Читать книгу Der Flug des Fasans - Volker Buchloh - Страница 17

Duisburg Rheinhausen, 23. April

Оглавление

Winkelhausen ist ein Sprengel im Norden von Rheinhausen. Vielleicht hätte dieses Gebiet eine Entwicklungschance gehabt. Als Naherholungsgebiet oder Siedlungsfläche für Groupies vielleicht? Aber eingeschlossen von der B40, dem Zufahrtsschnellweg und dem Rhein war dieses Thema beendet. Nur über Unterquerungen des Schnellwegs konnte man Winkelhausen erreichen. Die Häuser, die den bewohnten Kern dieses Zwickels ausmachten, waren über sechzig Jahre alt. Die landwirtschaftlichen Gebäude waren noch älter. Da die diese bäuerlichen Bauwerke keinen Investor reizten, hatten ihre Besitzer keinen Sinn darin gesehen, mehr als das Notwendige zu veranlassen. Kostengünstig konnte man hier alte Scheunen oder Bauernkaten kaufen. Es war aber nicht der Kaufpreis, der die White Sculls in diese Ecke von Duisburg hatte ziehen lassen, sondern die Abgeschiedenheit dieser Gegend. Keine ungebetenen Besucher oder Nachbarn sollten ihre Nase in ihre Angelegenheiten stecken. Die Sculls, wie sie sich nannten, waren eine Motorradvereinigung, die sich offiziell als Motorradfreunde ausgaben, eigentlich aber eine kriminelle Vereinigung waren. Wie sie sich öffentlich gaben und wie sie innerlich agierten war unterschiedlicher, wie sie nicht sein konnten.

Der Trakt bestand aus einem großen Wohnhaus und mehreren Gebäuden. Früher war das heutige Wohngebäude halb Wohnung, halb Stall gewesen. Aber die Sculls hatten keinen Bedarf für Landwirtschaft und somit für Ställe. So hatte man den Stallteil dem Wohnbereich zugeschlagen und ausgebaut. Auch die riesigen Wiesen, die zu dem Anwesen gehörten, hatten nur eine Aufgabe, Neugierige fern zu halten. Um die Abgeschiedenheit zu betonen, wurden die Grünflächen nicht gepflegt. Nur ein einziger Weg, mit Schotter befestigt, und nur so breit, um ihn mit einem Motorrad befahren zu können, führte zur >Schädelstätte<, wie die Inhaber sie liebevoll nannten. Aus der Skepsis heraus, ungebetene Besucher könnten sich unerkannt dem Anwesen nähern, hatte man mehrere Kameras installiert. Sie liefen rund um die Uhr, wurden aber nur beachtet, wenn man sich im Kriegszustand befand. Der Feind stand dabei eindeutig fest. Es waren andere Motorradclubs und staatliche Organe.

Der Innenhof, der durch die umgrenzenden Gebäude entstand, war asphaltiert. Auf einer der dem Zugang zum Wohntrakt abgewanden Seite stand mit riesigen Lettern an der Stirnwand eines Schuppens das Emblem der Inhaber: SFFS. Sie waren in den Vereinsfarben rot, weiß, schwarz gestaltet worden. Die Motorradclubfreunde der White Sculls verehrten dadurch ihren Clubnamen. In den USA, Ende der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts entstanden, hatte sich der Gedanke, Freiheit könne man nur auf einem fahrenden Motorrad erfahren, auch über die sonstige westliche Welt verbreitet. Deshalb waren die amerikanischen Begrifflichkeiten fester Bestandteil eines Bikerlebens. Eigentlich bezeichnete Bike ja nur ein Fahrrad. Treffender wäre der Begriff Motorbike gewesen. Da aber Fahrradfahren für diesen Personenkreis schlicht undenkbar war, hatte man der Einfachheit halber den Begriff auf ihr Tun bezogen. Die vier Buchstaben waren eigentlich nur zwei in umgekehrter Wiederholung. S stand für die Sculls und F für forever, ein englischer Begriff, der die Ewigkeit beschwor.


Die Schläge ins Gesicht kamen ebenso unerwartet wie hart. Die Herumstehenden lachten laut und ausfallend. Der Geschlagene hätte durchaus die körperlichen Voraussetzungen gehabt, sich dagegen zu wehren. Die bloßliegenden Arme zeigten außer den zahllosen Tätowierungen auch gewaltige Muskeln. Ein Zucken ging zwar durch seinen rechten Unterarm und ließ eine tätowierte Frau dadurch größer werden, aber letztendlich verzichtete er auf eine Gegenwehr. Diese war auch nicht ratsam. Es war nicht klar, ob dieses Zittern eine Antwort auf die körperliche Züchtigung war oder auf die Häme der Gruppe. So blieb diese Widersetzlichkeit ungebüßt. Der kahlrasierte Hüne brachte bestimmt so um die einhundertdreißig Kilo auf die Waage. Das durch den Schlag sich anschwellende Gesicht machte seine an sich schon kleinen Augen noch enger. Die braunen Pupillen verstärkten den Eindruck eines Totenschädels.

„Ich will mein Eigentum zurück, Phallus“, fuhr ihn sein Gegenüber an.

Das Lachen der Gruppe schwoll erneut an. Einer aus dem Hintergrund lästerte. „Wärst du auf ihr liegen geblieben, dann hätte sie nicht verduften können.“ Wiederum brach ein Gelächter aus. Man schubste sich gegenseitig oder schlug auf die Schultern der anderen.

„Aber es war doch nur eine billige Nutte, President.“ Die klägliche Stimme stand in keinem Verhältnis zu seiner Körpergröße.

„Bist du bescheuert?“ Die Stimme des Präsidenten klang unwirsch. Zornesadern an den Schläfen vergrößerten seinen Kopf. Körperlich unterschied er sich nicht viel von dem Gescholtenen. Nur sein Bauch war ausgeprägter, ein Bierbauch eben. Auf der sich abzeichnenden Stirnglatze waren die Ziffern „1 %“ tätowiert. Auch auf Backen und Hals waren Zeichen in die Haut gespritzt, so als handele es sich um einen Maori, den Eingeborenen von Neuseeland, der er aber nicht war. Das Prozentzeichen war eine Demonstration von Macht. Nur Eingeweihte wussten um deren Bedeutung. Allen Wissenden war bekannt, dies war ein Umkehrschluss und hatte historische Wurzeln. Bei einer Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen von Motorradfamilien in den Vereinigten Staaten von Amerika- wo diese Bewegung entstanden war - kam es 1947 zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Das Presseecho über dieses Ereignis war so gewaltig, weil neben den Berichten auch Fotos veröffentlich wurden, die betrunkene und prügelnde Rocker zeigten. Um das Bild der Motorradbewegung in rechtes Licht zurücken, beeilte sich der amerikanische Verband mit einer Mitteilung, ein solches Verhalten träfe auf 99 % ihrer Mitglieder eben nicht zu. Man kann sich vorstellen, dass die Ausgegrenzten den Einprozentanteil bald als Ehrbegriff übernahmen. Wer fortan dieses Zeichen trug, der unterstrich, bei dieser Person handelte es sich um den Schlimmsten der Schlimmen. Und man war stolz darauf.

Wieder landete die Hand des Präsidenten mit großer Kraft auf der Backe von Phallus. Wieder grölten die Umstehenden, wieder zuckte der Gemaßregelte nur leicht. „Die Tussi war mein Eigentum und dies habe ich dir ausgeliehen. Ich will mein Eigentum zurück. Hast du kapiert, du Arsch?“ Die Hand wurde wieder erhoben, verharrte dann aber als Phallus schnell nickte.

Auf einigen Gesichtern machte sich Neugierde breit, auf anderen spiegelte sich die Erwartung, wie sich die Geschichte weiter entwickeln würde. Man wollte sehen, wie Phallus sich aus dieser Situation befreien würde. Die ein oder andere Bemerkung der Zuchauer versandete in der Aussicht auf Neugier. Man wollte alles mitbekommen und nichts versäumen.

„Aber die ist doch jetzt platt.“ Das Gesicht nahm einen dümmlichen Ausdruck an. „Wie soll ich das machen?“

Einzelne Lacher ertönten. Erst als jemand in den Raum warf: „Du warst wohl zu schwer für sie!“ Schlugen sich einige vor Begeisterung auf die Oberschenkel, schubsten andere sich oder schlugen sich ab. Ein Stoß traf Phallus an der Schulter. Er taumelte einige Schritte in Richtung seines Präsidenten. Dessen erhobener Fuß traf ihn in seinem Unterleib. Phallus krümmte sich vor Schmerzen, murmelte aber nur etwas. Er ließ alles mit sich geschehen.

„Hörst du schlecht? Ich bekomme eine neue Tussi. Ist das klar?“ Der President holte demonstrativ mit seiner Faust aus.

„Ich habe... Ich kann nicht... Was sollte ich machen?“, stotterte Phallus.

Minkewitz setzte sich in einen schwarzen Ledersessel, hinter dem das Schild „President“ zu sehen war. Er hatte sich durchgesetzt. Es ging nun nur noch darum, die Ersatzbeschaffung zu regeln. „Besorg mir eine Neue, Bruder!“

Das Gemurmel der Familie verstummte. Jeder wollte wissen, wie sich der Beschuldigte verhalten würde.

Thadeus Wichykowski, auch Phallus genannt, hob seine Hände als erwarte er erneute Schläge. „Ich habe sie doch eingesperrt.“ Wimmerte er. „Ich weiß gar nicht, wie die den Riegel öffnen konnte. Von außen!“ Thadeus versuchte durch seine vermeidliche Unschuld den Preis zu drücken, den er zahlen sollte. Sein Präsident macht Anstalten, sich wieder zu erheben. Deshalb beeilte er sich hinzuzufügen: „Ich bin im Moment ebbe.“

Die Masse des Körpers sank wieder in den weichen Polstern. „Dann musst du dir das Geld verdienen, Bruder.“ Der Bescheid kam kurz und barsch.

„Wie denn?“ Die Stimme klang verzweifelt. Seine Arme sanken nach unten. Er wartete auf eine Anweisung, weil er selbst keine Möglichkeit sah. Der Angstschweiß, den er verströmte, verteilte sich in der Umgebung.

Minkewitz winkte unwillig mit den Händen den Schweißgeruch zurück. „Nächste Woche geht eine Fahrt nach Madrid. Du holst eine Fuhre von unseren katalanischen Freunden. Umsonst versteht sich!“ Georg Minkewitz schlug die Beine übereinander. Dann strich er mit den Händen über seinen Vollbart. Er griff zu einer Packung Zigaretten, die auf einem Bestelltisch lag, zündete sich eine an und inhalierte tief. „Die Tussi, die wir dafür von den Bulgaren holen, kannst du dann wieder ausgeliehen haben, Bruder. Ist das nicht ein großzügiges Angebot von mir?“

Phallus schien dieses Angebot nicht gehört zu haben. „Drogen?“ Die Schweinsaugen nahmen Normalmaß an. „Mit Drogen will ich nichts zu tun haben. Du weißt doch, ich kann mit dem Drogenscheiß...“ Der Satz blieb unvollendet.

„Die Fahrt. Oder willst du ein halbes Jahr auf den Männerstrich? Du kannst frei wählen, Bruder.“ Der Rauch landete im Gesicht von Phallus, woraufhin der zu husten begann.

„Bahnhof, Bahnhof“, skandierten die Herumstehenden und klatschten rhythmisch in die Hände. Wieder schubste man sich, oder klatschte sich ab. Die Angelegenheit entwickelte sich zu einem spaßigen Vergnügen. „Geh zum Bahnhof, Bruder“, riefen einige und prusteten vor Begeisterung. „Wir kommen gerne vorbei.“

Phallus schluckte mehrmals, aber sein Hals blieb trocken. „Dann doch lieber Madrid.“ Er richtete sich aus seiner leicht gebeugten Haltung auf. Ein misslungenes Lächeln spielte über seine Lippen.

Für den Präsidenten war die Angelegenheit damit beendet. „Weil du gerade so herumstehst, Phallus. Kannst du mir ein Bier holen, Bruder?“

Wichykowski verschwand in Richtung Bar. Leise fluchte er. Wenn er denjenigen erwischen würde, der die Tussi aus dem Keller in Rheinhausen herausgeholt hatte, den würde er unweigerlich platt machen. Der Tod der Schlampe störte ihn überhaupt nicht. Allein die Ersatzbeschaffung, wie der President es formuliert hatte, störte ihn gewaltig. Wegen dieser blöden Kuh musste er mehrere Tage auf einem LKW verbringen. Und immer bestand die Gefahr, dass die Bullen einen nicht filzten. Und dann noch Spanien. Unwillig schüttelte er den Kopf.

Hinter der Bar spülte eine etwas pummelige Brünette Gläser. Sie hielt Phallus ein frisch gezapftes Bier entgegen. „Ärger, Phallus?“ Sie grinste.

Dieser nahm das Glas und erwiderte fluchend, „Ach, halt doch die Fresse!“

Im Wohntrakt der White Sculls war wieder Normalität eingekehrt. Der Technosound war das einzige Geräusch und wurde durch den Widerhall der Wände noch verstärkt. Die Gespräche zwischen den Motorradfreunden waren entweder verhalten oder man starrte vor sich hin. Phallus war kein Thema mehr. Motorrad, Frauen und Prügeleien waren die vorherrschenden Themen. Die Musik war aber so laut, man bekam von Inhalt nur wenig mit. Man musste schon eng an den Sprechenden herantreten. An einem Kickerspiel drehten zwei die Figuren die Stangen mit den Spielern. Man sah, hier wurde kein Wettkampf ausgetragen. Man überbrückte nur die Zeit. Irgendwie. Es war egal. Man freute sich zwar über den eigenen Treffer, aber die Eigentore nahm man gelassen hin. Etwas außerhalb der Männer hatte sich eine Gruppe Frauen zusammengefunden. Auch hier wurde erzählt. Eine mit feuerroten Haaren und Cowboystiefeln schien das Wort zu führen. Sie unterbrach Redebeiträge, die ihr nicht passten, oder denen sie keifend widersprach. Einige hörten nur zu, was sie von der Rothaarigen erfahren konnten, schwiegen aber sonst. Auf einem breiten Ledersessel knutschte ein Pärchen. Sie trug zur Jeans einen Pullunder mit großem Kragen. Die brünetten Haare waren kurz geschnitten und zur Seite gekämmt. Die Frisur sah aus als hätten die Ratten daran geknabbert. Der Mann war ganz in Leder gekleidet. Nur seine Kutte war aus Jeansstoff. Die Hände des Mannes glitten über den Busen der Frau, was diese aber nicht störte. Als die Hand versuchte, den Weg unterhalb des Stoffes zu finden, legte die Frau ihre Hand auf die suchende Hand und flüsterte ihrem Partner etwas ins Ohr. Dieser nickte zustimmend. Beide erhoben sich und gingen die Treppe hinauf.

Mit lautem Geschrei stürzte ein junger Mann in den Raum. Seine Haare waren strubbelig. Er durfte als Prospekt noch keine Kutte tragen, weil er in der Familie der White Sculls noch nicht aufgenommen war. Mit einem Griff schaltete er die Musik aus. Seine Stimme kam stoßweise und überhastet. „Der Breitmaulfrosch hat mich gerade gephont.Einer von den Satans fährt durch unser Gebiet.“

Schlagartig sprangen alle Männer auf. Das interessierte alle. „Den greifen wir uns“, riefen einige.

„Genau, den greifen wir uns“ rief der President. „Dem werden wir eine Lektion erteilen, die er niemals vergesssen wird. Nachdem wir Spaß mit ihm hatten, werden wir ihn als Dank vor dem nächsten Krankenhaus absetzen.“ Er überlegte kurz. „Übrigens, wer ihn als erster vom Bike holt, der darf seine Kutte verbrennen.“

Die Meute grölte.

„Wo ist er im Moment?“ Es war Hubert „Bitterling“ Sachsa, der Road Captain.

Der Anwärter sagte etwas wie Sterkrader Straße.

Bitterling stürmte nach vorne. Endlich gab es Aktion. Alle anderen schlossen sich ihm an. Durch die hastigen Bewegungen des Road Captains schien der Totenkopf auf der Rückseite der Kutte zu lächeln. Die Bewegungen waren so schnell, dass die roten Blutstropfen, die aus dem Schädel tropften, zu fließen schienen. Die Jagd war eröffnet.

Der Flug des Fasans

Подняться наверх