn ihre Hütte lag keineswegs an irgendeinem Weg. Nissan hatte sie an einem Ort erbaut, der den Leuten keine Einkehr bieten sollte. Von neuen Durchreisenden hörte er, dass die ganze Provinz um Kagujahime weiß und sie vom Volk Prinzessin genannt wird. Diese Nachricht stimmte Nissan traurig; selbst wenn sie ihre Zukunft nicht erahnen ließ, war das recht beunruhigend für das gemeinsame Glück. Er war nicht egoistisch, aber die immer häufigeren Besuche unbekannter Leute störten ihn zusehends. Kagujahime verstand ihn und ließ ihn wissen, dass sie sich jeder seiner Entscheidung beugen werde. Nissan entschied schnell und verkündete: Bis zum zwanzigsten Lebensjahr der Kleinen werde er niemanden mehr, ausgenommen die Zen-Mönche und Bonzons Aufseher, in seinem Heim aufnehmen. Das erlaubte ihm das Gesetz, und es half: Alle unnötigen Besuche blieben aus.

Fortan lebten sie abgeschieden wie in früheren Zeiten. Nissan widmete sich der Tochter und der Arbeit und verdrängte dabei die unangenehmen Gedanken über den Ablauf der Frist für seinen Entschluss. Die Zeit nahm auch weiterhin unsichtbar ihren Lauf und verschwand nur scheinbar von der Oberfläche des Geschehens.


Es waren fast zehn Jahre vergangen und Kagujahime hatte nicht ein einziges Mal den Wunsch nach Veränderung des ruhigen Lebens zu zweit geäußert. Nissan wusste nicht, ob sie sich ihrer außerordentlichen Schönheit bewusst war, die jetzt auch er wahrnahm.

Es rückte der Zeitpunkt heran, da das Besuchsverbot für ihr Heim ablief. Angst vor dem baldigen Verlust der Tochter beschlich ihn. Er schob das auf sein bereits vorgerücktes Alter. Wenn es ihm auch gelang, die Zweifel zu zerstreuen, die Vorahnung von bevorstehenden stürmischen Ereignissen konnte er nicht vertreiben.

Alles begann mit dem Auftauchen eines Gesandten von Prinz Godoh, der dessen bevorstehenden Besuch bei Nissan ankündigte. Nissans Unruhe wurde durch das unveränderte Verhalten der Tochter gemildert. Dennoch sah er dem Prinzenbesuch mit Anspannung entgegen. Und der, verzaubert von der Schönheit Kagujahimes, nannte sie Prinzessin. Kagujahime ließ sich nicht beirren. Auf des Prinzen Angebot, seine Frau zu werden, antwortete sie ihm, dass sie akzeptieren werde (worauf Nissan sich vor Schmerz wand), aber unter einer Bedingung: Er müsse ihr beim nächsten Vollmond sagen, wie viele Sterne es am Himmel gibt. Der Prinz zeigte sich überrascht, versprach jedoch, einen Versuch zu machen.

Nach mehreren Wochen kam der Gesandte um mitzuteilen, dass der Prinz nicht erfolgreich war, weil die Nächte viel zu kurz waren, um alle Sterne zählen zu können. Obwohl der Prinz seine Garde zur Mithilfe beim Zählen einsetzte, vermochte er nicht, den Himmel in gleichmäßige Segmente zu teilen, damit unter den Zählenden Klarheit darüber herrschte, von wo aus und bis wohin sie ihre Sterne zählen sollten.

Kagujahime lächelte nur geheimnisvoll und übermittelte dem Prinzen einen Gruß. Nissan zitterte vor Aufregung, als ihm klar wurde, dass er nicht mehr wegen künftiger Freier in Sorge um sie sein musste. In den darauffolgenden Jahren wimmelte es vor Nissans Haus nur so vor Verehrern Kagujahimes, aber kein einziger schaffte es, die verschiedenen Aufgaben zu lösen, die die Prinzessin stellte. Sie nannten sie nunmehr »die Uneinnehmbare«. Diese ihre neue Eigenschaft stachelte die größten Krieger des Kaiserreichs an, vor ihr hartnäckig, doch ohne Erfolg all ihre größten Vorzüge zur Schau zu stellen. Doch Kagujahime blieb auch weiterhin eine uneinnehmbare Festung und gab ihre Hand niemandem.

Und dann kündigte auch der Shogun Osson der Jüngere sein Kommen an. Der wiederkehrende Kummer fesselte Nissan ans Bett. In seinem bereits hohen Alter konnte er seine Liebe zu Kagujahime schwer zügeln. Er wollte ihr nicht zeigen, dass ihr mögliches Fortgehen der Grund seines Unglücks war. Sie versicherte ihm, dass ihr abschlägiges Verhalten gegenüber den Freiern nicht von seiner Ergebenheit ihr gegenüber verursacht sei. Das beruhigte ihn ein wenig, kurierte ihn aber nicht.

Der Shogun traf mit großem Gefolge ein. Nachdem er in der Nähe von Nissans Hütte sein Lager errichtet hatte, ließ er wissen, dass er mit einem festen Entschluss gekommen war. Kagujahime jedoch verhielt sich zu ihm wie zu den übrigen Freiern. Der Shogun hatte Mühe, die Erniedrigung zu verkraften, aber er ertrug sie. Er ließ sich auf die erteilte Aufgabe ein: Es galt, alle eintausendzweihundert Bambusarten Japans, Chinas und Indiens zu benennen. Die Hälfte davon wuchs in seinem Land, aber es gab keinen Menschen, der sie alle kannte, außer Obuto Nissan selbst. Ihn konnte er nicht um Hilfe bitten. Der Shogun sandte Leute aus, verschickte Bittbriefe und Befehle überall im eigenen Land und auch in andere Länder; er wartete ein ganzes Jahr auf Antworten, ohne in die Residenzstadt zurückzukehren. Obwohl er versuchte, das Land von diesem Ort aus zu regieren, vernachlässigte er dennoch zahlreiche Staatsgeschäfte und brachte nach Einschätzung anderer das Land in eine gefährlich unsichere Lage. Den Schmerz unglücklicher Liebe linderte er, indem er in seinem zeitweiligen Heim zahlreiche Kurtisanen empfing.

Die endgültige Liste des Shoguns reichte Kagujahime nicht. Am Boden zerstört, ersuchte er vor seiner Rückkehr in die Residenzstadt um ein Gespräch unter vier Augen mit dem Mädchen. Aller Stolz war von ihm gewichen und er bekannte ihr seine Liebe wie auch seinen Entschluss, bis ans Ende seines Lebens keine einzige andere Frau zu heiraten. Kagujahime war von einer solchen Ergebenheit tief berührt. Sie beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen, die sie vor allen verborgen hatte.

»Beim nächsten Vollmond werden meine Wächter vom Mond herabsteigen und mich zurückholen – das ist nämlich mein eigentliches Zuhause.«


Der Shogun reiste ab, schickte aber schleunigst zweitausend Soldaten, die von den ergebensten Samurai angeführt wurden, um Kagujahimes Fortgehen zu verhindern. Vergebens. Bei Vollmond verschwand Kagujahime einfach so. Obuto Nissan verließ sein Bett nicht mehr; der Bote des Shoguns kehrte mit einem von Kagujahime für den Shogun hinterlassenen Brief in die Residenzstadt zurück.

Keiner der Zeugen aus jener Zeit erfuhr den Inhalt dieses Briefes. Der Shogun Osson der Jüngere befahl, bevor er von den Heeren der aufrührerischen Machthaber geschlagen wurde, die feierliche Verbrennung des Briefes auf dem Gipfel des höchsten Berges im Land. So geschah es auch. Nach der erfolglosen Verteidigung der Hauptstadt stieg der Rauch des Briefes weiterhin aus dem Krater des Fuji auf, der auch Unsterblicher Berg genannt wird.

Das Buch vom Bambus

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