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Früher, 2010

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Die Schüler waren außer Rand und Band. Jeder hatte etwas zu sagen, jeder hatte einen Gesprächspartner, der zudem häufig wechselte. Man schubste sich gegenseitig, rannte dann davon. Nur der flinkste konnten diesen Attacken ausweichen und fügte durch sein Siegesgeschrei einen weiteren Lärmpegel hinzu. Der Sportlehrer ließ die Jungs eine Zeitlang gewähren. Sie mussten ihre unerschöpfliche Energie einfach loswerden. Wichtig war für ihn nur, diese Kanalisierung überschüssiger Kräfte musste gefahrfrei geschehen. Alle hatten diszipliniert bei den Leichtathletikübungen mitgemacht, hatten sich im Weitsprung, Sprint und Kugelstoßen geübt. Nun sollte zum Abschluss der Sportstunde ein kleines Fußballspiel stattfinden. Fußball war erfahrungsgemäß die beliebteste Sportart aller Schüler. Der Lehrer wusste aus Erfahrung, dies als Belohnung in seinem Unterricht einzusetzen. Dies war, wenn man so wollte, eine sportliche Investition in die nächste Sportstunde. So war er sich sicher, in der nächsten Woche würde die Motivation, wieder am Sportunterricht teilzunehmen, riesig sein. Tat er so etwas nicht, dann war die Rate derjenigen groß, die leider ihr Sportzeug vergessen hatten. Beim Fußballspielen durfte jeder mitmachen, allerdings nur im Sportdress. Die Jungs waren im Alter zwischen elf und zwölf Jahren, ein Alter, in dem man sie noch formen konnte.

Ein kurzer Pfiff mit der Trillerpfeife stellte automatisch die Ruhe her, die nur von einem Jubelschrei unterbrochen wurde, als er den Zweck der restlichen Sportstunde bekannt gab. Der Lehrer bestimmte zwei Schüler, von denen er wusste, sie beherrschten diese Sportart hervorragend. Ihnen gestattete er das Vorrecht, jeweils eine Mannschaft bilden zu dürfen. Ein Münzwurf bestimmte den ersten Entscheider. ER war der Dritte, der in eine Mannschaft gewählt wurde. Diese Rangfolge war eine Frage der Qualifikation der fußballerischen Fähigkeiten, wollte doch jede Mannschaft, um eine reelle Siegesschance zu haben, die fähigsten Mitschüler im Team haben. Die noch zur Wahl Stehenden traten vor Spannung auf der Stelle, konnten sie doch kaum erwarten, auserwählt zu werden. Die gewählten Klassenkameraden sprachen sich mit ihren Team ab, welche Aufgabenverteilung man vornehmen sollte, denn der Lehrer stand als Trainer hierbei nicht zur Verfügung.

Das Spiel dauerte nun fast eine Viertelstunde. Die Mannschaft, in der ER spielte, lag mit einem Treffer zurück. Sein Mannschaftsführer hatte den Fehler gemacht, nur gute Stürmer auszuwählen. An die Hintermannschaft hatte er nicht gedacht. So hatten halt die weniger guten Stürmer hinten zu verteidigen. Eine fatale Entscheidung, wie sich bald zeigte, denn die Stürmer der Gegenmannschaft waren auch nicht schlecht und hatten diesen Nachteil auszunutzen verstanden. Nun lief ein Angriff über den linken Flügel. Kurt war der Kleinste der Klasse, aber auch der Flinkste. Mühelos trickste er zwei, drei Gegenspieler aus und erreichte so die Mitte der gegnerischen Hälfte. Bevor ihm die Luft ausging, flankte er den Ball in die Nähe des Strafraums. ER war auf der Mittellinie parallel zum Ball mitgelaufen. Die Flanke kam ziemlich genau in seine Nähe. Nach drei, vier Schritten hatte ER den Ball erreicht und schnell unter seine Kontrolle gebracht. ER lief Richtung Tor, weil die Entfernung für einen Schuss noch zu weit war. Zwei Verteidiger befanden sich zwischen ihm und dem Torwart. Der erste, der auf ihn zulief, war Jürgen, der Knochenbrecher. Er wurde von seinen Mitschülern so gehänselt, weil er alles wegsäbelte, was er erreichen konnte. Er war etwas dicklich, hatte aber das Vermögen, seine gewaltige Masse schnell zu beschleunigen. Das war alles, was er konnte. Fußballerische Technik war seine Sache nicht. Wenn Jürgen einem entgegen kam, dann verließ manchem der Mut, weiter zu stürmen. Statt dessen suchte dieser dann meist einen Mitspieler, um den Ball anzugeben. Bei dieser überhasteten Abgabe geschahen meist Fehler, die den Ruf von Jürgen begründeten. ER schaute sich um. Keiner seiner Kumpel war anspielbar. Keiner schrie, um auf seine freie Position aufmerksam zu machen. Kurt war zurückgefallen. ER war auf sich alleine gestellt. Aus einem inneren Impuls heraus stürmte er weiter. Jürgen, der auf die Furcht seiner Abschreckung gesetzt hatte, zögerte eine Sekunde zu lange. Durch eine geschickte Körpertäuschung konnte ER das Leder an Jürgen vorbeispielen. Ohne dass sein Gegner den Ball auch nur berühren konnte, trieb er den Ball vorwärts. Den ausgestreckten Fuß übersprang ER dabei elegant. Der zweite Verteidiger hatte auf die abschreckende Wirkung von Jürgen nicht vertraut und verstellte ihm dadurch den Weg zum Tor. Mit einer geschickten Ballverlagerung, ER hatte selbst nicht gewusst, wie Er diese beherrschte, schaltete ER auch den zweiten Verteidiger aus. Eigentlich hätte er nun schießen müssen. ER wusste nicht, welcher Teufel ihn auf einmal ritt. Als der Torwart todesmutig auf ihn zu stürmte, entschloss ER sich, anders als sonst üblich vorzugehen. Er schoss den Ball seitwärts an diesem vorbei. Bis dieser gebremst und sich Richtung seines eigenes Tores zurück bewegt hatte, erreichte ER den Ball und führte ihn wie ein Jongleur über die Torlinie.

Der Beifall der Mannschaftskameraden war überschwänglich. Jeder wollte ihn umarmen, jeder klopfte ihm dabei auf den Rücken. ER war schon manchmal umarmt worden, aber zum ersten Male empfand ER irgend etwas anderes als sonst. Vielleicht war es das Glücksgefühl oder die diesmal überschwängliche Umarmung, oder eine Kombination von allem. ER fühlte sich elektrisiert. Sein gesamter Körper war auf einmal ein Spannungsfeld. Für eine kurze Zeit lang wünschte er sich, diese Umarmungen mögen nie enden. Als dies dann doch geschah, folgte eine riesige Enttäuschung, die ER sich nicht erklären konnte. Benommen taumelte ER zurück in die eigene Hälfte. Keinem fiel auf, wie ER in den verbleibenden zehn Minuten kaum noch Einsatz zeigte. Das Gefühl, eine solche Elektrisierung erfahren zu haben, hielt noch an als der Unterricht Stunden später beendet war.

Der Flug des Fasans

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