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Duisburg Dellviertel, 23. April

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Die Besprechung der MK sollte pünktlich um acht Uhr beginnen. Van Gelderen wippte in den Beinen, so als könnte er nicht erwarten, bis der Uhrzeiger auf die Acht springen würde. Mit der rechten Hand rotierte er seine Sehhilfe. Knoop hatte im Moment keinen Fall, der heute besprochen werden sollte. Also verkroch er sich in eine der hinteren Reihen und hoffte auf das baldige Ende der Veranstaltung. Als der Chef die Anwesenden begrüßte, hörte er kaum hin. Er vernahm nur am Rande, dass man die Tote wohl identifiziert hatte. Sie hieß Alina Rashkova. Sie war eine Bulgarin oder eine Rumänin. So genau wusste man es noch nicht. Sie war polizeilich hier nicht gemeldet. Alle Hinweise sprachen dafür, dass sie als Prostituierte in Duisburg gearbeitet hatte. Auf Mikaels Nachfrage erklärte Albino, einer ihrer Freier hatte sie auf dem Foto in der Zeitung erkannt. Auch wo sie arbeitete war nun bekannt. Knoop hörte aber nicht mehr hin. Die Gegend, in der dieser Arbeitsplatz lag, hatte mehrfach in der Zeitung gestanden. Es war Rockergebiet. Rocker waren eine undankbare Angelegenheit. Neben ihrer Brutalität war ihr Schweigen das markante Markenzeichen. Sie redeten nie über sich, jedenfalls nicht Schlechtes. Und mit der Polizei redeten sie schon gar nicht. Hier zu ermitteln, war eine undankbare Angelegenheit. Knoop duckte sich, damit ihn Albino nicht zufällig sah, wenn ihm eine Aufgabe einfiel.

„Wo ist der Kollege Knoop? Ist der heute nicht da? Bei mir hat der sich aber nicht abgemeldet.“ Van Gelderens Stimme hallte durch den Raum. Alle, die Knoop vorher meinten gesehen zu haben, drehten sich nach ihm um. Knoop machte so, als habe er gerade seinen Kugelschreiber vom Boden aufgehoben. Er streckte seine freie Hand in die Höhe.

„Ach, da sind Sie ja. Herr Kollege, Sie haben doch im Moment nichts Wichtiges auf ihrem Schreibtisch. Sie haben ja schon die erste erfolgreiche Spur in der Ermittlung >Makeup< gefunden. Nach dem die Identität der Toten bekannt ist, können Sie doch den Rest auch noch machen.“ Er ging auf Knoop zu und überreichte ihm eine rote Mappe. „Hier haben Sie alle notwendigen Unterlagen. Der Rest ist für sie doch ein Kinderspiel. Oder?“

Die Koordinierungsstelle Krüger gab es wohl nicht mehr. Es gab wohl nur noch die Gruppe Knoop. Sie bestand aus ihn und sonst keinem. Knoop ergriff den Hefter und murmelte absichtlich etwas Undeutliches, um nicht >danke< sagen zu müssen. Ein solches Verhalten war typisch für Albino. Als die tote Frau gefunden wurde, boten die Randbedingungen die Möglichkeit von Pressrummel und damit öffentlichem Interesse. Da es sich nun aber um ein bedeutungsloses Vergehen handelte, wollte keiner mehr – und schon van Gelderen überhaupt nicht - etwas damit zu tun haben.

„Sie arbeiten doch gerne selbstständig. Sollten Sie doch Hilfe brauchen, dann wird Kollege Spannhof Ihnen helfen.“

Dirk Spannhof nickte eilfertig.

Knoop übersetzte den Arbeitsauftrag in seine Worte. Es sollte allein arbeiten. Das störte ihn nicht. Dirk sollte neben seinen Aufgaben ihm zuarbeiten. Er stand also kaum als Hilfe zur Verfügung. Gut bei dieser Sache war, Dirk besaß excelente Kenntnisse auf dem Gebiet der Informationstechnik. Das war immer hilfreich.

Nachdem sich die Besprechung der MK1 aufgelöst hatte, griff Knoop zu den Blättern an der Pinwand, die nun zu seinem Fall gehörten. Bevor er diese wieder in seinem Arbeitsraum an die Wand heftete, betrachtete er jedes Blatt ausführlicher als vorher. Bei dem Foto der Toten verharrte er lange Zeit. Irgendetwas störte ihn an diesem Bild. Er wusste nur noch nicht was. Er beschloss, zur Gerichtsmedizin zu fahren, um die Leiche in Augenschein zu nehmen. Auf dem Weg zum Ausgang lief ihm Spannhof über den Weg. Knoop verzögerte seinen Gang, um sich mit Dirk abzusprechen, wie sie beide an die gestellte Aufgabe herangehen sollten. Doch Dirk winkte mit der Hand ab.

„Keine Zeit. Später vielleicht? Oder?“ Während er sprach, entfernte er von Knoop. Er hob seine rechte Hand über den Kopf und verschwand in einem Seitengang.

Knoop nickte. Er hatte sich in seiner Einschätzung nicht getäuscht. Er hob winkend die Hand, die Spannhof aber nicht mehr sehen konnte.


Knoop konnte sich nicht erinnern, ein solches Erlebnis je gehabt zu haben. Er war auf dem Weg in die Pathologie. Er hatte sich über die Umstände, wie er an seinen neuen Fall geraten war und mit welchem Milieu er es nun zu tun hatte, aufgeregt. Nebenher lief das Autoradio. Ein Künstler, dessen Name ihm nichts sagte, wurde interviewt. Es war reine PR. Den Namen des Möchtegerns hatte er schon vergessen, als zur Unterbrechung des Gesprächs dessen Musikwunsch angekündigt wurde. Der Ansager nannte den Namen Dave Dudley. Auch wohl ein so unwichtiges Männchen wie der Interviewte, dachte Knoop. Auch der Titel >Deutschland Autobahn< sagte ihm nichts. Er wollte gerade das Radio abschalten, als ihn die ersten Takte elektrisierten. Auf den ersten Blick, nein auf das erste Hören begeisterte ihn dieser Titel. Er drehte den Lautstärkeregler so hoch bis die Lautsprecher noch nicht übersteuert waren. Er hämmerte dem Rhythmus auf das Lenkrad und sang jedes Mal mit, wenn Dave Dudley >Deutschland Autobahn< sang. Augenblicklich waren seine düsteren Gedanken verflogen. Mit Schmerzen in den Handflächen begleitete er diesen Song bis zur Ausblendung. Für ihn war es keine Frage. Er wollte diesen Titel und er war neugierig auf den Sänger. Schnellstens. Engländer oder amerikanische Interpret. Erst als er den Wagen vor der Pathologie parkte, hatte ihn die triste Realität wieder im Griff.

Er fragte eine Frau im weißen Kittel nach dem Gerichtsmediziner Norbert Liesner. Sie wies in Richtung eines langen Gangs. „Letzte Türe links!“ Dann verschwand sie.

An seiner markanten Mephistofrisur erkannte Knoop ihn sogleich. Dieser murmelte was von telefonischem Anmelden, führte dem Kommissar aber dann doch zu dem Kühlfach, in dem die Tote lag.

„Es ist aber selten. Sonst kommt ihr von der MK nie mehrmals zu uns in die Pathologie.“ Liesner schaute Knoop ausdruckslos an. Knoop sah erst jetzt, die Iris des Mediziners hatte eine schwachblaue Färbung.

„Ich habe den Fall gerade übernommen. Ich habe die Leiche noch gar nicht gesehen.“

Liesner nickte als habe er verstanden. Er zog an dem Griff, über dem der Name >Unbekannt< stand.

Die nackte Leiche zeigte eine junge Frau in Normalgröße. Knoop sah sofort, man hatte den Körper abgeschminkt. Er hätte gerne die Tote im Originalzustand gesehen, aber das war ihm nun verwehrt. Was ihm danach auffiel, war die abgemagerte Figur. Die Muskeln waren nicht trainiert, obwohl der Körper keinerlei Fettpolster zeigte. Viel gegessen hatte sie nicht. Ob sie an Magersucht gelitten hatte? Obwohl der Tod schon vor ein paar Tagen eingetreten war, waren deren Gesichtszüge noch nicht zerfallen. Irgendetwas störte ihn hier. Sein Blick glitt über den leblosen Körper. Die oberflächliche Naht, mit der man die Körperöffnung wieder geschlossen hatte, stand im Widerspruch zu der Schönheit ihres Körpers, die auch jetzt noch zu sehen war. Nur diese Reparatur und die Stelle, an der das Messer ihre Haut verletzt hatte, störten diese Schönheit. Knoop fotografierte die Leiche aus verschiedenen Perspektiven.

Liesner schwebte in den Raum als befände er sich bei einer Visite im Krankenhaus. Er reichte Knoop zur Begrüßung mit dem Ellenbogen seinen Arm. Sein Blick schuf eine Distanz zwischen den beiden Männern.

„Was können Sie mir über diese Leiche sagen, Herr Liesner?“

Liesner räusperte sich. „Hab´ ich doch schon alles Ihren Kollegen gesagt.“

Knoop nickte. „Tun Sie mir doch den Gefallen und versuchen es erneut.“

Der Pathologe führte seine Hand an den Mund. Knoop verstand zuerst wenig, weil Liesner sie dort beließ. „Also, die Tote ist durch den Messerstich ums Leben gekommen. Das Messer hat das Herz fast verfehlt. Aber nur fast. Was es aber an Herzkranzgefäßen durchschnitt, führte zum Tode der Frau. Der Stich wurde nur einmal durchgeführt. Der Täter muss wohl etwas Ahnung von der menschlichen Anatomie haben. Er hat aber auch die Schneide hin und her bewegt. Vielleicht hatte er doch Zweifel, ob der Stich zu seinem Ziel führte. Also, ein Fachmann war dies sicherlich nicht, wenn Sie mich fragen.“ Er stockte als erwarte er weitere Fragen.

„Warum ist die Schminke entfernt worden?“

Liesner atmete durch. „Alle Leichen müssen nach dem Abkleben gesäubert werden, um mögliche Hautverletzungen erkennen zu können. Reine Routine.“

„Hat die Tote sich gewehrt?“

„Wir haben unter den Fingernägeln Dreck aller Art gefunden, aber keine fremde DNA. Sie hat sich nicht gewehrt. So was ist eigentlich untypisch. Ich nehme an, sie muss ihren Mörder gekannt haben. Anders ist dieses Verletzungsbild für mich nicht zu erklären.“

Knoop schaute in das Gesicht der Toten. Auf einmal wurde ihm bewusst, was ihn so gestört hatte. Die Züge der Toten hatten einen friedlichen Gesichtsausdruck. Jeder Erstochene, die Knoop bei seiner Arbeit kennengelernt hatte, war in Panik, wenn man ihm das Lebenslicht ausblies. Diese Frau aber nicht. Seltsam! Wie kann man einen friedlichen Gesichtsausdruck haben, in dem Moment, wo man ein Messer im Körper fühlt? Diese Frage musste er vorher beantworten, wenn er den Weg zum Täter finden wollte.

„Also, keine weiteren äußerlichen Verletzungen?“ Knoops Stimme klang abgebrüht.

Liesner schaute von der Leiche hoch. „Nein, keine. Wenn Sie ein Tattoo nicht dazu zählen wollen.“

„Tattoo?“ Knoop hatte den Körper in Augenschein genommen, aber ein solches nicht bemerkt. Auch van Gelderen hatte davon nicht gesprochen.

Liesner sah die Überraschung im Gesicht des Beamten und lächelte. „Kann man auch übersehen.“ Er drehte den rechten Fuß zur Seite. Weil Mikael ihn nun von innen betrachten konnte, sah er, was der Pathologe meinte. Kurz oberhalb der Ferse waren die Großbuchstaben „SYBIL“ zu lesen. „Der Stecher war mit Sicherheit kein Profi.“ Er griff nach einem Vergrößerungsglas. „Sehen Sie selbst. Die Linienführung ist unregelmäßig. Kein Profi eben.“

Knoop stützte sein Kinn in die rechte Hand. „Hmmmh. Sybil, was soll das bedeuten?“

Der Pathologe lachte kurz und trocken. „Ich bin nur für die Leichen zuständig. Den Rest müssen Sie schon machen.“

Knoop winkte ab. „Schon gut. Habe nur laut gedacht.“ Er hörte nicht mehr, was Liesner sagte. War dies ein Name? Sybil war seines Wissens nach ein Frauenname, teilweise jedenfalls. Aber eine Frau, die sich einen Frauennamen auf den Fuß tätowierte? Dort, wo man nichts sehen konnte? Vielleicht war dies nur aus einer Laune heraus geschehen und stand in keinem Zusammenhang mit der Tat? Wahrscheinlich Letzteres! Er schreckte aus seinen Gedanken hoch.

Liesner hatte begonnen, die austretende Körperflüssigkeit abzuspülen und ihn dabei bespritzt. „Sonst noch Fragen?“ Wasser und Körpersekret gurgelten durch den Abfluss des Tisches.

Knoop schüttelte seinen Kopf.

„Ach, da ist noch etwas, das muss ich Ihnen unbedingt zeigen.“ Der Pathologe sperrte den Wasserzufluss und griff wieder zu dem Vergrößerungsglas. Er hielt es vor die Scheide. „So etwas habe ich noch nicht gesehen.“ Er lächelte linkisch. Wahrscheinlich dachte er, mit 35 Jahren habe man schon alles erlebt.

Knoop schaute durch das Glas. Er sah nichts Außergewöhnliches. Das Geschlechtsteil sah aus wie jedes andere, das er kannte. Er schüttelte seinen Kopf und zog seine Stirn in Falten. „Ich sehe nichts. Was meinen Sie?“

In Liesners Züge schlich sich ein listiges Lächeln. „Schauen Sie auf die Scheidenwände.“

So sehr sich auch Knoop anstrengte, er konnte nichts Auffälliges erkennen. Kopfschüttelnd erhob er seinen Oberkörper und trat zur Seite. Die Mine des Pathologen nahm triumphierende Züge an. „Sehen Sie die Hornhaut nicht? Diese Frau ist vergewaltigt worden. Nicht ein paar mal, nein sehr, sehr häufig. Wenn Sie mich fragen, viele Monate lang.“

Der Flug des Fasans

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