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Duisburg Rheinhausen, 18. April

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Zu dieser frühen Stunde sah der Kellergang so aus, wie er ihn am Abend betreten hatte. Hier unten war ein Ort, der scheinbar keine Zeit kannte. Alles blieb so, wie es war. Der einzige Unterschied bestand darin, morgens waren sie zu Dritt. Morgens stand keine Versorgung auf ihrer Verpflichtungsliste. Frühstück gab es nur im Viersternehotel, pflegte er zu feixen, um dann fortzufahren, wir haben aber nur einen Stern. Die Frauen wurden zur Arbeit abgeholt. Da jeder nur zwei Frauen beaufsichtigen und managen konnte, war diese Zahl naheliegend. Außerdem war es einschüchternd, von mehreren Männern beaufsichtigt zu werden. Morgens mussten sie ja die Frauen aus ihrem Zimmer rausholen und zu den Bumssälen bringen, wie die Arbeitsplätze auch bezeichnet wurden.

Der Mann, der diese Frauen managen und versorgen musste, ging voraus. Er hörte auf den Namen Schädel. Sein Kopf hatte eine übertrieben eckige Form. Keinem Härchen gestattete er, darauf zu wachsen. Dies unterstrich noch deren eckige Kontur. Schädel legte Wert darauf, eine sportliche Figur zu halten. Er war der Kleinste von den drei Männern. Er legte Wert auf sein Kampfgewicht, wie er immer betonte. Der Klang seiner Springerstiefel mischte sich mit denen der anderen.

Die beiden hinteren Männer hätten, was ihre Figur betraf als Zwillinge durchgehen können. Zwar nicht gleich groß, mussten beide Anabolika geschluckt haben, um diese Masse an Muskeln zu erhalten. So aufgepumpt wirkten sie. Sie unterhielten sich über die Geschehnisse des gestrigen Abends. Ihrem Gespräch zu folgen, hatte der Abend mit Fernsehen begonnen. Im Ersten Fernsehprogramm war ein Bundesligaspiel übertragen worden. Später hatten sie dann Karten gespielt. Und dazwischen immer wieder Saufen, Saufen bis zum Abwinken.

„Hey Phallus, stehst du auf Schalke oder auf Dortmund?“, feixte der Vorangehende und drehte den Kopf nach hinten.

Dieser bemühte sich, etwas schneller zu gehen. „Ich stehe auf Arnika und auf sonst gar nichts.“ Alle drei lachten.

Schädel war diesen Weg so oft gegangen. Es war reine Routine. Und Routine bedeutete das Abschalten des Gehirns und das Überlassen aller Tätigkeiten dem Automatismus der Muskeln und Nerven. So bemerkte er den Schaden erst, als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte und sich die Türe ohne Aufschließen öffnen ließ. Er schnellte zurück, als habe er eine blanke Stromleitung angefasst. Er zeigte auf das aufgebrochene Türblatt. Sofort griffen Phallus und der Dritte mit dem Kampfnamen Stiletto zu ihrem Messer. Ein Druck auf den Knopf brachte die Klingen zum arretieren. Mit einem Ruck riss Schädel die Türe auf und stürmte in den Raum. Fünf Frauen saßen auf den beiden oberen Betten. Sie waren zusammengekauert und zitterten als befänden sie sich in einem Kühlhaus.

Schädel war verblüfft. Irgend ein Schwein war hier eingebrochen und die Frauen waren noch hier? Ein Gedankengang, der ihm zunächst nicht logisch erschien. Er wollte gerade die Frage stellen, als sie von hinten gestellt wurde.

Es war Phallus, wild mit der Stichwaffe herumfuchtelte. „Was ist denn hier passiert?“

Das Bibbern der Frauen nahm noch zu, als habe jemand den Thermostaten des Raumes noch tiefer gedreht.

Schädels Stimme grunzte. Schaumstückelösten sich von seinem Mund. „Olga, blöde Nutte, quatsch endlich, oder ich schlitze dich hier und jetzt auf.“

„Komm runter du Schlampe, wenn ich mit dir rede.“ Phallus zeigte mit dem Messer auf sie und winkte sie heran.

Schüchtern kletterte Olga an der Bettseite herunter. Das Schlottern ihrer Glieder nahm zu, je näher sie Phallus kam.

„Ali ist weg.“ Sie wich zurück als befürchtete sie, dafür haftbar gemacht zu werden.

Erst jetzt bemerkte Phallus das Fehlen der Frau.


Der Mann auf dem Mofa hatte den Tunnelblick. Er nahm seine Umgebung überhaupt nicht wahr. Seine Augen waren auf den Verkehr vor ihm gerichtet. Jetzt, wo er an der Mauer des Friedhofs an der Lohstraße entlang fuhr, brauchte er nicht auf rechts und links zu achten. Er entspannte sich ein wenig. Er war in Eile und hatte nur die Stempeluhr im Kopf. Er war spät dran und er durfte nicht schon wieder zu spät zur Arbeit kommen. Den Ärger mit dem Schichtleiter wollte er unbedingt vermeiden.

So beachtete er den Jungen nicht, der seinen Stock über die Steine der Mauer schrappen ließ. Sein Stock erzeugte ein rhythmisches Klick-Klacks, wenn er vom Stein auf die Fuge kam Diese einfache Melodie übte eine Faszination auf das Kind aus. Die alte Frau, die ihm entgegenkam, störte entweder das Geräusch oder das Verhalten des Jungen. Sie sagte etwas zu dem Knaben, aber dieser störte sich nicht daran und führte seinen Stock weiterhin an der Mauer entlang. Sie murmelte ihren Protest gegen die heutige Jugend vor sich hin, ging aber weiter zu dem schmiedeeisernen Tor der Friedhofsanlage.

Ein blauer Toyota Avensis fuhr auf den Parkstreifen neben dem Eingangstor. Der Fahrer zögerte, dann verließ er den Wagen. Auf dem Weg zum Eingang zog er seinen Schlüsselbund aus der Tasche, um das Tor aufzuschließen. Der Schlüssel ließ sich aber nicht drehen. Holger Syskowski fluchte. Schon wieder hatte er vergessen, das Tor abzuschließen. Er öffnete beide Metallflügel, weil gleich der Lkw kam, der die Gartenabfälle abholen wollte. Er schaute auf seine Armbanduhr. Er war richtig in der Zeit. Er war heute der einzige Arbeiter auf der Anlage, also quasi sein eigener Chef. Das war die positive Seite der Wegrationalisierung.

„Hallo Oma Karsulke! Heute wieder Friedhofsdienst?“

Die alte Frau winkte ab. „Es macht ja sonst keiner. Und wenn ich nicht mehr da bin...“ Sie stöhnte und senkte ihren Kopf.

„Ja, ja, nuschelte Holger Syskowski und schlug schnurstracks den Weg zum Pausenraum der Friedhofverwaltung ein. Eine Verwaltung gab es hier schon lange nicht mehr. Aber das Gebäude stand noch. So hatten die Arbeitskräfte die Räumlichkeiten so genutzt, wie es ihnen in den Kram passte. Er drehte die elektrische Heizung hoch und betätigte die Kaffeemaschine. Während das Wasser durch das Zuflussrohr stottert, studierte er den Arbeitsplan, welche Aufgaben für heute vorgesehen waren.

Die alte Frau trippelte über den Hauptweg, der die Friedhofsfläche halbierte. Sie wusste, wo sie hin wollte. Schließlich war sie diesen Weg schon unzählige Male gegangen. Vor der schlichten Grabplatte hielt sie einen Moment ein. Ihre Gedanken eilten zu dem Mann, mit dem sie über vierzig Jahre verheiratet gewesen war und der sie vor beinahe acht Jahren im Stich gelassen hatte. Während sie den Ansätzen von Unkraut zu Leibe rückte und die mitgebrachten Blumen einpflanzte, hörte sie den Friedhofstraktor. Aha, die Fläche mit den Urnengräbern wird heute gemäht, dachte sie. Die bückende Arbeit am Grab fiel ihr in letzter Zeit mal wieder schwer. Sie machte eine Pause und schaute dabei in Richtung des Mähers.

Holger Syskowski wollte gerade seine erste Bahn ziehen als er Oma Karsulke erblickte. Er hatte Respekt vor der Ausdauer dieser Frau. Kein noch so schlechtes Wetter konnte diese Frau zurückhalten, ihr Grab zu besuchen. Warum griff sich Oma Karsulke auf einmal an die Brust? Verdammt, die Alte wird doch nicht hier einen Herzinfarkt bekommen? Er drückte das Gaspedal voll durch. Als er die Frau erreichte, konnte er die Wankende gerade noch auffangen. Während er beruhigend auf das Mütterchen einsprach, redete diese nur von Toten. Mist, ginge es ihm durch den Kopf, nun redet die Oma schon wirr. Das würde heute noch heiter werden. Tote? Überall gab es hier Tote. Wo war man denn hier? Behutsam wollte er die Frau zu dem Mäher führen, damit diese ihre Beine entlasten konnte. Aber Oma Karsulke klammerte sich so fest an ihn. Der Schmerz aus der Schulter fuhr unangenehm in den Arm. Auf einmal blickte er in die Richtung, die ihm die Alte wies. Und dann sah er die Ursache des Schwächeanfalls. Auf dem Grab der Familie Braunstein lag eine Tote.

Der Flug des Fasans

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