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2. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION

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Die Französische Revolution war ein Aufstand von Mauleseln und Pferden, geführt von Affen, mit den Kehlen von Papagaien.

H. A. Taine

Die Französische Revolution bedeutet für unsere Geschichte die Wiedergeburt der Demokratie und damit den Anfang der Neuesten Zeit, in der wir uns trotz der atomaren Entwicklung immer noch befinden.

Zuerst muß allerdings die Frage beantwortet werden, was die Demokratie eigentlich darstellt. Sie heißt wörtlich übersetzt (kraftvolle) Herrschaft des Volkes, denn krátos heißt auch ‚Gewalt‘. Eine mildere Form wäre die ‚Demarchie‘, während die Monokratie die unbeschränkte Herrschaft eines Einzelnen ist. Diese wiederum käme der Diktatur, nicht aber automatisch der Tyrannis gleich.

Die Demokratie gibt die Antwort auf die Frage, wer regieren soll, die damit beantwortet wird, daß es die Mehrheit der politisch gleichgestellten Bürger sein soll – entweder in Person oder durch Stellvertreter, Abgeordnete. Sie ruht also auf zwei Prinzipien: der Mehrheitsherrschaft und der politischen Gleichheit. Sie hat mit der Freiheit nichts zu tun, die eine Forderung des Liberalismus ist. Der echte Liberalismus – heute gibt es einen Schwindelliberalismus wie es Schwindeldemokratien gibt1) – beantwortet lediglich die Frage, wie regiert werden muß und erklärt: „Gleichgiltig, wer regiert, es muß so regiert werden, daß der Bürger die größtmögliche Freiheit genießt, die größtmögliche Freiheit, die mit dem Gemeingut (bonum commune) vereinbar ist.“ Der echte Liberalismus (es gibt deren vier Spielarten, siehe S. 154 ff) befürwortet also die Freiheitlichkeit. So versteht es sich, daß es eine liberale Diktatur oder eine liberale absolute Monarchie, nicht aber eine liberale Tyrannis geben kann und natürlich auch nicht eine demokratische absolute Monarchie.

Hier aber gehört erwähnt, daß Demokratie nicht mit Demophilie verwechselt werden soll, der Liebe zum ‚einfachen‘ Volk.2) Eine Diktatur oder eine absolute Monarchie kann demophil, aber nicht demokratisch sein! Und zu bemerken sei auch gleich, daß die Demokratie seilst mit dem Liberalismus eine Synthese eingehen kann, doch wird dann immer latent oder auch offen, zumindestens aber auf lange Sicht hin, zwischen den beiden Prinzipien der Gleichheit und der Freiheit ein innerer Gegensatz aufbrechen, der früher oder später zu schweren Krisen führt. Alexis de Tocqueville sah voraus, daß die Demokratie entweder im Chaos oder in einer kollektiv-totalitär-bürokratischen Zwangsherrschaft enden müsse.3) Doch war es auch schon Plato offenbar, daß die Demokratie normalerweise in die Tyrannis mündet.4) Es besteht auch kein Zweifel, daß die beiden Prinzipien der Demokratie, die der Gleichheit und der Mehrheitsherrschaft, keine wissenschaftlichen und schon gar keine theologischen Grundlagen besitzen und daher, wie zwei führende amerikanische Gelehrte hervorgehoben haben, die Demokratie in unserem so wissenschaftlichen Zeitalter ein gar wunderliches und erstaunenswertes Phänomen darstellt, das eigentlich nur als mystische Säkularreligion weiterleben kann.5)

Die wahren Wurzeln der Demokratie sind individualpsychologisch und massenpsychologisch. Schon Bertrand Russell, dem niemand extremkonservative Gefühle nachsagen kann, bestand darauf, daß die Demokratie primär vom Neid genährt wird.6) Auch dürfen wir hier die identitär-animalischen Urtriebe des Menschen nicht vergessen.7) Sie sind neben der technischen Entwicklung der wichtigste Faktor in der grimmigen Landschaft der Neuesten Zeit. Kein Wunder, denn die technologische Massenproduktion ist durch ihre Massengüter massenformend und massenfördernd. So natürlich auch die zum Teil elektronisch „vielfältigenden“ Massenmedien.

Auch darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß die Demokratie auch gar nicht „Volksherrschaft“ ist, sondern ein Dominium der Mehrheit über die Minderheit, wobei nichteinmal immer und überall die Minderheiten eine Möglichkeit haben, zu Mehrheiten zu werden. Wann hatte die (katholische) Zentrumspartei im Zweiten Reich die Möglichkeit, eine Mehrheit zu erringen? Oder die katholische Social Democratic Labour Party in Nord-Irland? Oder irgendeine Bauernpartei in einem hochindustrialisierten Land? Solche Möglichkeiten für alle Parteien gab und gibt es dort, wo sie bloße Ins und Outs sind, also in entintellektualisierten und ideologisch uniformen Ländern wie Neuseeland oder den Vereinigten Staaten.

Vergessen aber darf man auch nicht, daß die Demokratie bei den Primitiven sehr wohl vorhanden ist; sicherlich ist sie eine der ursprünglichsten gesellschaftlich-politischen Formen. Zwar gibt es die Familie von allem Anfang an (reicht sie ja auch ins Tierreich hinunter),8) aber doch herrscht bei den Allerprimitivsten – zumindest unter Gleichaltrigen – ein Gefühl der ungefähren Gleichheit. In der Gruppe gibt es noch keine richtige Führung: die Entscheidung kommt von Mehrheiten, die sich herauskristallisieren. Erst mit der Zeit stellt es sich heraus, wer klüger, wissender, erfahrener, ja auch physisch stärker ist, und wem man deshalb besser folgen sollte. Später erst wird diese Führung kollektiv oder echt personal, schließlich sogar erblich. Von Freiheit ist auf diesem Niveau allerdings noch nie die Rede. Man darf nicht vergessen, daß gerade Primitive nur ein Minimum an Freiheit genießen und der Begriff der Persönlichkeit eigentlich erst durch das Christentum mit seiner jüdischen Vorgeschichte in die Welt gekommen ist.9) Die Urdemokratie wird von einer Reihe von Ethnologen und Anthropologen bestätigt.10)

Herrschaft ist allerdings immer schwer zu ertragen. Der Freiheitsdrang ist mehr oder weniger immer da. Herrschaft aber ist Folge der Erbsünde oder, wenn man will, der angeborenen Schwächen und Unvollkommenheiten der Menschen. In der Heiligen Schrift wird Herrschaft zum erstenmal als Teil des Fluches erwähnt, den Jahwe auf Eva herunterdonnerte: „Nach dem Mann wird dein Verlangen sein, und er wird über dich herrschen.11)“ Theologen haben in der Vergangenheit oft darüber gestritten, ob es ohne Erbsünde (menschliche Unvollkommenheit) den Staat gegeben hätte. Der Konsensus der meisten (aber nicht aller) geht in die Richtung der Unbedingtheit des Staates, wir aber schließen uns der Überzeugung einer Minderheit an.12) Eine Gesellschaft hätte es unter allen Umständen gegeben, nicht aber den Staat. Verkehrspolizisten? Wie schon José Ortega y Gasset hervorgehoben hat, ist das Automobil Symbol unserer Sterblichkeit. Wenn man unsterblich ist, hat man Zeit, von Paris nach Saigon zu Fuß hinüberzuwandern. Vielleicht macht ein Sportwagen Vergnügen, um mit ungeheurer Geschwindigkeit dahinzuflitzen, aber den Unsterblichen stört auch der Frontalzusammenstoß mit einem anderen Wagen nicht. Reparatur des Autos? Sicherlich nicht im „Schweiß der Nasenlöcher“, wie es in der Bibel heißt. Arbeit macht Spaß!13)

Wenn aber das Beherrschtwerden ein Fluch oder Teil eines Fluches ist, dann will man ihm entgehen – so wie der Krankheit, dem Tod, der schmerzhaften Geburt, der schweren Arbeit, dem Patriarchat, der Scham und dergleichen mehr. Man will die Fremdbeherrschung durch die Eigenbeherrschung ersetzen. „Wir werden nicht regiert; wir regieren uns selbst“, ist die begeisterte Formel. Die übliche Lösung des Problems ist aber lediglich die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit – oder auch die Einstimmigkeit, wie sie in Polen (mit dem Liberum Veto als Sanktion) praktiziert wurde und schließlich zum Niedergang und den Teilungen Polens führte.14) Sie war selbstmörderisch, aber logisch. Denn wer nicht vom Nachbarn oder vom Vertreter der Nachbarn beherrscht werden will, muß auf die Einstimmigkeit bestehen, die es auch heute noch im Geschworenensystem der amerikanischen Gerichte gibt.15) Darüber hinaus gäbe es aber noch eine andere „Lösung“: das Los. Mehrheitsherrschaft und das Los kennzeichneten die athenische Demokratie, die sich zuerst allerdings Isonomia, „Gleichrechtlichkeit“, nannte.

Hier also, auf griechischem Boden, erlebten wir eine modernere, kultiviertere Erneuerung der Primitivdemokratie unter Volksführern (demagogoi), wobei zu bemerken ist, daß auch der griechische Begriff des Demos (analog dem deutschen „Volk“) zwiespältig ist. (Ochlos ist allerdings die Hefe.) Die athenische Demokratie hatte Staatsmänner wie Perikles, aber auch eine ganze Reihe von Pöbelanführern. Die antielitäre Grundeinstellung eines guten Teils der Athener kann kaum in Zweifel gestellt werden. Der Ostrazismus war ein purer Ausdruck des Massenneids.

Der dunkelste Augenblick in der Geschichte der Demokratie Athens war jedoch die Verurteilung des Sokrates aus politischen Gründen mit politischen Argumenten. Im Gymnasium bekamen wir den Justizmord an Sokrates verfälscht dargestellt. Die „Verführung der Jugend“ stellten wir uns nur zu oft sexuell vor, aber tatsächlich war sie ideologisch: Sokrates kritisierte die Demokratie, die ihm als völlig vernunftwidrig erschien. Er zitierte Homer und Hesiod gegen die Volksherrschaft, die Richter aber gehörten dem demokratischen Lager an, das nach dem Fall der Dreißig Tyrannen wieder zur Macht gekommen war.16)

Das erklärt auch die antidemokratischen Überzeugungen seines Schülers Plato und die scharfe Kritik der Demokratie bei Aristoteles,17) der nach einem neuen Ausbruch der Demokratie von Athen nach Chalkis floh, um nicht (in seinen Worten) das Schicksal des Sokrates zu erleiden.

Die Wirkung dieses sokratischen Traumas hielt auch durch das ganze Mittelalter bis in die Neuzeit an. Die Scholastiker, in die Fußstapfen des Aristoteles tretend, unterschieden drei gute Formen der Regierung in steigender Reihenfolge: die Republik als die schwächste, die Aristokratie als bessere und die Monarchie als die beste. Umgekehrt sahen sie in der Tyrannis als Karikatur der Monarchie (corruptio optimi pessima!) die schlechteste, in der Oligarchie eine weniger schlechte, in der Demokratie aber von den schlechten Staatsformen noch die erträglichste – was aber den Spätscholastiker Bellarmin nicht davon abhielt, vom deterrimum regimen democratiae zu schreiben.18) Es gab zwar während des Mittelalters Republiken, aber diese wurden in der Mehrzahl oligarchisch oder aristokratisch verwaltet. (In der Schweiz fungierten diese Kantonaloligarchien noch bis ins 20. Jahrhundert hinein.) Tatsächlich aber war es auch so, daß nicht die Monarchie einem nach Macht strebenden Adel die größten Chancen gab, sondern die Republik (oder die Scheinmonarchie), denn in der Monarchie kann der Adel nur eine zweite Geige spielen. In antimonarchischen Linksbewegungen haben deshalb Adelige stets verhängnisvoll mitgewirkt. Wie dem auch immer sei, von Europas Geistesgrößen allerersten Ranges hat kaum jemals einer im reiferen Alter an die Überlegenheit der Demokratie geglaubt.

Die geistigen Väter der Französischen Revolution, die zur Wiederbelebung der Demokratie nach fast zweitausendjährigem Schlummer führte, waren vor allem zwei Männer: Jean-Jacques Rousseau und der Marquis de Sade, wobei auch einige andere Geister mithalfen, so Morelly, Diderot, die übrigen Enzyklopädisten, aber auch Voltaire, obwohl letzterer wahrlich für die Demokratie als solche nichts übrig hatte. Allerdings muß man sich auch daran erinnern, daß der „Demokratist“ Rousseau diese Staatsform nur für sehr kleine Einheiten, die nicht über die Größe eines Schweizer Kantons hinausgingen, verwirklichen wollte.19) Er sah für mittlere Länder in der Oligarchie und für große in der Monarchie die geeignete politische Form. Doch war sein Prinzip des Contrat Social, also des Gesellschaftsvertrages, deutlich totalitär, noch mehr aber seine These von der Volonté Générale, die er aber nicht in Gegensatz zur Freiheit stellen wollte. Schließlich konnte man auch durch den „Allgemeinwillen“ zur Freiheit gezwungen werden.20)

Sicherlich war Rousseau ein seltsamer Vogel, ein schwerer masochistischer Neurotiker, der gerne die Rolle eines pädagogischen Fachmanns spielte, aber seine eigenen Kinder in Waisenhäuser abschob. Noch bedeutend exzentrischer war jedoch Aldonse Donatien Marquis de Sade, der nicht nur dem Sadismus seinen Namen gegeben hat, sondern auch ein bedeutender Vertreter des materialistischen Determinismus war. In aller Wahrscheinlichkeit hat er den Sturm auf die Bastille verursacht. Schließlich befehligte er als Jakobiner die Section des Picques21) – bis er Robespierre verdächtig wurde und im Gefängnis landete. Der „Göttliche Marquis“, muß man wissen, wurde auf Bitten seiner Schwiegermutter von Ludwig XVI. durch ein Lettre de Cachet in der fast verödeten Bastille eingekerkert, wo er ein recht fideles Leben führte.22) Seine Mithäftlinge waren vier Wechselfälscher, zwei verkommene Standesgenossen des Marquis und ein Irrer, der dort zur Beobachtung eingeliefert worden war. Diese sieben Gefangenen wurden von 80 Invaliden und 40 Schweizern bewacht. Der Gouverneur de Launay verhandelte mit einem wütenden Mob, der diese Zwingburg königlicher Tyrannei erstürmen wollte und schließlich ihm wie auch seiner Besatzung freien Abzug versprach. Als aber der Gouverneur mit der Mannschaft, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, die Festung verließ, wurden sie von der wortbrüchigen Meute überwältigt und mindestens die Hälfte mitsamt dem Gouverneur auf die viehischeste Weise umgebracht. Man versuchte, de Launay den Kopf abzuschneiden, was den fortschrittlichen Verbrechern nicht gelang, worauf ein Fleischergeselle gerufen wurde, qui savait faire les viandes, der sich also auf eine Zubereitung von Fleischwaren verstand. Aber auch dieser war in seinen Operationen nicht sehr geschickt. Selbst das Messer war zu stumpf. Auf jeden Fall aber dient dieses widerliche Massaker seit 1880 als Basis des Nationalfeiertags der zahlreichen französischen Republiken – bis heute fünf, wenn nicht bald sechs.

Die Schuld an diesem ungeheuerlichen Ereignis trägt Sade zu großem Teil, denn er war in der Bastille bis zum 4. Juli – also zehn Tage vor dem Sturm – eingesperrt und versuchte mit der Hilfe eines Trichters, die Menschen in diesem Stadtviertel aufzuputschen. Das Märchen, daß „zahlreiche politische Gefangene“ dort schmachteten, wurde allgemein geglaubt. Der Gouverneur traute sich nicht, seinen Gefangenen zu fesseln, in den Keller zu relegieren oder gar in eine Zwangsjacke zu stecken. Er bat den König, den Marquis zu „versetzen“, und da man seine grausamen Perversionen kannte, wurde er schließlich in das Spital für geisteskranke Kriminelle nach Charenton überführt. Als später die Revolution im vollen Gang war, wurde er dort entlassen und beteiligte sich dann hochpolitisch auf der äußersten Linken. Unter Napoleon wanderte er später wieder nach Charenton, wo er unter wahnsinnigen Verbrechern „linke“ Theaterstücke inszenierte. Er starb während der Hundert Tage Napoleons, und wird heute wieder von der Neulinken gefeiert.23) Als Pornograph zeigte er eine unerschöpfliche Phantasie. Der Gleichheitswahn, Perversitäten, systematischer Materialismus, fanatischer Haß auf Altar und Thron machten aus diesem völlig aus der Art geschlagenenen, aber strikt logisch bis zu den letzten Konsequenzen denkenden Philosophen eine Schlüsselfigur unserer jetzigen Zeit.

Doch was waren abgesehen von einer kleineren Schar von Denkern die geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen der Französischen Revolution? Gerne erwähnt man die „Ansteckung“ adeliger französischer Offiziere, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an der Seite der Aufständischen gekämpft hatten, mit freiheitlichen Ideen.24)

Es gab auch solche, die den Charakter des Unabhängigkeitskrieges, der beileibe keine Revolution war und als solche auch gar nicht verstanden wurde, völlig verkannt hatten.25) Da war dieser eitle Ehrgeizling Lafayette, der in der Französischen Revolution eine nicht unbedeutende Rolle spielte, aber auch Charles–Armand Tuffin, Marquis de la Rouërie, der ein Freund Washingtons war, dann aber als Hauptorganisator der Chouannerie in der Bretagne starb.26) Hier also haben wir es zum Teil mit dem ersten großen Mißverständnis zwischen Europa und Amerika zu tun, denn die Founding Fathers, die Gründerväter, haßten – in den Worten Charles Beards – die Demokratie mehr als die Erbsünde.27) Dazu kam die in französischen Intellektuellenkreisen fast abgöttische Verehrung des britischen Erbfeinds und seiner Einrichtungen, von der besonders Voltaire ergriffen war. Auch die Rolle Benjamin Franklins, des amerikanischen Gesandten in Paris, ist nicht zu unterschätzen.28)

Soziale und echte wirtschaftliche Ursachen gab es kaum. In dieser Beziehung kam die Revolution, wie Pierre Gaxotte uns zeigte, als Blitz aus heiterem Himmel.29) Die Leibeigenschaft, mit der Ausnahme einiger verstecker Winkel im Osten des Landes, war längst ausgestorben, doch gab es zwischen dem großen und dem kleinen Grundbesitz oft endlose juridische Streitigkeiten. Die Kette von Prozessen riß nie ab. Das zänkische Temperament des Franzosen, das rouspeter, wirkte sich hier besonders übel aus.30) Der Neid blühte hier wie auch anderswo am europäischen Kontinent. Doch drohte und kam auch der Staatsbankrott, weil das Steuersystem völlig veraltet war und ohne Einberufung der Stände auch nicht reformiert werden konnte.

Hier allerdings lag eine echte Wunde vor. Frankreich (wie auch die meisten anderen Länder Europas) hatte ursprünglich das klassische Regimen Mixtum, die Mischregierung aus monarchischen, adeligen und populistischen Elementen, die auch von Thomas von Aquin gepriesen wurde.31) Doch Ludwig XIV. hatte nie seine Schwierigkeiten mit der Fronde der Aristokraten vergessen, die ihn zweimal in der Zeit seiner Minderjährigkeit fast um Thron und Krone gebracht hätte. Auch das Pariser Parlement hatte für den Hochadel Partei ergriffen. Darum wurden dann die Drei Stände von Ludwig XIV. nicht mehr einberufen, und so blieb es auch bei seinen beiden Nachfolgern. Aus der verfassungsmäßigen war eine absolute Monarchie geworden. Es muß aber auch vermerkt werden, daß die corps intermédiaires, die vielen vermittelnden Körperschaften, wie die lokalen Parlamente, Gerichtshöfe, Kirche, Standesorganisationen, den königlichen Absolutismus doch wiederum sehr relativ gestalteten. Ein Ludwig XVI. konnte weder willkürlich Einkommensteuern vorschreiben, noch friedliche Bürger zum Wehrdienst zwingen oder gar die Diät seiner Untertanen vorschreiben, indem er ihnen den Genuß von Champagner, Weinen, Likören und Bier verbot. Solche Eingriffe ins Privatleben blieben den Demokratien vorbehalten.

Edmund Burke, der Vater des modernen Liberalkonservatismus, der vor dem Ausbruch der Revolution viel in Frankreich herumgereist war, gab uns ein sehr anschauliches Bild von den Ständen und ihrem gegenseitigen Verhältnis. Er notierte, daß der Adel einen viel familiäreren Kontakt mit den unteren Volksständen hatte als in England. Er setzte (mit Erstaunen) hinzu, daß der Adel in den Städten keinen und am Lande nur wenig Einfluß ausübte. Doch kritisierte er den Adel für seine krankhafte Anglomanie, die politisch sicher zu seinem Untergang führen würde. Moralisch war seiner Ansicht nach der Adel eher lax und zeigte keine große Bereitschaft, die Neureichen gesellschaftlich einzubeziehen. „All dieses Geschrei“, bemerkte er, „halte ich für gekünstelt und gewollt.“32) Über die katholische Hierarchie meinte er, sie sei „offen und nicht eng, Leute mit dem Herzen von Gentlemen, Männer mit Humor, die weder arrogant noch auch servil sind. Sie schienen mir Männer von Qualität zu sein.“33)

Doch muß man auch sagen, daß schon lange vor der Revolution eine liberalistische Welle über das Land gezogen war. Diese war größtenteils durch die „Aufklärung“ ausgelöst worden. Ludwig XVI. war zwar ein schwacher Herrscher, aber ganz und gar kein Finsterling; er behauptete sogar, daß er ohne die Encyclopédie (die er komplett besaß) nicht leben konnte. 1788 wurden die Reformierten emanzipiert (sieben Jahre nachdem Josef II. für die österreichischen Erblande das Toleranzpatent erlassen hatte); auch die Emanzipation der Juden hatte große Fortschritte gemacht. Zwar war der Dritte Stand34) noch von der Offizierslaufbahn ausgeschlossen, aber dieses Gesetz wurde umgangen, indem man verdiente Unteroffiziere schnell adelte.35) Dennoch strebte der Bürgerstand nach Gleichberechtigung, vor allem in gesellschaftlicher Beziehung, und dies, obwohl (oder gerade weil) Adel und Bürgertum sich gesellschaftlich trafen. Außerdem war es dem reichen Bürgertum in Frankreich möglich, sich durch Landkäufe in den Adel hineinzuschleichen. Bei Ausbruch der Französischen Revolution war schon ein beträchtlicher Sektor der Adelstitel erschwindelt. (Heute rechnet man, daß vom französischen Adel zwei Drittel bis drei Viertel „unecht“ sind, was in Mitteleuropa der Katalogisierungen halber unmöglich wäre.)36) Sehr zahlreich war der Verdienstadel und der Beamtenadel – die Noblesse de la Robe. Man denke da nur an Männer wie Lavoisier und Malesherbes.

Doch gerade die Liberalisierungen gaben der kommenden Revolution den Antrieb. Dasselbe sah man im 20. Jahrhundert in Rußland. Es ist ein Ammenmärchen, daß „Reformen“ revolutionäre Ausbrüche hintanhalten oder bremsen. In „Reformzeiten“ gibt es viele, die durch Veränderungen Vorteile erlangen, aber es sind eben nicht alle: daraus entsteht eine ganze Anzahl von „Erniedrigten und Beleidigten“. Zu diesen muß man dann psychologisch auch jene zählen, die nun nicht mehr „Privilegierte“, sondern nur „Gleiche“ sind. Sie verlieren das eine „Privileg“ und wollen dafür ein anderes.37) L’appetit vient en mangeant. Daher brechen sehr wohl Revolutionen auch in Zeiten des allgemeinen Wohlstands aus, und der Glaube, daß revolutionäre Bewegungen sich in der Regel gegen einen „unmenschlichen Druck“ wenden und nur dann kommen, wenn „das Faß überläuft“, ist ein Produkt jener nur allzumenschlichen Tendenz, in der Geschichte nur logische und lehrhafte Prozesse sehen zu wollen, die man Gymnasiasten verständlich machen kann.

Es war also der Staatsbankrott, der zur Einberufung der Stände führte, die allerdings schon früher vom Adel verlangt worden war. 1788 wurde der früher erwähnte Marquis de la Rouërie mit einer Reihe von Standesgenossen, die von Ludwig XVI. demonstrativ die Einberufung der Stände verlangt hatten, kurz eingesperrt. Überflüssig zu sagen, daß dies die Loyalität dieser Männer zu ihrem König keineswegs beeinträchtigte. Im Mai 1789 kamen die drei Stände zusammen und es wurde ihnen zugestanden, nach Köpfen abstimmen zu dürfen. (600 des Dritten Standes und je 300 für Adel und Klerus.) Im Juni wurde beschlossen, nicht mehr auseinanderzugehen, bis nicht eine neue Verfassung angenommen war. Der Wortführer für den Dritten Stand war der Abbé Siéyès, dessen Flugschrift: „Was ist der Dritte Stand?“ einen Riesenerfolg erzielte. (Doch die Geschichte hat auch humorvolle Seiten: Dieser Priester, der sich so vehement für die Bürger einsetzte und später für die Hinrichtung Ludwigs XVI. gestimmt hatte, wurde von Napoleon in den Grafenstand erhoben.) Durch diese radikalen Veränderungen wurde jedoch das Gebäude der Monarchie psychologisch schwer erschüttert. Es wurde alles in Frage gestellt. Einen Monat später wurde die Bastille gestürmt. Noch schien es, daß die verfassungsmäßige Monarchie – das große Verbrüderungsfest zwischen König und Volk auf dem Champ de Mars! – sich konsolidieren würde, doch der organische Übergang gelang nicht.

Was 1792–1794 geschah war ein vulkanischer Ausbruch von Volksleidenschaften, in dem ein verrotteter Adel, verkommene Priester und ein rachsüchtiges Bürgertum die Anführer der Massen wurden. Die Septembermorde (1792), für die auch Danton verantwortlich war, leiteten diesen Zerfallprozeß ein. Die auch äußerst aktive Hefe des Volkes hatte aber noch keineswegs den Charakter eines Industrieproletariats, doch auch die Bauernschaft – mit Ausnahme des Westens – war in Bewegung geraten. Das Land war vor Schrecken wie gelähmt. Nur die Vendée und die Bretagne erhoben sich gegen die Regierung in Paris. Dort, im fernen Westen, war noch ein patriarchales Verhältnis zwischen dem großen Besitz und der Bauernschaft vorhanden.

Die Unterdrückung dieser Aufstände wurde mit bestialischer Brutalität durchgeführt. Metternich, über diese Greueltaten unterrichtet, sagte im Hinblick auf den Wahlspruch der Revolution, daß er, hätte er einen Bruder, diesen lieber Vetter nennen würde. Anatole France hat einen Teil dieser Blutorgien in seinem berühmten Roman Les dieux ont soif geschildert. Kein Zweifel, „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“, was man auch in der Sowjetunion mit ihren widerlichen Schauprozessen beobachten konnte: „Die Revolution frißt ihre eigenen Kinder.“ Die Mischung von emotionsgeladenem Idealismus und kalter Schurkerei war immer eine explosive gewesen, und so richtete sich der Neid, zeitweilig gestillt durch die Abschlachtung und Ausraubung Andersdenkender, schließlich gegen die eigenen Parteigenossen, die man des Verrats oder der „Abweichung“ bezichtigte. Allerdings unterschied sich die Französische in dieser Hinsicht von der Russischen und der Deutschen Revolution, denn in Frankreich beteiligte sich das liebe Volk in höchst eigener Person an diesen viehischen Untaten, während in Rußland und in den deutschen Ländern der Vernichtungsprozeß hinter verschlossenen Türen oder fernen „Lagern“ sich vollzog. So wurde die Princesse de Lamballe von einer wütenden Volksmenge umgebracht und dann regelrecht ausgeweidet und zerfleischt. Aus ihrem abgehackten Kopf, ihren Schamlippen und dem Venusberg wurde eine surrealistische Kombination zusammengeheftet und dann im „Triumph“ auf einer Stange durch die Straßen von Paris getragen.38) Die Tinte auf der „Deklaration der Rechte des Menschen und Bürgers“ war kaum noch trocken. Anscheinend bereitete die berühmte Atlantic Charter auch das „Klima“ für Dresden, Hiroshima und Nagasaki vor.

Wahrscheinlich aber fanden die ärgsten Schandtaten in der Vendée und in der Bretagne statt. Dort hausten die republikanischen Höllenbrigaden des Generals Turreau. Der Präsident Cholet dieser Region schrieb Turreau, daß seine Soldaten Schrecken verübt hätten, deren selbst Kannibalen nicht fähig wären.39) Einige der entsetzlichsten Untaten wurden von den Republikanern verübt, nachdem die Stadt Le Mans in ihre Hände gefallen war. Alle verwundeten „Gegenrevolutionäre“ wurden in den Militärspitälern ermordet. Die Frauen und Mädchen wurden dort ausgezogen, geschändet, wie Schweine abgestochen und schließlich mit nackten männlichen Leichen in obszöne Stellungen gebracht. Diese reizvollen Expeditionen (promenades genannt) wurden auch durchgeführt, um die grande armée des bouches inutiles, die „Riesenarmee der überflüssigen Mäuler“, zu reduzieren. Nicht minder grauenhafte Szenen spielten sich in Arras ab, wo der Revolutionsheld Lebon und seine edle Gattin sich von einem Balkon aus an den viehischen Greueltaten der Henker ergötzten. Man ahmte hier die batteries nationales von Le Mans nach, indem man männliche und weibliche Kadaver nackt zusammensetzte. Einmal fesselte der Scharfrichter einen „Ex-Marquis“ an das Brett der Guillotine und las ihm fast eine Viertelstunde eine Liste der republikanischen Siege vor, damit dieser sie im Jenseits seinen Standesgenossen mitteilen konnte. Erst dann fiel das „nationale Rasiermesser“ auf den Nacken des Gequälten herab.40) Für alle diese Unmenschlickeiten war aber dieser Abschaum schon wohl trainiert. Während der September–Massaker 1792 bekamen die Schlächter täglich sechs Franken und dazu Wein soviel sie wollten. Doch wurden diese Schandtaten nur zu oft in einem Rausch von großer „Tugendhaftigkeit“ begangen: So brachte man die jugendlichen Kriminellen der Erziehungsanstalten im Blutrausch um und dazu auch gleich dann die arretierten Dirnen in den Pariser Bicêtre- und Salpetrière–Gefängnissen. Diese Blutbäder waren besonders schauerlich. Ähnliches hatten die Spanischen Republikaner mit den Prostituierten hinter der katalonischen Front und die SS-Einheiten in Ostpolen während des Zweiten Weltkriegs verübt. Diese Weiber infizierten die Soldaten und wurden somit dem hohen Ideal der Hygiene geopfert…, also nicht im Namen der Keuschheit.

Der Fanatismus der Revolution, von Haß und Neid angeheizt, kannte bald keine Grenzen. Tatsächlich wurde um die Guillotinen in den Blutlachen getanzt, gejohlt und gesoffen. Die fürchterlichsten Exzesse fanden aber im Süden (Lyon) und, wie wir schon früher sagten, im Westen statt. General Westermann schrieb in einer Botschaft an das Comité du Salut (das „Heilskomitee“) in Paris nach der Niederlage der royalistischen Chouans bei Savenay:

„Die Vendée, meine republikanischen Genossen, existiert nicht mehr. Sie ist unter unseren Säbelhieben gestorben, zusammen mit den Frauen und Kindern. Wir haben sie gerade in den Sümpfen und Wäldern von Savenay begraben. Die Kinder haben wir unter den Pferdehufen zusammengetrampelt. Wir haben die Weiber massakriert, sodaß sie keine neuen Briganten gebären können. Ich bin nicht schuldig, einen einzigen Gefangenen in Gewahrsam zu haben. Ich habe sie alle umgebracht.… Die Straßen sind mit Leichen übersät. An manchen Stellen sind sie so zahlreich, daß wir ganze Pyramiden aus ihnen gemacht haben. Die Pelotons arbeiten bei Savenay ohne auszusetzen, da jeden Augenblick Briganten ankommen, die sich als Gefangene ergeben haben…, aber wir lassen keinen am Leben. Man würde sie mit dem Brot der Freiheit ernähren müssen, aber das Mitleid ist keine Tugend der Revolution.“41)

Dieses Scheusal, der alle Briganten (d. h. Royalisten) ausrotten wollte und Danton sehr nahestand, wurde wie sein Freund eingesperrt und am 5. April 1794 geköpft. Doch sein Ungeist lebte weiter. Ein offizieller Bericht, der aus Avranche in der Normandie kam, besagte: „Das Spital hier war voller Verwundeter und diese verfielen der Rache der Nation. Sie wurden umgebracht, darunter auch eine Frau, die vorgab, krank zu sein.“ Doktor Gainou, ein Freund Robespierres, schrieb ihm von Fougères, daß die Soldaten alle Verwundeten und Kranken im Spital getötet hatten. Auch „Frauen der Briganten“ waren dort. Sie wurden alle geschändet und ihre Kehlen durchschnitten. Marceau–Desgraviers, ein echter Soldat, der am Krieg gegen die Chouans teilnahm, war von den Eindrücken und Erlebnissen des Kriegs im Westen bis zu seinem Tod gequält. (Er fiel 1796 im Koalitionskrieg.) Die Schrecken der wiedergeborenen Demokratie hatten ihn fast um seinen Verstand gebracht. In Le Mans hatte er ein königstreues Mädchen gerettet und war daraufhin fast hingerichtet worden. Damals schrieb der Regierungskommissär von Angers triumphierend dem Bürgermeister von Paris: „Unsere heilige Mutter, die Guillotine, ist vollauf beschäftigt.“ Es war auch Angers, wo die Republikaner den Befehl gaben, daß man die Köpfe der „Briganten“ skalpiere und entstellt auf kurzen Stangen ausstelle. Die Ärzte, die diesen appetitlichen Auftrag auszuführen hatten, arbeiteten jedoch zu langsam. Da aber die braven Republikaner schnell ein Zeugnis ihrer demokratischen Gesinnung brauchten, köpften sie geschwind alle Gefangenen, die sich noch in ihrer Obhut befanden, darunter die 82 Jahre alte Äbtissin von Fontevault. Sie war blind, aber, wie uns berichtet wird: „voller Tugend und Menschenliebe.“42)

Man muß sich vor Augen halten, daß die Berichte von getreuen Regierungsanhängern nicht immer die volle Wahrheit brachten. Es gab auch weniger begeisterte Augenzeugen. So sahen Bourbotte und Prieux nicht nur die Schändung von nackten Frauen und Mädchen, denen man die Hälse durchschnitt, sondern auch die Schändung von Leichen, also nekrophile Orgien von kaum glaublicher Niedertracht. Beauvais schrieb über die Ereignisse nach dem Rückzug aus Fougères: „Alle Verwundeten in den Spitälern wurden auf die gräßlichste Weise zu Tode gemartert. Man schnitt in ihre Fußsohlen hinein, alle Männer wurden stückweise kastriert, die Frauen wurden genau so behandelt, man steckte in ihre Scheiden Patronen, die man dann entzündete, um ihre Leiden zu beenden.“ Das sind Torturen, die dann später von den prachtvollen „Loyalisten“ im spanischen Bürgerkrieg wiederholt wurden, nur suchten sie sich für diesen Zweck lieber Kirchen als Spitäler aus. Wenn dann später die Nationalsozialisten mit ihren Ausrottungsfeldzügen mehr Opfer zur Strecke brachten, so ist dies lediglich einer fortschrittlichen Technologie zu verdanken.43) Die Jakobiner aber (getreu ihrem Vorbild, den Husiten) strengten sich jedoch ehrlich in dieser Richtung an. Nur hatten sie dafür nicht so viel Zeit und wollten ihr reinigendes Werk mit persönlichem Vergnügen verbinden. Da waren die Noyades in der Loire: Man brachte die gefesselten, politischen Gefangenen auf Flöße, die dann mit Kanonen vom Land aus versenkt wurden. Ein fabelhaftes Training für Artilleristen auf bewegliche Ziele. In Lyon wütete der Nationalkonvent gegen Girondisten, Royalisten und Bauwerke. Die Stadt wollte man buchstäblich dem Erdboden gleichmachen, und die Gefangenen (es gab nicht genug Guillotinen) wurden mit Kartätschen und Schrotgewehren hingerichtet – zwischen 6000 und 10 000 an der Zahl.

Auch die Naturwissenschaften wurden eingesetzt. Ein Chemiker namens Fourcroy, von Robespierre, Collot d’Herbois, Barère und Fouché beauftragt, produzierte ein Giftgas, das sich aber nicht als sehr praktisch erwies. (Da sind die Nationalsozialisten schon weiter gekommen.) Ein Mann, der Carrier hieß, machte den Vorschlag, die Flüsse mit Arsenik zu vergiften. Wie man sieht, wurden schon damals Kriege geplant, die an Renans guerres zoologiques gemahnten.44)

Dieses demokratische Wüten verschonte niemanden, auch im eigenen Lager nicht, was alsbald die Girondisten zu spüren begannen. Als Antoine de Lavoisier, der berühmte Mathematiker, Physiker und Chemiker, als „Verschwörer“ zu Tode verurteilt wurde, rief sein Verteidiger aus, daß er ein ganz großer Wissenschafter war. Coffinhal, der Vorsitzende des Tribunals, aber schrie zurück: „Die Republik braucht keine Gelehrten!“ Stimmt auch: „Ein Mann – eine Stimme“, Wissen und Dummheit werden gleichgestellt. Trotz des Kultes der raison, der Vernunft und des Verstands, war es nur eine Frage kurzer Zeit, bis nicht nur Geburt und Besitz, sondern auch der Geist ein Objekt des Neides wurden. (Doch der Prozentsatz der Adeligen unter den Hingerichteten war nur acht Prozent, der der Bauern 22 Prozent!)

Vordergründig aber waren es materielle Güter, wie auch bei den radikalen demokratischen Sekten in England während des 17. Jahrhunderts, die den Neid hervorriefen. Die Enragés, der linke Flügel der Montagne, Männer wie Roux, Varlet und Leclerc, donnerten gegen die Reichen. Auch Hébert und der ci-devant adelige Saint–Just betonten, daß die staatsbürgerliche Gleichheit ohne die Besitzgleichheit sinnlos und wertlos wäre. Und da war es wieder Joseph Lebon, der Schlächter von Arras, der die methodische Verfolgung der Reichen im Norden vornahm; 392 von diesen wurden in Arras, 149 im Cambrai guillotiniert. In einer berühmten Rede verlangte Jacques Roux vor dem Nationalkonvent, daß die Gleichheit des Einkommens zum Gesetz erhoben werden müßte. Sicherlich haben auch nur der Fall von Robespierre im Juli 1794 und die Niederlage von Gracchus Babeuf 1797 den totalen Sieg des Kommunismus verhindert.

Doch auch gegen die Heiligen und die Toten wurde eifrigst zu Felde gezogen. Die Schändung jüdischer Friedhöfe, ein Beispiel des nekrophoben Totalitarismus, der unsere Nationalisten–Rassisten auszuzeichnen scheint, hatte seine urdemokratischen Vorläufer. In St. Denis wurden die Königsgräber gründlich geschändet, die Leiche des hl. Germanus wurde in Burgund ausgegraben, Heiligen und Königsstatuen in den Kirchen und Kathedralen die Köpfe abgeschlagen, herrliche bunte Kirchenfenster zerbrochen, Grabsteine zerstört, Altäre umgestürzt. Die alten Kirchen und Kathedralen Frankreichs bleiben ein stetes Mahnmal des Sieges von Unverstand und unreinen Leidenschaften über edle Gefühle. Glücklich ist Albi zu nennen, wo ein hochgesinnter Bürger den Mob davon abhalten konnte, die herrliche Kathedrale zu verwüsten!

In dieser grauenhaften, doch sehr allgemeinen Verwirrung, in der die „Guten“ feige im Hintergrund blieben, spielten die Männer der Kirche keineswegs immer eine sehr ehrenwerte Rolle. Die Worte Spenglers vom Priesterpöbel bewahrheiteten sich schon damals.45) Eine ganze Reihe von Priestern und sogar Bischöfen leistete den Eid auf die Verfassung, wobei innerhalb der katholischen Kirche die Jansenisten eine besonders jämmerliche Rolle spielten.46) Der Exkapuziner Chabot unterstützte Marat in seinen blutrünstigen Aufrufen, und auch andere frühere Seelenhirten taten sich in der fürchterlichsten Weise hervor. Der evangelische Pastor Claude Royer von Chalons-sur-Saône und Mitglied des Jakobinerklubs in der Rue St. Honoré brüllte: „Hören wir zu reden auf und lassen wir unser Schweigen furchtbar werden – wir sollen schrecklich sein, um die Freiheit zu retten!“ Danton und Robespierre stimmten für seine Vorschläge. Er forderte das Levée en masse und Massenverhaftungen. Er gab auch eine Flugschrift heraus mit dem Titel: „Machen wir den Terror zum täglichen Ereignis!“47) Nun, es ist auch nicht ganz zufällig, daß die Dominikaner (nach der Rue St. Jacques, wo sie ihr Zentrum hatten, in Paris Jacobins genannt) die „Jakobiner“ eingeladen hatten, in ihrem Haus in der Rue St. Honoré zu tagen! Und wer glaubt, daß der Terror (la terreur) in späteren Schulbüchern der Dritten Republik schamvoll-beschämt behandelt wurde, irrt sich. „La Terreur était terrible mais grande!“ konnte man da lesen.

Typisch für die Vorbereitung der Revolution und des Terrors war das Schicksal eines intellektuellen, leicht linksdralligen Edelmannes, des Chrétien de Lamoignon de Malesherbes, einer Leuchte der Aufklärung. Im Jahre 1750, im Alter von 29 Jahren, wurde er Präsident der Cour des Aides des Pariser Parlement, während sein Vater zum Kanzler ernannt wurde, aber fast alle Arbeit seinem Sohn hinterließ. Der junge Malesherbes benützte seine Stellung, um der Aufklärung zu helfen. Er war „tolerant“ und „fortschrittlich“. Da sein Amt auch das des Zensors war, konnte er der „Aufklärung“ helfen und ihre Kritiker bremsen.

Baron Grimm sagte sehr richtig, daß ohne Malesherbes die Encyclopédie nie hätte erscheinen können.48) Pierre Gaxotte nennt ihn den vollendeten Typ des Liberalen, der immer von der Angst geplagt wird, als reaktionär zu gelten. Élie Fréron, der Feind Voltaires, d’Alemberts und Marmontels, veröffentlichte eine relativ konservative Zeitschrift, L’Année Littéraire, die immer wieder von Malesherbes konfisziert wurde, und 1758 hätte man Fréron fast eingesperrt, weil er ein Buch gegen die Encyclopédie sehr positiv besprochen hatte. Immer wieder angegriffen, versuchte Malesherbes alles zu tun, um Frérons Verteidigung zu erschweren. 1752 verbot Malesherbes die Veröffentlichung eines Buches des Jesuitenpaters Louis Geoffroy, weil darin Diderot angeschwärzt wurde. Pater Thomolas von Lyon, der den Artikel „College“ darin kritisierte, wurde verwarnt: Er wäre frech! Pater Charles Polissot de Montenoy wurde von Malherbes verfolgt und so auch der hochbegabte Nicholas Gilbert, der jung starb. „Die Philosophen beklagten sich, daß sie verfolgt wurden“, bemerkt Gaxotte, „sie aber waren es, die als Verfolger auftraten.“49)

Malesherbes sah schließlich den Schaden, den auch er angerichtet hatte! Während des Terrors war er in die Schweiz geflohen, kehrte aber nach Paris zurück, um seinen König vor dem Tribunal zu verteidigen. Er hatte schließlich die traurige Aufgabe, ihm mitteilen zu müssen, daß er zum Tode verurteilt worden war.50) Er zog sich aufs Land zurück, wurde aber im Dezember 1793 zusammen mit seiner Tochter, seinem Schwiegersohn und seinen Enkelkindern verhaftet. Alle wurden zu Tode verurteilt, er aber absichtlich als letzter hingerichtet, um das Schicksal seiner Familie mitansehen zu müssen. Die délicatesse der demokratischen Linken kennt eben keine Grenzen! Für alle seine Sünden hatte dieser Mann schwer gebüßt. Die Straße, die zum linken Radikalismus führt, ist nicht nur breit, sondern auch steil nach unten abfallend. Unter diesen Umständen versagen dann die Bremsen nur allzuleicht.

Doch die Bedeutung der Französischen Revolution liegt nicht nur darin, daß sie die Demokratie erneuerte, die schon in der Antike moralisch Schiffbruch erlitten hatte, sondern auch ganz neue Nahrung zur Staatsvergötterung, zum Totalitarismus und zum „völkischen“ Nationalismus gegeben hatte. Die antike Pólis mit ihrer absoluten Herrschaft (diesmal mit totalitärem Vorzeichen) war wieder da, aber nunmehr in völkisch-nationalem Gewande mit der falschen Maske des Patriotismus.51) Man hatte nun nicht mehr gleich zu sein, sondern auch identisch, „nämlich“.52) Der Fall Robespierres im Thermidor vereitelte nicht nur seinen Plan, alle Kirchtürme als „undemokratisch“ niederzureißen, denn sie53) waren höher als die anderen Gebäude, sondern auch seine andere Absicht, alle Franzosen und Französinnen je in eine eigene Uniform zu stecken. „Uniformität“ wurde nun zum Schlüsselwort. Diese erstreckte sich auch auf die Landesverteidigung.

Einen der revolutionärsten, für den Rest der Welt verhängnisvollsten Schritte tat die Französische Revolution in der Domäne der Kriegsführung. Da alle Citoyens die gleichen Rechte besaßen, hatten sie auch die gleichen Pflichten: Sie durften wählen, also mußten sie auch auf den Schlachtfeldern kämpfen. Wenn aber ein Land (und in diesem Fall war es das volkreichste Europas) die allgemeine Wehrpflicht einführt, dann mußten auch alle Nachbarn54) diesen Zwang kopieren, und damit trat Europa in eine der fürchterlichsten Phasen seiner Geschichte ein, denn es bekämpften sich von nun an riesige Armeen. Das war die Einleitung zu unseren totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Die Kabinettskriege mit ihren Söldnern waren zuende gegangen, und es setzten nun die ‚Volkskriege‘ ein. Da aber der Durchschnittsbürger keinerlei Begeisterung für den Soldatenberuf besitzt (der eine ganz bestimmte ‚Berufung‘ und Eignung voraussetzt), mußten die Gemüter durch eine ungeheure und ungeheuerliche Propaganda angeheizt werden. Diese aber fand nicht nur in den Kasernen statt, sondern erfaßte und mobilisierte die ganze Nation. Nicht nur die Soldaten, nicht nur die Wehrpflichtigen, sondern auch deren Eltern, Frauen, Schwestern und Kinder wurden zum Haß gegen den Feind aufgerufen. Von nun an kämpfte eben nicht mehr König gegen König, sondern Volk gegen Volk. Hippolyte Taine, dem man wohl keine rechtsradikalen Tendenzen vorwerfen kann, hat dies sehr anschaulich geschildert:

„Die allgemeine Wehrpflicht… hat sich wie eine ansteckende Krankheit ausgebreitet…, sie ist im ganzen europäischen Kontinent verbreitet und herrscht dort mit ihrer Zwillingsschwester, die ihr vorausgeht oder nachfolgt, dem allgemeinen Wahlrecht…, eine die andere mit sich schleifend, beide blinde und furchterregende Herrinnen und Meisterinnen der Zukunft. Die eine gibt in die Hand eines jeden den Stimmzettel, die andere hängt ihm den Tournister des Soldaten auf den Rücken – und mit welchen Aussichten auf Massaker und Bankrotterklärungen im [kommenden] zwanzigsten Jahrhundert, mit welchem verzweifelten, internationalen, schlechten Willen und Mißtrauen, mit welchem Verlust an aufbauenden Bestrebungen, durch was für eine Perversion der produktiven Erfindungen, begleitet von was für einem Fortschritt in den Mitteln der Zerstörung, durch was für einen Rückschritt in die niedrigsten und ungesunden Formen streitsüchtiger Gesellschaften, durch was für einen Rückfall in egoistische und brutale Instinkte hinunter zur Gefühlswelt, den Sitten und der Moral der Staaten der Antike und barbarischen Stämme, das wissen wir nur zu wohl.“55)

Hoffman Nickerson kommentierte diese Dekadenz mit den Worten: „Wie bei barbarischen Stämmen wurde nun jeder körperlich geeignete Mann ein Krieger. Innerhalb von vier Jahren nach der ersten Einberufung des revolutionären Parlaments wurde nun Rousseaus unmöglicher Traum von einem Himmel auf Erden nicht verwirklicht: Anstelle einer ländlichen Szenerie belebt mit Hirtinnen, die wie Figuren aus Dresdner Porzellan aussahen, hatten wir wieder die bewaffnete Horde. Die demokratischen Politiker, verzweifelt nach einem militärischen Werkzeug Ausschau haltend, um ihr System und ihre Haut zu retten, ließen den Teufel des totalen, des absoluten Krieges los.“56)

Und mit dieser Belastung leben wir auch heute. Wir sind sie derartig gewohnt, daß es unseren Massenmedien ein leichtes ist, gegen Söldner Stimmung zu machen. Der Söldner (von dem wir das Wort Soldat immerhin abgeleitet haben) ist ein Mann, der eine echte Berufung zum Kriegshandwerk hat und überdies die so viel gelobte Freiheit besitzt, sich seinen General oder auch seine „Sache“ selbst auszusuchen. Verglichen mit dem Mann, der sich zitternd hinter dem Ofen verbirgt und von den Gendarmen zur Assentierung gebracht wird, hat er doch ein beneidenswertes Los. Zugleich geben wir zu, daß Tapferkeit nicht in jedermanns Wiege gelegt wird. Die moderne Gesellschaft und der Staat aber versuchen die oft ganz natürlichen Hemmungen ihrer Männer und deren Anhang zu überwinden, die tiefste und häßlichste menschliche Leidenschaft zu mobilisieren – den Haß, in diesem Fall den Kollektivhaß. Dieser ist, wie zum Beispiel im Ersten Weltkrieg, durch die alliierten Greuelgeschichten über die deutschen Soldaten zur Weißglut angeheizt worden, aber auch im Zweiten Weltkrieg, bevor die Schrecken des Nationalsozialismus bekannt wurden, hatte man in den Vereinigten Staaten für die „Moral“ der Soldaten „Dokumentationsfilme“ hergestellt. Sie wurden auch zur Propaganda im Ausland verwendet.57)

Wenn man nun alle diese Tendenzen, Einrichtungen, Programme und Neuerungen58) der Französischen Revolution mit „modernen“ Augen betrachtet, braucht man sich über das Buch des Harvard Professors C. Crane Brinton, The Jacobins,59) nicht wundern. Es erschien drei Jahre vor der braunen Machtübernahme, gab uns aber dennoch ein präzises Bild des Nationalsozialismus. Auch Max Horkheimer, keineswegs ein Vertreter eines extremen Konservatismus, sagte ausdrücklich im Jahre 1939, daß die Ideologie der Französischen Revolution im Nationalsozialismus enden mußte.60) Im weiteren Sinn des Wortes war die Ideenwelt der Französischen Revolution ein Sozialismus und das bedeutet wörtlich, ein dem Individualismus, besser gesagt, dem Personalismus, entgegengesetzter Gesellschaftswahn. Das völkisch-nationale Element kam unweigerlich (genauso wie beim husitischen Vorgänger) als ein weiterer „identitärer“ Kollektivismus dazu. Da nur die Franzosen sich gegen die Königsherrschaft im 18. Jahrhundert erhoben hatten, waren sie das einzige tugendhafte, kluge und „auserwählte“ Volk. Deshalb wurde auch sehr bald die Klage erhoben, daß die Nichtfranzosen in der patrie sich nicht der langue républicaine bedienten und daß sowohl die Dialekte, als auch die Minderheitssprachen verschwinden müßten. Besonders die Elsässer (erst seit rund 100 Jahren bei Frankreich) verstießen in dieser Hinsicht gröblich gegen das Uniformitätsprinzip, und so wurden verschiedene Pläne geschmiedet, wie man diese Leute sprachlich zur Räson bringen könnte. Es wurde der Vorschlag gemacht, den Elsässern die Kinder wegzunehmen, sie in ganz Frankreich zu zerstreuen oder schließlich auch (einfachheithalber) alle umzubringen.61 Somit tauchte hier wiederum das probate Mittel des Genozids aus der Versenkung. Die égalité wurde als identité verstanden: Wer anders war, konnte eben nicht als „Gleicher“ betrachtet werden. Wer sich von der Masse durch Sprache, Aussehen, Akzent, Besitz, Bildung, Gehaben unterschied, war eben ein Feind. Er mußte sich angleichen, und wenn das nicht möglich war, auswandern oder ins Gras beißen.

Also war die Französische Revolution ein früher Nationalsozialismus? Kein Zweifel. Blut und Boden wurden schon in der Marseillaise angerufen, laut der man davon träumte, daß das unreine Blut (sang impur) der Feinde die Ackerfurchen Frankreichs tränken sollte. Doch vielleicht war man damals doch noch ein wenig liberal-tolerant, denn man hatte keine Vorurteile gegen dieses immerhin doch recht aparte Düngemittel.

Die falsch gestellten Weichen

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