Читать книгу Die falsch gestellten Weichen - Von Kuehnelt-Leddihn Erik - Страница 7

1. EINLEITUNG: EIN MEER VON LÜGEN

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Verzeiht, es ist ein groß Ergetzen,

Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen.

Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,

Und wie wir’s dann so herrlich weit gebracht.

Goethes Faust

„Ein Meer von Lügen“, das Werk meines Pinsels auf dem Umschlag dieses Bandes, weist auf die vielen Lügen hin, die ganz besonders in der Neuesten Geschichte nisten. Wir haben es hier nicht nur mit entstellenden Lügen zu tun, die zu eigenem Nutz und Frommen in die Welt gesetzt und nur widerstrebend geschluckt wurden, sondern auch mit anderen, die keineswegs verblüfften und an die man bereitwilligst glaubt, denn der Wahrheit ins Gesicht zu schauen ist oft zu unbequem, zu beunruhigend, wenn nicht gar unerträglich. Manchmal muß ich mich da an Phokion erinnern, von dem Plutarch berichtet, er hätte bei einer Rede, durch lebhaften Applaus unterbrochen, sich entsetzt an seine Freunde neben ihm mit der halblauten Frage gewandt: „Habe ich da jetzt einen fürchterlichen Unsinn gesagt?“

Diesen Band könnte man auch einen Idiotenführer durch die moderne Geschichte nennen. Stellen wir aber hier gleich fest, daß der ‘Idiot‘ ursprünglich im antiken Hellas ein biederer Privatmann ist, der sich nicht mit der Politik beschäftigt. Da er somit an der Gestaltung der Geschichte kein Interesse hat, hält er auch das Studium der Geschichte für einen blanken Unsinn. Das hat auch Henry Ford, ein vielbewunderter Fabrikant getan, der Hitler namhafte Summen übermittelte. „History is bunk – Geschichte ist Blödsinn“ ist eine Formel, die gerne ironisch zitiert wird. „Don’t fear the future and don’t honor the past“ war eine andere Aussage dieses industriell und finanziell sicherlich begabten Mannes, der von Hitler im Oktober 1938 feierlich dekoriert wurde.1)

Die Geschichte ist allerdings ein Unsinn, aber nur in einem ganz bestimmten Sinn. Es ist aber höchst notwendig, sie wirklich zu kennen, und wer die Geschichte mit ihren blutigen und tränenreichen Lehren nicht kennen will, wird von ihr brutal gezwungen, sie zu wiederholen2). Das ist stets ein hochnotpeinlicher Prozeß, den man in Bälde nochmals erleben könnte. Daher wollen wir beschwörend die Geschichte der Neuesten Zeit in stark verkürzter aber ungeschminkter Form zum besten geben. Dabei richten wir uns an die „Gebildeten“, ein Ausdruck, der heute kaum gebraucht wird, denn in einem demokratischen Zeitalter, in dem jedermann aufgrund eines vegetativen Prinzips zur Stimmabgabe aufgefordert oder sogar gezwungen wird,3) in dem also „wehrlose Analphabeten zur Urne geschleppt werden“,4) gibt es offiziell keine „Ungebildeten“ mehr. Gebildete-Ungebildete? Diese Gegenüberstellung wäre von Arroganz geprägt und enthielte eine gezielte Beleidigung der weniger „Geschulten“. Tatsächlich aber setzt dieser Band eine „allgemeine“ Kenntnis der Neuesten Geschichte voraus, mindestens so, wie sie in unseren „Allgemeinbildenden Höheren Schulen“ zum besten gegeben wird. Den Niederschlag davon bekommen wir in den Massenmedien, im Geschwätz der Stammtische, in den wenigen noch überlebenden Salons, in den Kongressen, den Parlamenten und Modebüchern. Daher ist dieser Band als Beitrag zur dritten Aufklärung gedacht. Es müssen heute endlich einmal die Aufgeklärten gründlich aufgeklärt werden. Doch an dieser Stelle möchte ich mich für einige Wiederholungen entschuldigen. Dieser Text ist so lang, daß ich manches Gesagte dem Leser nochmals in Erinnerung rufen möchte.

Die Bezeichnung „Idiotenführer“, die wir oben erwähnten, hat eine doppelte Bedeutung. Wir wollen hier nicht nur den Idiótes ansprechen, sondern in der Hauptsache auch ein idiotisches Thema behandeln, das in der Geschichte die wichtigste Rolle spielt, nämlich das Regieren. Papst Julius III. hatte einem portugiesischen Mönch in einer Audienz gesagt: „Du weißt nicht, mein Sohn, mit wie wenig Weisheit die Menschen regiert werden!“5) Abgesehen vom Strafwesen gibt es in der Geschichte der Menschheit kaum einen jämmerlicheren Mißerfolg als das Regieren und Regiertwerden. Schon Horaz klagte: „Quidquid delirant reges plectuntur Achivi.“6) Für den Christen kein Wunder im Lichte der Erkenntnis, daß Staat und Regierung eine Folge der Erbsünde sind! Es besteht auch kein Zweifel, daß Kaiser, Könige und Fürsten in der Vergangenheit, mindestens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, sich infernalischer Missetaten und gigantischer Unsinne schuldig gemacht und uns außerdem ein Mediokritätenkabinett letzten Ranges geliefert hatten. Freilich, einige von ihnen waren dauernd oder temporär geistesgestört (man denke da besonders an Georg III. von Großbritannien),7) was aber bei dem heutigen Stand der Medizin sehr schnell erkannt werden würde. Es bleibt jedoch eine fürchterliche Tatsache, daß unter den gekrönten Häuptern es zahlreiche Männer (und auch Frauen) gab, die sich sadistischer Exzesse schuldig gemacht hatten, die gestohlen, geraubt, gemordet, geschändet, gelogen, geheuchelt, gefälscht, geplündert, gesoffen, die Ehen und Verträge gebrochen, in jeder erdenklichen Weise zu eigenem Nutzen oder auch zum „Wohle“ des Landes gegaunert und Verbrechen begangen hatten. (Es genüge da die vermieteten Söldner Hessens zu erwähnen, was in unseren Tagen von Fidel Castro in brutalerer Weise wiederholt wurde.8)) Manchmal war auch unsere heilige Kirche nicht viel besser: Oft hatte sie ungeheuerliche Entscheidungen getroffen,9) bei staatlichen Atrozitäten brav mitgemacht (Inquisition),10) sich mit ihren Hierarchen, Priestern und Mönchen an gesellschaftlichen Scheußlichkeiten beteiligt – und das alles im „Zeichen des Kreuzes“. Die Worte von Frank Thieß über die Weltgeschichte als eine „riesige Folterkammer“, als ein Geschehen, das „mikrobenhaft von fürchterlichen Ängsten durchsetzt ist“,11) kommen da einem in den Sinn. Die Erde ist und bleibt ein Tal der Tränen oder, um mit Luther zu reden, „des Teufels Wirtshaus“.

Und doch müssen wir in gleichem Atem festellen, daß Krone und Kirche, Adel, Bürgertum und die großen Denker unser Europa aus dem wahrhaft finsteren Frühmittelalter nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches einer Kultur und Zivilisation zuführten, die an innerem und äußerem Reichtum, Tiefe und Breite nicht ihresgleichen hatte – und zum Teil immer noch nicht hat. Ohne Monarchie, Patriziat und Kirche sollte einem Amerikaner der Besuch Europas keine zehn Cent wert sein, denn an landschaftlicher Schönheit ist uns die Neue Welt zumindestens gleich, wenn nicht gar überlegen.

Nun aber befindet sich die Christenheit (oder wenn man will, die ehemalige Christenheit) seit rund 200 Jahren im Sog dreier Revolutionen: der Französischen, Russischen und Deutschen, die jedesmal inmitten eines großen materiellen Aufstiegs einen ebenso großen religiösen, geistigen und daher auch einen politischen Niedergang verursacht haben.12) Kein Wunder, daß wir somit an den Rand eines totalen Bankrotts gelangt sind und sogar das Überleben der Menschheit von manchen (und nicht gerade den Dümmsten) mit einem Fragezeichen versehen wird. Die große Urangst ist wieder da, und der Spießer fragt sich oft, wenn er mitten im Fortschrittstaumel von lichten Momenten geplagt wird, wieso es denn gekommen sei, daß bei all diesem „Fortschritt“13) – dem allgemeinen Wohlstand, einer phänomenalen Verlängerung aller Lebenserwartungen – eine ganz Reihe von Verfallserscheinungen die entsetzlichsten Katastrophen ankündigen.

Was also ist falsch gewesen? Wo hatte man die Weichen falsch gestellt? Wohin hatte der kolossale Optimismus des späten 18. und des ausgehenden 19. Jahrhunderts geführt?

Heute versprechen die utopischen Romane nicht mehr wie zur Zeit Bellamys14) ein Paradies auf Erden. Selbst im ”tiefsten Frieden“ (der aber nur da oder dort zu finden ist) nistet schrankenloses Unglück: Drogensucht, Verbrechertum, Selbstmorde, Terrorismus, der allgegenwärtige Straßentod,15) lähmende Einsamkeit, Familienzusammenbrüche, Fötalmord in ungeahntem Ausmaß, sexuelle Verirrungen, wachsende Neurosen mit steigendem Irrsinn. Über all dem aber schwebt der Neid, der inzwischen zur größten politischen Kraft angewachsen ist, gemischt und angeheizt von einer gewaltigen Intoleranz, die nur zeitweilig von einer tödlichen Indifferenz abgelöst wird. Diese Unduldsamkeit16) erträgt es nicht nur keineswegs, daß es andere besser haben als man selbst, sondern auch, daß andere es überhaupt wagen, anders zu sein, anders zu denken, zu fühlen, äußerlich anders zu erscheinen. Der Herdentrieb lebt sich orgiastisch aus: am liebsten würde man alle Andersgearteten einsperren, exilieren oder umbringen. Und da die Toleranz so groß auf die Fahnen geschrieben wird, kann man überzeugt sein, daß sie weniger denn je vorhanden ist. Was immer ein Land, ein Stand, ein Volk als seine Kapitaltugend anführt, ist doch imfner entweder nicht vorhanden oder schwer bedroht. Darum reden Hungrige stets vom Essen, Arme vom Geld, Überarbeitete vom Urlaub, Deutsche von der Treue, Amerikaner von der Gleichheit, Wiener vom „Goldenen Herzen“, Ostdeutsche Tyrannen von der Demokratie und Russen vom Gemeinschaftsgeist.17)

Was wir hier also zu tun gedenken ist, es dem Leser drastisch vor Augen zu führen, warum wir es so „herrlich weit gebracht“ haben. Um dies zu tun, geben wir hier einen Abriß der Neuesten Geschichte, der einen (vielleicht vergeblichen) Versuch darstellt, ihm manche schamvoll verschwiegenen Tatsachen mitzuteilen und das allgemeingängige Bild der letzten 200 Jahre durch Korrekturen zurechtzurücken. Was da in dieser langen „Zwischenzeit“ zusammengelogen wurde, geht auf keine Kuhhaut, und wir können hier nur mit einigen wenigen Angaben dienen, die auf die Ursachen unseres Elends hinweisen. Denn, wenn auch die Existenz der Menschheit vor 1789 nicht rosig war, so war sie nicht so verzweifelt. Wir reden hier nicht vom Lebensstandard, der natürlich für unsere jetzigen Begriffe in der fernen Vergangenheit unerträglich war. Ein Ludwig XIV., der in Versailles hauste, hatte – zumindestens materiell gesehen – eine viel niedrigere „Lebensqualität“ als heute ein deutscher Facharbeiter: Man erinnere sich daran, daß Versailles im Sommer so stank, daß Spaziergänger um den Bau einen weiten Bogen machten, daß der roi soleil seine Läuse in der Perücke nie los wurde, daß ein deutscher Kleinbürger heute auf einen Knopf drücken kann, um kalte oder heiße Luft zu bekommen, auf einem anderen Knopf ein färbiges Filmtheater, ein Konzert mit klassischer oder deklassierter Musik. Er kann die Segnungen eines modernen Zahnarztes, einer Operation mit Anästhesie oder bequeme Luftreisen in fremde Länder genießen – und dies, anstatt mit einer Kutsche, einem wahren Marterkasten, auf holprigen Landstraßen mühsam weiterzukommen.

Wir haben seitdem in ungeahntem Maße den „Fortschritt“, der uns alle aber nicht sonderlich glücklich macht. Wird er uns weggenommen, so entsteht brüllendes Unglück. In Österreich allein gibt es über hundert Selbstmorde im Jahr von jungen Menschen, denen man den Führerschein entzogen hat. Ohne die sausende Stahlschachtel sind diese Burschen restlos Niemande und fühlen sich wie ausgelöscht. Die Utopien aber trösten nicht mehr. Der Aufstand gegen die Technik hat längst begonnen, denn sie entzückt und enttäuscht zur selben Zeit und zeigt zunehmend ihr wahres Gesicht: Sie produziert viel Langweile, unmenschliche Frondienste und verlangt herrisch eine eiserne Disziplin. Die moderne Fron hat aber auch einen wirtschaftlichen Charakter: Einst hatte in einigen Teilen – aber auch nur in Teilen! – Europas der Leibeigene an einem, höchstens aber an zwei Tagen in der Woche für den Grundbesitzer Robotdienste zu leisten. Heute schuftet der Arbeiter und der Bürger nicht selten am Montag und am halben Dienstag für den Landlord, den Hausbesitzer, die andere Hälfte des Dienstags und den ganzen Mittwoch für den „Vater Staat“. (Da gibt es vor den Schergen des Grundherrn nicht mehr die Flucht in die ferne Stadt, wo man nach Jahr und Tag ein freier Bürger werden konnte. „Stadtluft macht frei!“ ist eine Feststellung, die heute wie ein übler Scherz klingt.) Ja, selbst die Freizeit, einmal in der fernen Vergangenheit unter dem Namen ‚Muße‘ reichlich vorhanden, dann zusammengeschrumpft, um heute wieder aufgebläht zu werden, ist problematisch geworden, denn diese zu bewältigen ist viel schwieriger als die Arbeit. Ins Geschirr gespannt kann schließlich jedes Tier arbeiten, aber zur positiven Bewältigung der Muße bedarf es hoher Qualitäten, sorgfältiger Vorbereitungen, Intelligenz, Selbstzucht und anderer Tugenden mehr. Die modernen Circenses in der relativ noch harmlosen, leicht verblödenden Form des Fernsehens, des geistlosen Herumreisens und in der viel gefährlicheren Form des Zusehersports, der Sex-Shops, Diskotheken, Porno-Filme für Spätpubertäre, des Alkohols und der Drogen bringen keinen inneren Gewinn.

Doch die ganz große Bedrohung kommt von der Weltgeschichte, die „politisch“ gestaltet wird. Und die Politik steht in Wechselwirkungen mit der Gesellschaft, der Religion, der Philosophie und der Wirtschaft. Auch Technik und Militärwesen stehen in diesem Koordinatengeflecht. Ideologien, größtenteils von Philosophien und auch Theologien abgeleitet, haben die Religion als politischen Faktor weitgehend, aber nicht völlig ersetzt. Doch der Hebel unserer Existenzgestaltung liegt besonders im politisch-geschichtlichen Werden, wobei aber bemerkt werden muß, daß auch der Krieg immer noch zum Teil der Vater der Dinge ist,18) wenn er auch leicht zum Ende aller Dinge in der Zukunft führen könnte.

Woher kommt dann aber der politische Abstieg, der zum rein materiellen, wissenschaftlich-technischen Fortschritt in so krassem Widerspruch steht? Die Dekadenz äußerte sich natürlicherweise auf der politischen Ebene am allermeisten, weil hier schon von allem Anfang an eine Achillesferse der Menschheit bestand. Die moralische Dekadenz hatte religiöse Ursachen im engeren Sinn, ging aber mit dem politischen Abstieg Hand in Hand. (Zwischen den beiden Verfallserscheinungen gibt es selbstverständlich zahllose Wechselbeziehungen.) Doch die politische Krise kommt nicht von ungefähr und sie ist eher intellektueller als ethischer Art. Das Böse gab es zu allen Zeiten. Es wirkt immer. Wahrscheinlich ist die Zahl echter Bösewichte heute nicht größer als vor tausend Jahren. Sie haben aber größere Chancen, weil das Böse dank der gefallenen Natur des Menschen eine größere Faszination besitzt als das Gute. Hitler und Stalin waren populärer als Ludwig der Heilige oder Heinrich der Heilige. (Darum ist auch ein Kriminalroman in der Regel fesselnder als eine Hagiographie.)

Doch die Dummheit, wahrscheinlich in der Endsumme auch nicht größer als früher, hat heute einen führenden Platz bekommen. Der Kampf gegen Vernunft, Verstand, Wissen, Weisheit und Erfahrung – fünf verschiedene Elemente – tobt seit 200 Jahren, und eigentümlicherweise hat dieser Verfall bei uns mit der Anbetung der „Göttin der Vernunft“ richtig begonnen. Diese wurde tatsächlich in der Person einer Dirne sehr treffend und anschaulich in der säkularisierten Notre Dame Kathedrale während der Französischen Revolution „verehrt“. So falsch und so ungeheuerlich war dieses staatliche Ritual der ersten modernen Demokratie allerdings auch nicht, denn im Menschen ist die Vernunft nur dann achtenswert, wenn ihr Träger nicht nur klug und gebildet, sondern auch charakterfest ist. Sonst hätte Luther recht, als er sagte, die Ratio wäre eine Hure19) oder auch ein Esel, den man mit dem Stock bald hierher und bald dorthin treiben kann. Es ist also auch schon daher kein Wunder, daß das Elend der letzten 200 Jahre nicht etwa von einem Minimum an Weisheit, sondern von einer geradezu gigantischen und zugleich auch aggressiven Dummheit gezeichnet wird. Die Geringschätzung der geistigen (und auch der moralischen) Tugenden20) hat jedoch weltanschaulich-ideologische Ursachen. Und damit kommen wir zur ersten der drei Revolutionen, die unsere Zeit geformt haben, zur Französischen, die auch die beiden folgenden am Gewissen hat.

Die falsch gestellten Weichen

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