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4. RECHTS UND LINKS IM 19. JAHRHUNDERT

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Die Heilige Allianz – Österreich, Preußen, Rußland und auch Frankreich, während England bald abgesprungen war1) – versuchte, die „alte Ordnung“ aufrechtzuerhalten, doch die neue, unmittelbare Bedrohung dieser Ordnung kam zuerst einmal von der „Nationaldemokratie“. Später erst, als logische Weiterentwicklung der Demokratie, kam dann noch der Sozialismus dazu.2)

Die alte Ordnung, das ancien régime, das man mit gewissen Veränderungen wieder zu Ehren bringen wollte, hatte einen vertikalen Charakter. Von der alten Ordnung hatte Abel Bonnard gesagt, daß der König Vater in seinem Lande war, denn jeder Vater war ein König in seiner Familie.3) Nun aber mußte man sich mit dem Begriff der Gleichheit auseinandersetzen, der rein programmatisch-ideologisch war und mit der menschlichen Wirklichkeit nichts zu tun hat. Wie wir schon früher feststellten, hatten überdies die Völker den steigenden Wunsch, „sich selbst“ zu regieren, erreichten aber bestenfalls die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, was im Frühstadium der Französischen Revolution vielleicht auch wirklich erreicht wurde. Hierbei soll aber gleich auch bemerkt werden, daß in der Aktualität und im Endeffekt es jedoch immer wieder eine Minderheit ist, die die große Menge befehligt, und zwar mit oder ohne ihre Einwilligung.

Nun, im Regiertwerden liegt aber ein Fatum der erbsündlichen Menschheit vor, und, wie wir schon andeuteten, ist die Demokratie mit der „Freikörperkultur“, der Technik, der Empfängnisverhütung, der schmerzlosen Geburt, dem Feminismus und der Einbalsamierung der verzweifelte und erfolglose Versuch, die Wirkung der großen Schwächung des ganzen Menschengeschlechtes aus der Welt zu schaffen.

Doch hat die Demokratie mit ihrem Gleichmachertum noch einen ganz anderen Aspekt. Im Menschen stecken zwei Urtriebe: der eine, der animalische, der unserer tierischen Natur entspringt, während der andere rein menschlich ist. Wir sprechen hier von den Trieben zur Nämlichkeit (Identität) und zur Vielfalt (Diversität). Ein Ein-Mark-Stück ist identisch und gleich jedem anderen Ein-Mark-Stück der gleichen Ausgabe. Zwei Fünfzig-Pfennig-Stücke aber sind einem Ein-Mark-Stück nur gleich, aber nicht identisch! Bewegungen, die Gleichheit fordern, sind denen, die Nämlichkeit fordern, zutiefst verwandt; sie fordern und inspirieren sich gegenseitig. Manchmal aber entzweit sie auch die Konkurrenz, die in Haß umschlagen kann.

Nun sind wir tatsächlich manchmal in der Stimmung, mit Menschen unseres Geschlechts, unserer Altersstufe, unserer Volkszugehörigkeit und Rasse, unserer Konfession, politischen Überzeugung, unseres Geschmacks, unserer Bildung und Umfangsformen zusammenzusein, also, einem Herdentrieb folgend, in einem „Wir“ eine angenehme, warme, spiegelhafte Selbstbestätigung zu finden. Doch dann wollen wir zuweilen, von einer romantischen Sehnsucht verlockt, mit Menschen zusammenkommen, die ganz anders sind als wir: Die Anziehungskraft des anderen Geschlechts liegt zum Teil auch jenseits von Eros und Sexus in diesem „konträren Magnetismus“. Dieser verleitet uns auch, auf Reisen zu gehen um fremde Menschen, andere Tiere und Pflanzen zu sehen, andere Bauten, ein anderes Klima kennenzulernen, Speisen zu essen, einer Musik zu lauschen, Sprachen zu hören, Sitten und Gebräuche zu beobachten, die uns „neu“ und ungewohnt sind. Das ist ein Trieb, der dem Tier fehlt. „Originalität“ ist nicht animalisch, das Wort in jedem Sinn genommen. Einem Hund kann man tagaus-tagein dasselbe Futter vorsetzen, der Mensch aber braucht Abwechslung. (Der Spießer, der Banause, der „Primitive“ braucht diese Abwechslung aber wahrscheinlich nicht oder in nur sehr geringem Ausmaß. Dem Ungewissen, dem Fremden steht er unsicher, wenn nicht gar feindlich gegenüber.) Die Worte Goethes: „Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit“, sind ihm fremd. Er brüstet sich sogar damit, ein „völlig normaler Mensch“, ein „rechter Kerl“ (regular guy; ordinary, decent chap) zu sein,4) der zwar das Leben genießen möchte, aber keine außerordentlichen Ansprüche erhebt. Den sogenannten Individualisten (wie überhaupt jeden Andersgearteten) blickt er scheel an, wobei wir hier gleich bemerken wollen, daß wir die Ausdrücke „Individualist“ und „Individuum“ aus sprachlichen Gründen meiden wollen: Der Gegensatz zum Herdenmenschen ist nicht etwa der Herrenmensch, sondern der Personalist. Das Wort „Individuum“ bezieht sich auf den letzten „unzerteilbaren“ Teil eines Ganzen: Das Sandkorn im Sandhaufen ist ein „individuelles“ Sandkorn. Das Wort „Person“ hingegen kommt ursprünglich aus dem Etruskischen. Phersú, lateinisch Persona, war die Maske des Schauspielers auf der Bühne und deutete auf eine ganz bestimmte Rolle hin: dramatis personae waren die Personen des Dramas. Hier auf Erden, in dem großartigen „Spiel Gottes“5) sind auch wir dramatis personae mit eigenem, unauswechselbarem, einmaligem und auch unersetzlichem Schicksal und ebensolchen Aufgaben. Anders geht es natürlich (soweit wir dies sehen können) im Ameisen-oder Termitenhaufen zu. Freilich, auch dort gibt es Ungleichheiten, aber auch wiederum unabänderliche Gleichheiten und Auswechselbarkeiten innerhalb der Kategorien. Und setzen wir hier gleich hinzu, daß erst mit dem Christentum der Personalismus in unsere Kultur voll eintritt. Er war im Alten Testament vorgezeichnet, aber noch nicht zur Vollblüte gelangt. Erst mit dem Begriff des „himmlischen Vaterlandes“ und des „Ewigen Lebens“, das sich der Mensch hier in einer Prüfungszeit „baut“ und „einrichtet“, wird ein vollendeter Personalismus möglich, wenn ihn auch deterministische Theologien und Philosophien zu zerstören suchen.

Wie wir aber gesehen haben, kommen in der Französischen Revolution „horizontale“ anstelle von „vertikalen“ politischen und gesellschaftlichen Bindungen auf, die sich in dynamischen, von „Intellektuellen“ angeheizten Volksbewegungen explosiv steigern. Diese hysterisch-sadistischen Ausbrüche geschahen zum Teil im Namen der „Tugend“, der vertus républicaines, und der (strafenden) Gerechtigkeit, die sich vornehmlich gegen einen den „Aberglauben“ verbreitenden, unaufgeklärten Klerus und einen amoralischen, frivolen Adel richteten. Das drückte sich während der Revolution besonders in den fessades aus: Damen wurden auf der Straße von Banden aufgegriffen, festgehalten, ihnen die Röcke hochgezogen und sie dann mit Ruten geprügelt…,6) angeblich alles aus sittlicher Entrüstung. Wie man sieht, beteiligte sich auch das liebe Volk an den Gemütsverirrungen des Göttlichen Marquis.

Doch die psychologische Hauptcharakteristik der Französischen Revolution sind der Gleichheitswahn, der der Freiheit diametral entgegengesetzt ist, und der ethnische Nationalismus, der alles „Unfranzösische“ auszurotten suchte. Im Unterlinden-Museum in Colmar kann man einen zweisprachigen Aufruf an die Frauen des Elsaß bewundern, sich nach der „fränkischen“ und nicht nach der deutschen Mode zu kleiden. Mit anderen Worten: Das Identitäre, das Nämlichkeitsmoment, feierte nach langer Unterbrechung seine bösen Urstände; die Taboriten hatten schon vor 370 Jahren mordend ihr Unwesen getrieben,7) die englischen egalitären Sekten, die Levellers, Diggers, Fünftmonarchianer erst 140 Jahre später.8) Der schauerlichste Nachzügler der Französischen Revolution vor unserem Jahrhundert war allerdings Gracchus Babeuf mit seinen (von Mussolini besungenen) colonnes infernales.9) Was war sein Programm? Das hörte sich so an:

„Alle Schriften über die Offenbarung verbieten; die Kinder werden alle gemeinsam erzogen; kein Kind wird den Namen seines Vaters tragen; kein Franzose wird Frankreich verlassen dürfen; die Städte werden zerstört werden, die Schlösser dem Erdboden gleichgemacht und die Bücher verboten. Die Franzosen werden eine Einheitskleidung tragen; die Armeen werden von Zivilbehörden befehligt, die Toten aber gerichtlich abgeurteilt und nur im Falle einer begünstigten Beurteilung durch die Tribunale ordentlich begraben; keine Schrift darf ohne ausdrückliche Erlaubnis der Regierung veröffentlicht werden.“10)

Allerdings hatte Babeuf nicht nur in der Französischen Revolution, sondern auch in dem mysteriösen Morelly einen ideologischen Vorgänger, der einen Idealstaat nicht unähnlich dem Babeufs beschrieben hatte.11) Auch aus diesem Programm sieht man mit erschreckender Deutlichkeit, daß Freiheit und Gleichheit-Nämlichkeit im Ende unvereinbar sind. Die Natur kennt keine Gleichheiten-Nämlichkeiten: selbst eineiige Zwillinge sind nicht „identisch“. Geographische Gleichheit verlangt das gewaltsame Abtragen der Berge, um die Täler zu füllen, gleichmäßige Hecken brauchen die schmerzhafte Gartenschere, „nationale Einheit“ brutale Denationalisierungen, Vermögensgleichheit Enteignungen und so weiter. Wir stehen immer vor der Entscheidung „Freiheit oder Gleichheit?“ Daher ist die Synthese der (egalitären-identitären) Demokratie mit dem Nationalismus (oder auch Rassismus) wohl möglich, nicht aber – auf die Dauer – mit dem freiheitlichen Liberalismus. Hier steht man nur zu oft einer Täuschung gegenüber. Wie in der christlich-demokratischen Synthese die Demokratie das Christentum verschlingt (was Alexandre Vinet sehr deutlich erkannte), so kommt es schließlich in der liberalen Demokratie zum Erlöschen der Freiheit (wenn andererseits nicht zum Chaos). Auch Goethe sah dies als er in seinen Maximen (No. 953) schrieb: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Charlatans.“ Diese phantastische Scharlatanerie beherrscht allerdings die politische Szene der gesamten freien Welt.

In der Reaktion gegen die napoleonischen Eroberungskriege sahen wir aber nicht nur eine christlich-romantische Erneuerung und eine Systemisierung konservativen12) Denkens und Handelns, sondern auch eine vielleicht unerwartete Verschmelzung egalitärer und nationaler Ideen. Dies sollte eigentlich niemanden überrascht haben, denn es handelte sich um die Synthese von zwei Kollektivismen. Hier muß man gleich auch einmal auf die Doppelsinnigkeit des Wortes ‚Volk‘ in so vielen Sprachen hinweisen. Der Terminus ‘Volk‘ kann als (ethnisch-sprachliche) Nation, aber auch als Niedervolk ausgelegt werden. Also sind gerade heute, dank der kommunistischen Sprachregelung, die Ausdrücke für Volksdemokratie und Nationaldemokratie in den slawischen Sprachen identisch.13) Der Ausdruck ‚Volk‘ kann also eine Kampfbereitschaft gegen Monarchie, Adel und Klerus ausdrücken, die bei uns nicht einen nationalen, sondern einen übernationalen Charakter hatten. Anders natürlich als in Japan oder im alten China.14) Im Jahre 1910 waren von den souveränen europäischen Dynastien nur jene von Montenegro (Petrović-Njegoš) und Serbien (Karađorđević) echt einheimisch.15) Der Duke of Edinburgh, Prinzgemahl der jetzigen britischen Königin, war ursprünglich ein „griechischer“ Prinz, aber ohne einen Tropfen griechischen Bluts, denn sein Vater, Prinz Andreas von Griechenland, stammte aus dem dänischen, in Wirklichkeit aber deutschen Haus Sonderburg–Glücksburg–Augustenburg.16) Mit dem Hochadel stand es oft wie mit den Dynastien; viele Familien stammten aus dem Ausland, und Heiraten mit Ausländerinnen waren häufig. So hatte zum Beispiel Churchill eine amerikanische Mutter, teilweise indianischer Abstammung,17) die großen französischen Liberalen de Tocqueville und Montalembert waren englisch verschwägert; im deutschen und österreichischen Adel, wie auch im preußischen Offizierskorps waren sehr viele Familien französischer, italienischer oder slawischer Abstammung.18)

Die nationaldemokratischen Bewegungen, die nun allenthalben ins Kraut schossen, waren deshalb nicht nur egalitär, sondern auch xenophob. „Herrschaft“ hieß oft Fremdherrschaft, die für „das Volk“ schwer erträglich war. Man erinnere sich hier auch daran, daß fast alle republikanischen Bewegungen mit einer Haßkampagne vielleicht psychoanalytischer Natur gegen die „Ausländerin“, die „fremde“ Frau des Monarchen begannen. (Kollektiveifersucht der Frauen? Verdacht, daß der Monarch vielleicht unter dem Pantoffel der „Zugereisten“ stand?) Denken wir da nur an Henrietta-Maria, die katholische Gemahlin Karls I. von England, an Marie-Antoinette (l’Autrichienne), Gemahlin Ludwigs XVI., Kaiserin Alexandra von Russland (aus dem Hause Hessen), Kaiserin Zita von Österreich (Bourbon–Parma), Königin Ena von Spanien (Battenberg). In diese Kategorie gehört auch die Animosität gegen die Princesse de Réthy, Gemahlin Leopolds III., die als Flämin den Wallonen und als Bürgerliche den Kommunisten nicht zu Gesicht stand.19) (Ob die „Fremdheit“ des Herrschers oder Herrscherhauses negativ zu werten ist? Keineswegs. Hier ist größere Objektivität durch Distanz zu erwarten.)20)

Schon zwei Jahre nach der Beendigung des Wiener Kongresses fand auf der Wartburg das Burschenschaftsfest anläßlich des dreihundertsten Jahrestages der Reformation und des vierten Jahrestages der Völkerschlacht (bezeichnender Ausdruck) von Leipzig statt. Dieses Fest hatte einen deutlich nationaldemokratischen Charakter. Die alte schwarz-goldene Reichsfahne wurde mit dem Rot der Revolution bereichert und zu guter Letzt eine Bücherverbrennung veranstaltet, bei der auch die Werke von Kotzebue und von C. L. v. Haller den Flammen übergeben wurden. (Davon lernten dann die Nationalsozialisten!) In Berlin, Wien und Petersburg schlug man Alarm. Und nicht viel später wurde der Staatsrat und Lustspieldichter Kotzebue von einem nationaldemokratischen Terroristen, einem Studenten, erdolcht. Demokratie und Nationalismus arbeiteten in perfekter Gleichschaltung wie später dann Nationalismus und Sozialismus. Der echte Patriotismus mit der vaterländischen Freude an der Vielfalt wich dem Nationalismus, der in seiner Unduldsamkeit alles über einen Leisten schlagen wollte. Wir begegneten auch damals der Gestalt des „Turnvaters Jahn“, eines nationaldemokratisch gesinnten Priegnitzers, der die Massengymnastik erfunden und mit eigener Wortschöpfung „Turnen“ genannt hatte. Dieser brave Mann kam mit den siegreichen Alliierten nach Paris, wo er in einem altdeutschen Phantasiekostüm herumspazierte, mit verschränkten Armen und bösem Blick auf dem Gehsteig Passanten anrempelte und schließlich geschickt wie ein Affe auf den Arc de Triomphe hinaufkletterte, um dem Engel die Tuba aus der Hand zu schlagen, was ihm aber nicht gelang.22 Ihm verdanken wir auch den herrlichen Ausspruch, er sähe es lieber, daß seine Tochter eine öffentliche Dirne würde, als daß sie die französische Sprache erlernte. Unter der „reaktionären“ Regierung Friedrich Wilhelms III. wurde dieser schrullige, aber viel bewunderte und ideengeschichtlich nicht ungefährliche Kauz eingesperrt. Ein Vorläufer des Nationalsozialismus? Zweifellos.23

Die „Reaktion“ war natürlich da, aber reine Reaktionen werden leider selten von der Klugheit geleitet. Die geistig-politische Entwicklung Europas ging, wenn wir von der konservativen Romantik absehen, in die linke Richtung, weil in Europa ein gewaltiges Vakuum eingetreten war, in das die linken Ideen weiter einströmen konnten. Geben wir aber zuerst einmal ruhig zu, daß das Ancien Régime (wie seine besten Vertreter sehr gut wußten) nicht nur reformbedürftig gewesen war, sondern auch einfach nicht dort fortgesetzt werden konnte, wo es aufgehört hatte. Hier muß man sich noch einmal vor Augen halten, daß der königliche Absolutismus eine Degenerationserscheinung der traditionellen europäischen Staatsform gewesen war, und daß die Existenz einer beratenden und in manchen Domänen auch sogar entscheidenden Volksvertretung keineswegs einen Bruch, sondern einen Anschluß an die Vergangenheit bedeutete. Wäre die Revolution mit dem Jahr 1790, mit dem nationalen Verbrüderungsfest auf dem Champ de Mars, beendet worden, hätte auch die Geschichte Europas eine andere Wendung genommen. Vergessen wir nicht, daß der aufgeklärte Absolutismus in einer liberalen Richtung höchst reformfreudig gewesen war und die ständischen Vertretungen in anderen Ländern nur eine gewisse „Modernisierung“ notwendig gehabt hätten. Doch die Mischung von verfahrener Philosophie, religiöser Krise und aufgewühlten Leidenschaften brachte den zu schnell fahrenden Zug zum Entgleisen. Ohne Französische Revolution wäre der Regierungskurs Franz II. (Franz I.) auch ein ganz anderer geworden.24) (Ohne KPI hätte es auch keinen italienischen Faschismus und ohne KPD keinen Nationalsozialismus gegeben.)

Sehr schmerzlich fehlte eine Ideologie, die ebenso dynamisch, aber innerlich ganz anders als damals die Französische Revolution, hoch und niedrig ergriffen und begeistert hätte, eine Ideologie, die gleichzeitig zum Herzen, zum Verstand und zu den Sinnen sprechen sollte. Das aber muß man gestehen, ist ein Problem, das das restliche, freie Europa bis auf den heutigen Tag noch immer nicht gelöst hat.

Was sich also im „Vormärz“ wiederum ankündigte, war Ortegas „Rebellion der Massen“,25 die mit dem Bürgertum-Kleinbürgertum schon eine große Schlacht gewonnen hatte, dann die Hefe des Volkes mobilisierte und erst später auf das rasch entstehende industrielle Proletariat übergriff. Die Metastasen entwickelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in richtige Krebsgeschwüre. Die Militärinterventionen der Heiligen Allianz, die Miguelitenkriege und Karlistenkriege in Portugal und Spanien, die Erhebung der Griechen, die belgische, die polnische und vor allem die Juli-Revolution in Frankreich waren unheilverkündende Wetterleuchten. Die Juli-Revolution rief den Bürgerkönig Louis Philippe auf den Thron; er war aber nicht mehr König von Frankreich, sondern König der Franzosen, also nicht mehr Vater des Vaterlandes, sondern eine Art Anführer der Nation. Er war bezeichnenderweise ein Sohn des infamen Philippe Égalité, des verkommenen Königsmörders aus der Revolutionszeit, Chef des Orléans-Zweiges des Hauses Bourbon. Er und sein reformierter, liberaler Kabinettschef Guizot „langweilten“ jedoch die Franzosen, und beide mußten 1848 nach der Errichtung einer Zweiten Republik nach England flüchten.26)

Schon 1840 war es zu einer gefährlichen Spannung zwischen der liberalen Monarchie und den deutschen Ländern gekommen. Damals wurde die Wacht am Rhein von Schneckenburger gedichtet, die allerdings erst im Kriege 1870–71 dank ihrer Vertonung durch K. Wilhelm größte Popularität erlangte und auch im Ersten Weltkrieg neben dem Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ die beliebteste Kampfmelodie wurde. Mit der napoleonischen Herrschaft war das deutsche Nationalgefühl zusätzlich aufgerüttelt worden.27) Gerade die Krise von 1840, die auch in Frankreich die nationale Begeisterung anfachte, zeigte deutlich, daß die Kriege von nun an wirkliche Volkskriege zu werden drohten. In den Revolutionen des Jahres 1848, sowohl in Frankreich als auch in Österreich, Ungarn und Italien war es offenbar geworden, daß der Aufbruch, der damals stattfand, zugleich politisch, national und nicht zuletzt auch „sozial“ war. Es regten sich alle kollektiven Kräfte. Diese Revolutionen und Rebellionen waren alle linksdrallig und nährten sich offensichtlich von den Ideen der Französischen Revolution.

Was ist aber im Gegensatz zu ‚rechts’ nun wirklich ‚links’? Hier müssen wir zuerst einmal ein wenig Etymologie betreiben. Erinnern wir uns daran, daß in fast allen Sprachen der Begriff ‚links’ eine pejorative und ‚rechts’ eine positive Bedeutung hat. Im Deutschen ist ‚rechts’ mit dem Recht, rechtlich, gerecht, richtig und redlich verwandt, während linkisch so viel wie ungeschickt bedeutet. Ähnlich ist es im Englischen und in den romanischen Sprachen. Im Italienischen ist sogar il sinistro (der Unglücksfall) dem Wort sinistro (links) entnommen. (Das französische gauche kommt vielleicht aus dem deutschen ‚wanken’.) In den slawischen Sprachen ist prav nicht nur die Wurzel von ‚rechts’ und dem Recht, sondern auch von ‚Wahrheit’, im Ungarischen ist jobb ‚besser’ sowohl auch als ‚rechts’, balsors hingegen ist das ‚linke Schicksal’, also das Unglück. Im Japanischen ist hidarimae, das ‚vor dem Linken Seiende’, das Ungemach, und im Sanskrit haben ‚rechts’ und ‚links’ jeweilig einen positiven und negativen Sinn.28) Auch die Bibel spricht dieselbe Sprache. So sagt uns Ecclesiastes 10,2 gegen alle Anatomie, daß das Herz des Weisen auf der rechten, das des Narren aber auf der linken Seite schlägt. Beim Jüngsten Gericht sind die Geretteten auf der rechten, die Verdammten aber auf der linken Seite des Herrn. Es ist also völlig legitim, diese beiden Begriffe wertend zu verwenden, und zwar links für den animalisch-kollektivistischen, rechts für den human-personalistischen Aspekt der menschlichen Psyche. Im parlamentarischen Leben gab es jedoch andere Regeln: So saßen die Vertreter der Regierung oft rechts und jene der Opposition links, oder auch waren die ‚Konservativen’ rechts und die ‚Progressisten’ links. Es war sicherlich ein verhängnisvoller Fehler in den Tagen der Weimarer Republik, die Nationalsozialisten auf die äußerste Rechte des Reichstags zu setzen. Als Nationalisten und Sozialisten gehörten sie auf die extreme Linke!29)

Was ist aber nun praktisch und politisch links? Die linke Vision, die linke Utopie ist eine monolithisch-kollektivistische – das Reich mit einer Partei, einem Führer, einer Ideologie, einer zentralistischen Regierung, einer Sprache, einer Rasse, einer Klasse, einer Einkommensstufe, einem Schultyp, einer Flagge, einer religiösen oder atheistischen Konfession (die auch Staatsreligion ist), einer Behandlung für beide Geschlechter, einem Gesetz für alle und eben nicht Ulpians Prinzip des suum cuique: „Jedermann das Seine.“ Die rechte und daher auch richtige Stellungnahme ist jener der linken entgegengesetzt: sie steht für die Vielfalt und die Person und nicht für die Einfalt und Kollektivität. Sie erinnert an die Botschaft des Heiligen Stefan, König von Ungarn, an seinen Erben, den Heiligen Emmerich: „Mein Sohn, ein Land von nur einer Sprache und einer Sitte ist ein schwaches und dummes Ding.“30) Für den Menschen von heute, der in seiner Mehrheit linksdrallig ist, muß diese Feststellung völlig unverständlich sein. Er steht unbedingt (auch in liberalen Demokratien) für die Uniformität, die Gleichschaltung aller ursprünglichen Verschiedenheiten, und zwar schon deswegen, weil er in ihr nicht nur eine Garantie der Stärke, sondern auch eine Forderung der Gerechtigkeit sieht. (Auch ist die Uniformität der Bürger für die Verwaltung geldsparend!) Nun wird man vielleicht einwenden, daß zumindestens die Gleichheit vor dem Gesetz gerecht sei, aber auch das ist eine fausse idée claire, eine klare, aber falsche Idee. Denn der Volljährige und der Minderjährige, der Gebildete und der Ungebildete, der Betrunkene und der seiner Sinne Mächtige, der Hungernde, der seine Familie nicht ernähren kann,31) und der Playboy, der stiehlt, um Spielschulden zu begleichen, können natürlich nicht mit den gleichen Maßstäben gemessen werden…, ebensowenig wie der Totschläger und der raffiniert planende Mörder.

Es ist also natürlich, daß der Linke ein Nationalist oder ein Rassist, der Rechte aber ein Patriot ist. Der Linke ist ein Materialist und Determinist, der im Menschen ein immanentes Wesen sieht, für den Mann der Rechten ist der Mensch transzendent, sein eigener Schwerpunkt ist anderswo. Für ihn ist die Beziehung „hinauf“ zu Gott etwas Primäres, Staat und Gesellschaft gehört er keineswegs unmittelbar an; die Familie – Ahnen, Frau, Eltern, die Verwandten seiner Frau, Geschwister, Kinder und Enkel – hat den Vortritt. Für den Linken ist das ganze Dasein voller Zwänge, sodaß der Raum des freien Willens kaum vorhanden ist – weder ideell, noch faktisch. Wie wir später sehen werden, ist der Mann der Rechten ein Liberaler, denn die Persönlichkeit braucht Freiheit für ihr Wachstum und ihre Vollendung.32) Der Mann der Rechten neigt dazu, in der Einzahl zu sprechen – ich, du, er und sie zu sagen. Der Mann der Linken ist ein Mann der Plurale, aber beileibe kein Pluralist: seine Rede – zumindestens im Politischen – ist stets in Pluralen. Wir, ihr und sie sind seine Schlüsselworte. Wir – die Proletarier, die Deutschen, die Arier, die Aufgeklärten, die Frauen, die Anhänger der Regierungspartei oder ihr, die Bourgeois, die Romanen, die Unterdrücker, die Männer der Oppositionspartei.33) Da allerdings darf man nicht vergessen, daß das moderne politische Leben ohne diese Plurale kaum denkbar ist, zumindestens aber nicht das parlamentarische Parteienleben, dessen Essenz die Auseinandersetzung nicht so sehr zwischen den Parteiführern wie zwischen den Wählermassen ist, die wiederum völkisch, klassenmässig, religiös, sozial umrissen sein können. Geleitet von Einzelpersönlichkeiten besteht das Parlamentgetriebe aus Gruppenkämpfen, die dann besonders fanatisch geführt werden, wenn weltliche Religionen, also Weltanschauungen und Ideologien, das treibende Element sind. Deren Existenz ist allerdings unausweichlich. Das Übel besteht eben darin, daß sie – ein so explosives Material! – politisch gegeneinander ausgespielt werden.

Der Zenit des Übels wird erreicht, wenn dann fanatische Mehrheiten sich der Regierung bemächtigen. Dazu haben sie im parlamentarischen Rahmen eine prachtvolle Gelegenheit, nicht aber noch in der konstitutionellen im Unterschied zur parlamentarischen Monarchie oder zur demokratischen Republik. „Teddy“ Roosevelt kam nach seiner Amtszeit auf einer Weltreise nach Wien und besuchte Kaiser Franz Joseph. Damals konnte Roosevelt noch nicht die bodenlose Dummheit und Niedertracht unseres so herrlichen Jahrhunderts voraussehen und stellte Franz Joseph die Frage: „Was, Majestät, glauben Sie, ist in diesem so fortschrittlichen Zeitalter noch die Rolle eines Monarchen?“ „Mr. Roosevelt,“ war die Antwort, „ich halte es für meine Aufgabe, meine Völker vor ihren Regierungen zu schützen.“ Heute sind aber nichteinmal mehr die Kinder im Mutterleib vor ihrer Legislative mit ihren verehrten Politikern sicher.

Die falsch gestellten Weichen

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