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Duisburg Neumühl, 20. April

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Der Verkehr auf der Bundesstraße 8 lief zunehmend flüssiger. Der morgendliche Berufsverkehr hatte inzwischen seinen Höhepunkt überschritten. Knoop fühlte sich wohl. Er hatte van Gelderen einen Ermittlungserfolg melden können. Auf seinem Arbeitstisch gab es keine neuen Arbeitsaufträge und er hatte gut gefrühstückt. Bei der Besprechung der Gruppe >Makeup<, so hatte man die Ermittlungsgruppe genannt, war man noch nicht weiter gekommen. Man hatte das Kapitalverbrechen nach der angemalten Toten so getauft, weil ja das Makeup das Bestimmende an der Leiche war. Knoops teilte kurz mit, bei dem Täter handelte es sich mit Sicherheit um einen einzelnen Mann. Das einzig Sensationelle wurde mit einem Gemurmel quittiert. Kein Wort wurde mehr über die Annahme von van Gelderen und Krüger verloren. Diese waren einfach davon ausgegangen, dass nur mehrere Personen in der Lage waren, eine solche Last über die Mauern zu hieven. Das war scheinbar nicht so gewesen und Knoop hatte gezeigt, wie auch eine Person eine solche Herausforderung bewältigen konnte. Neue Arbeiten waren ihm im Moment nicht zugeteilt worden, weil erst das Ergebnis der anderen Arbeitsgruppen abgewartet werden sollte. Aber das war Krügers Aufgabe und nicht seine. Ein beruhigendes Gefühl. So entschloss er sich, ohne Rückmeldung nach Hause zu fahren, um ein paar Stunden zu schlafen. Er kannte da einen Döner Grill, der um diese frühe Zeit schon geöffnet hatte. Der >SuWa-Grill< war bei denjenigen Leuten bekannt, die zur Arbeit fuhren und noch nicht gefrühstückt hatten, oder den anderen, die von der Arbeit kommend, hier ein Frühstück einnahmen, bevor sie ins Bett krochen. Weil er schon mehrere Stunden auf den Beinen war, hatte er das Bedürfnis, schon Mittagessen zu können, obwohl es erst kurz vor zehn Uhr war. Kaffee und Döner, so was war mal eine andere Erfahrung.

Nun war er auf dem Weg nach Hause. Der Magen war gefüllt, die Stimmung bestens. Auf einmal kam ihm der Gedanke, doch noch einmal zum Gundolfs Hof zu fahren, wo der Babymord passiert war. Gundolfs Hof war einmal konzipiert und gebaut worden, um Arbeitern stadtnah eine preiswerte Unterkunft anzubieten. So waren ja auch die damaligen Bergarbeiterhäuser entstanden – preiswert und nah. Nur gab es statt der Einzelhäuser nun Wohnsilos. Warum sollte dies auf höherem Niveau nicht auch klappen. Die Realität entwickelte sich aber anders als es die Planung vorsah. Die Arbeiter kamen nicht. Wer wollte schon in solchen Massenschornsteinen wohnen. So blieben die Wohnungen leer und verfielen nach und nach. Um halbwegs das verbaute Kapital wieder hereinzubekommen, senkte man die Mieten. Das war der nächste Schritt, der in den Abgrund führte. Denn auch danach zogen in großen Mengen keine Arbeiter hier ein, sondern Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Dies ruinierte den Namen dieser Siedlung gänzlich. Kein normaler Mensch suchte hier mehr eine Wohnung. Die wenigen Arbeiter, die hier wohnten, hatten fluchtartig die Siedlung verlassen.

Die alleinerziehende Irene Gottschlag hatte gegenwärtig mit ihrer Tochter hier eine Unterkunft gefunden, bezahlt von Sozialamt der Stadt Duisburg. Diese Tochter war ums Leben gekommen. Erstickt, wie der Gerichtsmediziner obduziert hatte. Zur Tatzeit wollte Gottschlag im nahegelegenen Konsummarkt einkaufen gewesen sein. Die Verkäuferinnen bestätigten zwar das Alibi, waren sich aber über den genauen Tag uneins, weil Gottschlag dort häufiger einkaufte. An manchen Tagen erschien sie, aber an anderen nicht.

Knoop verließ die Stadtautobahn, die ihn eigentlich heimwärts führen sollte. Er wollte noch einmal mit Irene Gottschlag den Ablauf zur Tatzeit durchkauen. Das Alibi ihres von ihr getrennt lebenden Mannes hatte sich als wasserdicht herausgestellt. Mehrere Kollegen und sein Schichtmeister konnten bezeugen, Alfred war zur Tatzeit am Arbeitsplatz gewesen. Auch die Stempeluhr und die Arbeitsunterlagen bewiesen dies. Dreh- und Angelpunkt dieser Tat musste bei der Mutter gesucht werden. Er wollte noch einmal versuchen, diesmal peinlich genauer, einen Zeitablauf der Geschehnisse aufzustellen.

Die Siedlung Gundolfs Hof bestand aus Wohnblöcken, die wie riesige Quader um einen ausgedehnten Innenplatz hingesetzt waren. Im Herzstück dieser Fläche war ein Parkhaus errichtet worden, obwohl hier wahrlich kein Mangel an Parkraum vorhanden war. Da gab es nur eine riesige Rasenfläche, die kostspielig immer gemäht werden musste. An dieser Innenseite befanden sich auch die zahlreichen Eingänge in die jeweiligen Blocks. Vor diesen Zugängen gab es keine Parkplätze. Autos mussten in dem Parkhaus abgestellt werden. Es war eine im Grunde hirnrissige Idee, weil die Bewohner so gezwungen waren, weite Wege zwischen ihrem geparkten Fahrzeug und dem Blockeingang zurückzulegen. Für Knopp hätte dieses eigentlich nicht gegolten, aber er wollte jedes Aufsehen vermeiden. Er parkte seinen Audi A4 auf dem Oberdeck mit Blickrichtung auf den Hauseingang 37, wo Gottschlag wohnte. Als er über die Betonbrüstung blickte, sah er Frau Gottschlag, wie sie überaus eilfertig über die Grünfläche hastete. Er erkannte die kleingeratene pummelige Frau sofort. Zwar waren die brünetten Haare mit einer Mütze verdeckt, aber was darunter vorlugte war mit eingefärbten blonden Strähnchen durchsetzt. So etwas traf sich gut, dann könnte er sich den langen Weg in die dritte Etage sparen. Laut und vernehmlich rief er ihren Namen. Aber Irene Gottschlag reagierte nicht. Unbeirrt stürmte sie voran. Nach dem dritten Zuruf glaubte er, einen verschämten Blick nach rechts und links zu sehen. Er musste sich getäuscht haben. Statt dessen erhöhte die Frau ihre Gangart noch. Knoop eilte den Zugang des Parkhauses hinunter. Als er auf der Rasenfläche vor Hauseingang 37 stand, war Irene verschwunden.

Als Knoop die Eingangstüre öffnete, zeigten die Graffitis die Sichtweise der Bewohner von anderen Menschen. Frauennamen wurden mit dem Zusatz Schlampe versehen, die angeblichlich Schuldigen an den Miseren der Gegenwart, so die Ansicht der Sprayer, wurden diffamiert. Ein großes Problem schien man mit der Sexualität zu haben. Es wurde wohl kein Begriff ausgelassen, der hier nicht Anwendung finden konnte. Jeder Eingang war mit einem Aufzug ausgestattet. Knoop war nicht überrascht, auch dieses Ding funktionierte nicht. Vermutlich wurden diese überhaupt nicht mehr repariert, weil sie sowieso ein paar Tage später erneut lahmgelegt würden. Er musste also die Treppe nehmen. Zwei Stufen auf einmal nehmend eilte er nach oben. Auf die nicht enden wollenden Spraywerke achtete er schon gar nicht mehr. Er war stolz auf seine Kondition. Er erreichte die dritte Etage, ohne in Atemnot zu geraten. Die einzelnen Haustüren erreichte man über lange Außenbalkone, die ebenfalls zum Inneren des Komplexes wiesen. Das Klingeln an Gottschlags Türe blieb ohne Resonanz. Er glaubte schon an einen technischen Defekt. Doch als er beim erneuten Klingeln das Ohr an das Türblatt legte, hörte er im Innern einen Gong. War Gottschlag noch irgendwo anders hingegangen? Zur Nachbarin oder einem Geliebten? Er wollte gerade sein Notizbuch herausholen, um eine Nachricht zu verfassen, als sich am hinteren Ende eine Wohnungstüre öffnete. Eine Frau mit leeren Einkaufstaschen und geschlossenem Mantel kam auf ihn zu. Misstrauisch wurde er begutachtet.

„Entschuldigen Sie. Ich möchte zu Frau Gottschlag. Ist sie nicht Daheim? Auf das Klingeln antwortet sie nicht.“

Die abwehrende Mine der Frau änderte sich nicht. Sie murmelte ein: „Weiß nicht.“ Und eilte vorbei. Dabei kontrollierte sie mit den Händen den Sitz ihrer Mütze. Kurz vor Erreichen der Türe zum Treppenschacht schaute sie auf ihre Uhr, dann verharrte sie. Sie drehte sich zu Knoop um. „Um diese Zeit schaut sie immer die Sendung >Verbotene Liebschaften< Da will sie nicht gestört werden.“

Knoop hatte keine Lust, wegen so einer schwachsinnigen Fernsehsoap zu warten oder gar später wiederzukommen. Nach zweimaligem Klingeln schlug er heftig gegen das Türblatt. Nichts tat sich im Innern. Er verstärkte seine Schläge. Ein Gesicht beugte sich über das Geländer über ihm und forderte Ruhe ein.

„Knoop, Polizei Duisburg. Frau Gottschlag, ich weiß, Sie sind zu Hause. Ich habe Sie gerade hereingehen sehen. Wenn Sie nicht aufmachen, dann vermute ich, Ihnen ist etwas geschehen. Der Hausmeister wird dann die Wohnungstüre öffnen.“ Zum Verdeutlichen seiner Absicht hämmerte er wieder gegen das Türblatt. Der Zugang öffnete sich einen Spalt. Sonst geschah nichts. Als Knoop gegen die Türe drückte, sah er in einen menschenleeren Flur. Wieder rief er den Namen der Eigentümerin. Keiner antwortete jedoch. Er vernahm nur die Geräusche eines Fernsehers, der im hinteren Teil der Wohnung lief.

Irene Gottschlag saß auf einem Stuhl vor einem Bildschirm, der wechselnde Männer- und Frauenszenen zeigte. Gebannt starrte sie auf die Szenenfolgen, die der Bildschirm feilbot. Knoops Anwesenheit nahm sie nicht wahr. Als dieser sie ansprach, reagierte sie nicht. Knoop legte seine Hand auf ihre Schulter. „Frau Gottschlag, ist etwas passiert?“

Unwillig schüttelte sie die Hand ab, ohne den Blick vom Fernsehapparat zu nehmen. Knoop stellte sich vor das Gerät, um es auszuschalten. Das Verhalten der Zuschauerin veränderte sich abrupt. Wie eine Furie stürzte sich die Frau auf ihn und stieß ihn mit Gebrüll beiseite. Knoop taumelte gegen einen Wohnzimmerschrank. Als er sich aufraffte, hatte sie sich wieder der Sendung zugewandt. Gebannt starrte sie auf die Mattscheibe, nur nichts versäumen, was dort ablief. Auf einmal durchfuhr ihn ein Gedankenblitz. Das war es. Dies war die Lösung. Um seinen Verdacht zu bestätigen, schaute er auf seine Armbanduhr. Genau! Um diese Uhrzeit musste der Säugling getötet worden sein. Irene Gottschlag war so auf diese Fortsetzung fixiert. Er selbst hatte erlebt, wozu sie fähig war, störte man sie beim Sehen dieser Endlosserie. In dieser Zeit würde sie niemals einkaufen gehen. Knoop vermutete, wie es wohl abgelaufen sein konnte. Vermutlich hatte das Geschrei des Kleinkindes sie beim Genießen >ihrer< Serie gestört. Wahrscheinlich hatte sie ein Kissen auf den Kopf des Kindes gelegt, um nicht durch das Geschrei gestört zu werden. Dabei hatte sie nicht bemerkt, wie das kleine Wesen keine Luft mehr zum Atmen bekam. Als die Fortsetzung beendet war und sie sich dem Kind wieder zuwandte, war es zu spät gewesen. In ihrer Not war Frau Gottschlag einkaufen gegangen, um von dem Unglück abzulenken.

Knoop griff zum Handy und orderte eine Streifenwagenbesatzung zu Gundolfs Hof Nr. 37. Mit seinen beabsichtigten Nickerchen würde es wohl nichts mehr werden.

Der Flug des Fasans

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