Читать книгу Der Flug des Fasans - Volker Buchloh - Страница 18

Düsseldorf Lohausen, 23. April

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Die Lautsprecher des Flughafens Düsseldorf International klirrten. Nicht alles, was darüber verkündet wurde, konnte man verstehen. Die Übersteuerung lag an der Verstärkung des Mikrophons der Ansagerin. Besser laut und klirrend als leiser und dann nicht eindringlich war wohl das Motto der Geschäftsführung. Ulf Reugler hörte nicht auf diese Information. Er wollte ja nicht fliegen, obwohl er sich im Abflugbereich befand. Sein Gehör war auf Durchzug geschaltet. Er musste auf einen Mann warten, der als Kennzeichen einen Tiroler Hut trug. Wenn er sich hier so umsah, wer da verreiste, dann war ein Tirolerhut nicht wirklich Auffälliges. Piratenkappen, breitkrempige Strohhüte, Pelzmützen oder Cowboyhüte sah er allenthalben. Nur seinen Tiroler bemerkte er nicht. Er hatte den Auftrag, im Sektor B hin und her zu gehen und so zu tun, als vertreibe er sich die Zeit bis zu seinem Anschlussflug. Seinen Kontakt, das hatte er kapiert, durfte er nicht ansprechen.

Ulf Reugler fühlte sich unbehaglich, wie er sich immer bei so einem Auftrag unbehaglich fühlte. Aber er hatte es eingesehen. Er durfte nicht auffallen. Auffallen konnte Kontrolle bedeuten und kontrolliert werden wollte er nicht. Schließlich hatte er keine Lust, im Knast zu landen. Scheiße, er fühlte sich nackt, richtiggehend nackt. Aber er hatte es eingesehen. Seine Kutte hier zu tragen wäre zu auffällig gewesen. Seine ärmellose Clubjacke bedeutete ihm viel. Sie war Zeichen seiner Zugehörigkeit bei den Satans Sons. Diese Bindung an seine wirkliche Familie brauchte er, weil er sonst keinerlei Kontakte in seinem Leben besaß. Sie gab ihm den Sinn, den er in seiner Jugend immer gesucht hatte. Zuerst unbewusst, dann zunehmend bewusster hatte er begreifen müssen, man sah in ihm einen Versager.

Ob in der Nachbarschaft oder in der Schule, es war immer das Gleiche. Sicherlich, in der Schule verstand er nicht sofort, worum es da ging. Meist hatte er dann doch kapiert – nach mehrmaligem Erklären allerdings, was man von ihm wollte. Leider war es dann meistens zu spät. Er hatte dann die Klassenarbeit vergeigt und die Fünfen sammelten sich auf seinem Zeugnis. Zweimal war er schon sitzen geblieben, bis er gelernt hatte, mit Pfuschen, Täuschen und Tricks kam man weiter als mit Ehrlichkeit. So verhinderte er seine Versetzung in die Sonderschule. Er hatte sein erstes Erfolgserlebnis in seinem Leben. Sonderschule war für ihn ein Alptraum. Da waren die Bekloppten und Bescheuerten. Nein, bematscht war er nicht. Er hatte nur viel Pech. Er wusste nicht warum, aber nur bei ihm klappte es nicht. Mit seinem Abgangszeugnis von der Hauptschule bekam er keine Lehrstelle. Er wäre gerne Autoschlosser geworden. Aber keiner wollte ihn. An eine Ausbildung war bei seinem Zeugnis sowieso nicht zu denken, aber es gab ja auch Reparaturwerkstätten, die Hilfsarbeiter benötigten. Letztendlich war er froh, nachdem er mehrere Beschäftigungsverhältnisse geschmissen hatte, als er an einer Tankstelle als Hilfsarbeiter arbeiten durfte. Diese Tätigkeit brachte ihm zwar seinem Traum eines Kfz-Mechanikers etwas näher, aber die Tätigkeit wurde schlecht bezahlt. Während seine früheren Freunde sich nach und nach Motorräder anschafften und mit Smartphones die Mädchen beeindrucken konnten, war ihm das nicht möglich. Bald galt er als Außenseiter und Flasche. So zog er sich mehr und mehr aus seinen alten Kreisen zurück. Er konnte einfach nicht mithalten und das war ihm peinlich. Dazu kam, der Versuch, ein Handy über Pump zu kaufen, ging voll in die Hose.

Auf einmal hatte er Schulden, die er gar nicht zurückzahlen konnte. Er hatte keine Ahnung, wie er da rauskommen sollte. Keiner half ihm zu erklären, was da ablief. So war der Griff in die Kasse reine Notwehr. Um die Tat zu verschleiern, täuschte er einen Überfall auf die Kasse vor. Auch dabei hatte er Pech, wieder einmal. Er war gefilmt worden. Woher sollte er das wissen? Auf einmal stand er vor dem Richter. Der stellte ihn vor die Alternative: Zahlen oder Knast. Da er sowieso kein Geld hatte, fiel ihm seine Entscheidung nicht schwer. Im Gefängnis machte er eine neue Erfahrung. Man musste einer Gruppe angehören, wenn man nicht untergehen wollte. Welche Ziele die Gruppe verfolgte, das war scheißegal. Das kapierte er schnell. Hauptsache, man war nicht auf sich alleine gestellt. Jemand setzte sich für einen ein, wenn man die richtige Gruppe wählte. Zwar war er in dieser Gruppe eine Abtretmatte, aber Ulf wusste sich unterzuordnen und blindlings allen Befehlen zu folgen. So kam er zu den Satan Sons, ohne Ahnung vom Motorradfahren zu haben. Wie er heute wusste, saß er die acht Wochen Bau auf einer Arschbacke ab. Der Boss der Gruppe erzählte häufig, wie er allein zwei Bullen krankenhausreif geprügelt hatte. Was waren drei Jahre Bau gegen die Anerkennung in seinem Club. So lernte Reugler die Satans als eine Vereinigung kennen, die über Gewalt Anerkennung versprach. Als er raus kam, blieb er in dieser Familie. Schnell begriff er, hier erlebte er den ersten Erfolg seines Lebens. Hier fand er über diese Gemeinschaft die Anerkennung von außerhalb, die er immer verzweifelt gesucht hatte.

Ein Reisender blieb mit seinem Rollkoffer an seinen Kofferwagen hängen. Reugler schreckte auf. Scheiße, da hatte er den Tirolerhut glatt vergessen. Er wechselte in den B-Sektor zurück. Die Werbung, die seinen Weg markierte, beachtete er nicht. Er konnte sich den Scheiß, der dort angeboten wurde, sowieso nicht kaufen. Auch wenn er auch heute mehr Geld hatte als früher. Seine Hand fuhr über die Narbe seiner linken Backe. Wo dieser scheiß Tirolerhut wohl blieb. Er griff zu seinem Taschencomputer und tippte auf die Tastatur. Am anderen Ende der Verbindung teilte man ihm mit, er habe gefälligst auf jeden Fall zu warten. Ulf fluchte aber erst dann laut, nachdem er das Gerät in seiner Tasche verschwinden ließ.

Der Mann mit dem Tirolerhut saß inmitten einer Reisegruppe. Er hatte nichts bei sich außer einer zusammengefalteten Tageszeitung. Die fehlenden Reiseutensilien fielen in diesem Gedränge nicht auf. Reugler war sich nicht sicher, den Richtigen gefunden zu haben. Aber er war schon sehr lange hier herumgeirrt und der Tirolerhut war die einzige Kopfbedeckung gewesen, die es hier gab. Das müsste eigentlich der Richtige sein. Er näherte sich dem Mann und machte das vereinbarte Zeichen. Ohne auf Reugler zu achten, stand der Mann mit dem Tirolerhut auf, setzte sich aber unmittelbar wieder auf einen Platz, der neben ihm Raum bot.

„Auch schon da?“ Der Hut schaute in Richtung der großen Anzeigetafel und verhielt sich so, als fände er seine Information nicht, die er suchte. Gleichzeitig legte er die Zeitung zwischen sich und dem Kontaktmann.

Reugler ärgerte sich. Was sich dieser Arsch wohl dachte? Da hing er schon über eine Stunde hier rum und dann eine solche Anmache? Aber er hatte gelernt, Ungerechtigkeit herunterzuschlucken. Er nannte Parkhaus und Parkplatznummer und legte die Autoschlüssel auf die Zeitung. Sein Nachbar beachtete ihn nicht. Nichts geschah. Reugler wollte sich gerade umwenden, um diese Pfeife erneut anzusprechen, als dieser seine Zeitung ergriff und murmelte. „Wieder hier. Halbe Stunde.“

Lamm, wie man Reugler auch nannte, hatte keine Lust, wie eine Lusche auf seinen Kontaktmann zu warten. Er war ärgerlich. Am liebsten hätte er den Schwachkopf einen mitten in die Fresse gehauen. Die Nase war ein empfindsames Organ und das Blut tat das seinige, den Angreifer zu stoppen oder auszuschalten. Wütend lief er im Sektor B zu einer Insel, bei der man kalte und heiße Getränke bekommen konnte. Er hatte Durst auf Bier. Die Theke war von mehreren Reisenden umlagert. Das Warten, seine Bestellung loszuwerden, nervte ihn gewaltig. Den Typen mit Anzug und Krawatte nahm er erst wahr als es zu spät war. Durch den Schmerz im rechten Bein verschüttete er beinahe sein Bier über das eigene Hemd. Es war nicht die entgangene Verschmutzung seinen neuen Hemdes, es war das Verhalten des Rempler. Ohne auf Lamm zu achten, drängte er sich an die Theke und bestellte lautstark einen Kaffee. Dabei krachte der Rollkoffer erneut gegen Lamms Achillessehne. Reugler hatte schon seinen rechten Ellenbogen gehoben und wollte damit ausholen. Er wusste, das ein solch kurzer Schlag in die Leber jeden von den Beinen riss. In letzter Sekunde verkniff er sich diesen Wunsch. Sein Schlag mit dem Ellenbogen hätte Sanitäter und Polizei auf den Plan gerufen. Laufgen, sein President, würde ihm vermöbeln, wenn hier etwas passieren würde. Das würde auf jeden Fall schmerzhafter sein als der Rempler. So brüllte er ihm nur ein „Verpiss dich, du Arsch!“ entgegen. Kreidebleich packte der Mann seinen Koffer und verschwand, ohne auf seine Bestellung zu warten.

Der Schmerz im Bein ließ langsam nach. Aber seine Aggressionen blieben unvermindert bestehen. Schuld war nur das Verbot, seine Kutte tragen zu dürfen. Allein die Kutte reichte aus, anderen Respekt einzuflößen. Das war es, was ihm bei den Satans Sons auf Anhieb so gefallen hatte. Alle, die er bislang im Leben traf, hatten ihn für eine Flasche gehalten und ihn auch so behandelt. Das änderte sich erst mit der Kutte der Satan Sons. Der Sicherheitsabstand der anderen zu ihm vergrößerte sich drastisch. Und dann kam er hier der Erfüllung seines Berufswunsches einen Schritt näher. Zuerst half er mit beim Herumschrauben an den Motorrädern. Dann bekam er einzelne Reparaturaufträge, die er selbstständig durchführte. Motorräder waren zwar keine Autos, aber deren Funktionsweise war ähnlich. Schnell zeigte sich, Lamm hatte ein Händchen für die Technik. Zum erstenmal in seinem Leben wurde er gebraucht. Seine Art, es allen Recht zu machen, sich mit keinem anzulegen, hatte ihm seinen Spitznamen eingebracht. Anfangs konnte er sich mit diesem Namen nicht anfreunden, aber mit der Zeit gewöhnte er sich daran. Heute war er stolz darauf. Er gewann an Selbstsicherheit. Dies verstärkte sich durch seine Erfahrungen, die er machte, als er die Kutte tragen durfte. Wer ein solches Kleidungsstück trug, der erhielt sofort Respekt. Man sah darin wild und verwegen aus, ja man verbreitete sogar Angst und Schrecken. Er liebte diesen Patch auf seinem Rücken. Die Fratze mit dem langen schmalen Gesicht sah für sich genommen schon respekteinflößend aus. Die grüne Haut und die blutroten Augen schockten jeden. Geil fand er die beiden Hörner, die aus den Seitenhaaren sichtbar wurden. Der schwarze Mantelkragen, der den Kopf begrenzte, erinnerte ihn an Dracula. Hätte er seine Clubjacke angehabt, der Pisser von vorhin hätte seinen Kaffee mindestens aus fünf Meter Entfernung zu ihm bestellt, statt ihm den Koffer gegen sein Bein zu fahren.. Da war er sich sicher. Lamm schaute jedem, der ihn aufgrund des Vorfalls anstarrte, hasserfüllt in die Augen. Schließlich wagte keiner mehr, ihn anzuschauen. Sein Ärger löste sich langsam aber sicher auf.

Er hatte gerade sein Bier ausgetrunken, als er den Tirolerhut wieder entdeckte. Als dieser Lamm erblickte, drehte sich dieser um und ging auf einen Stand zu, der Informationen der Lufthansa zum kostenlosen Mitnehmen anbot. Er entnahm dem Ständer einige Broschüren, blätterte sie kurz durch und stellte diese dann gelangweilt zurück. Lamm, der sich umweit das Spektakel anschaute, sah, wie der Wagenschlüssel mit einer Broschüre im Ständer verschwand. Dann drehte sich der Tirolerhut um und ging schnurstracks durch die Halle.

Seinen Wagen fand Lamm ohne Schwierigkeiten. Er schaute sich um. Kein Besucher befand sich in unmittelbarer Nähe. Er öffnete den Kofferraumdeckel. Der Umschlag mit dem Geld war verschwunden. Statt dessen lag ein Paket im hinteren Teil der Ladefläche. Bevor er den Wagen startete, grinste er sich im Rückspiegel zu.

Der Flug des Fasans

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