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XV

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Zum ersten Mal bat mich Daishi Tetsujiro zu einem Vortrag des Rōshi. Außer dem Sutrabuch hatte ich jetzt auch ein Bündel Anekdoten aus dem Leben verschiedener Zen-Meister bei mir. Wir saßen in mehreren Reihen, jeder ein Manuskript des Sutras vor sich, das heute durchgenommen werden sollte. Nach dem Lesen des Sutras erklärte der Meister dessen Bedeutung in freier Interpretation, bestand jedoch keineswegs darauf, dass seine Auslegung als die einzig mögliche anzusehen sei. Vielmehr verlangte er von uns noch tiefere Erkenntnisse als die seinen. Mir gefiel diese Sicht der alten Texte, die – so der Meister – ungeachtet ihrer starren Rolle zum Zeitpunkt des Entstehens neue Deutungen zuließen.

Ich hatte den Eindruck, und dieser Eindruck wandelte sich mit der Zeit zu einer Überzeugung, dass in Dabu-ji jegliches Tun die Vorarbeit für etwas war, das erst noch geschehen würde. Und wenn es geschah, würde niemand außer demjenigen, dem es widerfuhr, wissen, was das eigentlich ist. In diesem Augenblick würde alles bisher Getane aufhören zu existieren und seinen Sinn verlieren, und man würde es nur als ein Werkzeug betrachten müssen, mit dem man etwas erreicht hatte, das nur in einem losen Zusammenhang damit stand. Ich hatte vor, dies bald dem Meister mitzuteilen. Nicht, um ihm meine Fortschritte zu beweisen (vorausgesetzt, ich hatte recht), noch nicht einmal, um mich zu vergewissern, ob ich auf dem rechten Weg war, sondern allein deshalb, weil ich einen Eindruck wie diesen aus mir herauslassen musste, selbst wenn ich mich damit der Lächerlichkeit preisgab.

Am Ende des Vortrags gab der Rōshi noch eine praktische Mitteilung bekannt.

»Wie angekündigt wird in einigen Tagen ein Gesandter des Shoguns das Kloster besuchen. Der Grund seines Besuchs ist uns nicht mitgeteilt worden. Wahrscheinlich soll er uns über neue Entscheidungen und Veränderungen im Staat unterrichten. Ich habe beschlossen, ihn zu empfangen. Da es in jüngster Zeit viele neue Herrscher und Gesetze gegeben hat, bezweifle ich, dass uns der Bote des neuen Shoguns irgendetwas Neues zu sagen haben wird. Beobachter sind immer klüger als die Beteiligten. Der Beteiligte erlebt ein Ereignis zum ersten Mal, sodass er meint, dies müsse auch auf alle anderen zutreffen. Nun, wir werden wie auch bisher Wohlwollen zeigen.«

Nachrichten, die das Leben außerhalb des Klosters betrafen, erreichten die Brüder auf zwei Wegen: über die Mönche, die Almosen sammelten, oder indem der Rōshi verkündete, was er für notwendig erachtete. Das hieß aber nicht, dass die Oberen des Klosters nicht über alles Bescheid gewusst hätten, was im Lande vor sich ging. Im Gegenteil. Tatsächlich sahen sie nur vieles davon als unwesentlich für das Dasein in Dabu-ji an. Wie andere Klöster gab es auch Dabu-ji und seinen starken Einfluss auf das Volk lange genug, als dass man sich bei Veränderungen im Staate zu sehr um sein Schicksal hätte sorgen müssen. Manche Herrscher waren dem Zen-Orden mehr, manche weniger zugeneigt, was im Großen und Ganzen die Stellung eines solchen Klosters nicht allzu sehr verändern konnte. Das war auch mir bekannt.

Ryokai sagte zu mir ein wenig verwundert: »Der Meister will, dass du in sein Zimmer kommst.«

»Aber ich bin doch gar nicht mit den Köans an der Reihe!«

»Er will dich privat sehen.«

Der Rōshi rief selten jemanden auf diese Art zu sich. Oder wusste das nur keiner außer dem Betroffenen?

Nachdem ich meine Sandalen ausgezogen hatte, schlug ich mit dem Stab den Metallgong, um mich bemerkbar zu machen. Das Umpan zeigte dem Rōshi angeblich dabei den Grad der Erleuchtung an, den der sich ankündigende Schüler erreicht hatte. Das war uns zwar allen bekannt, doch waren wir nicht imstande, auf diesen besonderen Klang Einfluss zu nehmen, da wir ja nicht wussten, welche Klänge gut und welche schlecht waren. Diesmal war das für mich bedeutungslos. Der Meister ließ es mich indirekt wissen.

»Cao, wenn der Gast kommt, von dem ich gesprochen habe, halten wir ein Cha-no-yu ab. Dich habe ich ausgesucht, damit du uns bedienst und Gesellschaft leistest. Ich möchte, dass der Tee so ist, wie er sein soll, und du auch.«

Mit einer Verbeugung zeigte der Rōshi das Ende meines Besuchs an. Die Entscheidung duldete keinen Widerspruch. Abgesehen davon hatte sie eine Ehre für mich zu sein.

Ryokai brach in Freude aus, als ich mich seiner Hartnäckigkeit beugte und ihm erzählte, was mir der Meister aufgetragen hatte.

»Weißt du, Cao, seit ich hier bin, ist mir noch nicht die Ehre einer solchen Einladung zuteil geworden. Jetzt wirst auch du auf deine Art die erste offene Bestätigung erfahren, dass du nicht umsonst hier bist.«

»Immer langsam, Ryokai. Warte erst mal ab, bis alles vorbei ist, dann sehen wir, ob du recht hast.«


Der angekündigte Besuch ließ nicht lange auf sich warten. Schon wenige Tage später wurde der Gesandte, dessen Eskorte außerhalb der Klostermauern geblieben war, ins Empfangszimmer geführt. Vor dem Zimmer legte er die mitgebrachten Geschenke ab: mehrere Rollen Seide, Bögen geschöpften Papiers, Tuschen, ein Dutzend Paar Holzsandalen und eine große Schreibtafel mit Ständer.

Dem Brauch entsprechend wurde der Gast allein gelassen, um auf den Rōshi zu warten.

Ich setzte im Nachbarzimmer über glühender Kohle das Wasser auf und rief mir die kurze Anleitung in Erinnerung, die vom Begründer der Teezeremonie Sen no Rikyū stammte. In ihr gab es keine unbekannten Eigenschaften, unverständlichen Botschaften oder höheren Kräfte. Das Wasser musste kräftig sieden und über die zerkleinerten Teeblätter gegossen werden, wobei mit dem Geschmack versucht werden sollte, im Winter ein wärmendes und im Sommer ein kühlendes Gefühl zu erzeugen. Als ich die Schalen und den Teekessel bereitgestellt hatte, läutete ich mit dem Holzschwengel die Glocke, um den Beginn der Zeremonie und mein Eintreten anzukündigen.

Auf der Tatami mir gegenüber saß der Meister in würdevoller Ruhe und zeigte keinerlei Regung, als ich erschien. Ihm gegenüber saß ein kräftiger Rücken in einem farbenprächtigen Kimono. Das Rückgrat bedeckte ein langer, ordentlich in glänzendes Band gewickelter Zopf. Ich kniete mich zwischen die beiden und zeigte mit einer Verbeugung an, dass es nun an der Zeit war, sich in Stille und Dankbarkeit dem Tee zuzuwenden. Sie erwiderten meine Verbeugung. Ich drehte mich dem Rōshi zu und goss Tee in seine Schale. Unsere Blicke trafen sich. Ich zuckte zusammen, denn sein Gesicht verriet kaum merklich Erwartung und bevorstehende Missbilligung. Ich senkte den Blick und wandte mich dem Gast zu. Während ich ihm Tee einschenkte, sah ich ihm ins Gesicht. Er blickte mich nicht an, sodass ich meine Überraschung angesichts der pausbäckigen Wangen, des ausgeprägten Doppelkinns und der kleinen runden Augen offen zeigen konnte. Meine Hand zitterte kein bisschen. Ich kehrte an meinen Platz zurück und trank wortlos die Flüssigkeit. Den Meister sah ich erst wieder an, als ich mit einer neuerlichen Verbeugung den Raum verließ. Sein Gesicht war so ausdruckslos, dass man es noch nicht einmal eine Maske hätte nennen können.

Das Zimmer betrat ich an diesem Tag – der Gesandte war da schon längst auf dem Rückweg in die Residenzstadt – noch einmal, um das Geschirr zum Abwaschen zu holen. Ich stellte es zum Trocknen auf einen Ständer, wo es bis zu seiner nächsten feierlichen Begegnung mit dem Mund eines wichtigen Besuchers aufbewahrt werden sollte. Interessant, dachte ich, dass es noch nie vom Mund einer Frau berührt worden ist.

Über ein halbes Jahr hatte es in meinen Gedanken keinen Platz für eine Frau gegeben. Was hatte denn das schon wieder zu bedeuten? Der Meister schien auch auf diese Frage eine Antwort zu haben. Als ich am nächsten Tag zu ihm gerufen wurde und ihm erneut gegenübersaß, sagte er:

»Der Gesandte des Shoguns heißt Meno. Mit ihm werden wir fortan in Kontakt stehen. Er ist zum Vermittler zwischen Kloster und Herrscher bestimmt worden. Ich denke, dass der neue Shogun etwas länger als sein Vorgänger herrschen wird, weil er, wie ich Menos Worten entnommen habe, sehr durchschnittlich begabt, also sehr vorsichtig ist. Er wagt es nicht, allzu spürbare und jähe Veränderungen einzuführen, was ihn wahrscheinlich an der Macht halten wird. Außergewöhnliche Menschen waren nie als Herrscher genehm. Um Shogun zu sein, bedarf es anderer Eigenschaften. Was dich anbelangt, Cao, so hast du deine Sache gut gemacht, außer in einem Moment. Für dich war dieser Augenblick eine Überraschung, für mich nicht. Aber mach dir nichts daraus. In Zukunft kannst du mit den anderen Brüdern Almosen sammeln gehen.«

Ich hatte ihn also doch zufriedengestellt. Jetzt konnte ich Ryokais Glückwünsche entgegennehmen und mich unter seinesgleichen willkommen sehen.

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