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7. KARL MARX

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Wer aber war dieser Karl Marx nun wirklich, der seit mehr als drei Generationen so unendliches Elend über die Welt gebracht hat – durch seine Ideologie, deren Afterideologien und Gegenideologien? Man denke da nur an Kambodscha, wo unter marxistischen Vorzeichen ein Drittel der Bevölkerung ausgerottet wurde! Geboren wurde er 1818 in der Familie eines hochgebildeten, wohlhabenden jüdischen Advokaten in der alten Bischofsstadt Trier als Untertan des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. Als er sechs Jahre alt war, nahm sein Vater den evangelischen Glauben an: die verschiedenen Familienmitglieder wurden in Abständen von einem preußischen Armeekaplan getauft, da es in der Stadt keine lutheranische Kirche gab. Der junge Karl studierte zuerst im sogenannten Jesuitengymnasium1) und las mit seinem Vater die Werke von Voltaire. Die Familie lebte ganz und gar im Geiste der Aufklärung, nur die Mutter klammerte sich noch eine zeitlang an die Traditionen des Judentums.2) Marx setzte dann seine Studien auf den Universitäten von Berlin und Bonn fort und schrieb eine Dissertation für die Universität von Jena über Epikur, der ein früher Materialist war. Schon in Berlin wurde Marx von Hegel beeinflußt, dessen Dialektik er später „umstülpte“.

Von vielleicht größter Wichtigkeit für uns ist die seelische Entwicklung des Gründers des „wissenschaftlichen“ Sozialismus. Sein Verhältnis zur Mutter blieb getrübt, dem Vater, der früh starb, blieb er tief verbunden. (Engels legte ihm das Bild seines Vaters ins Grab.) Der Vater jedoch durchschaute seinen Sohn und klagte, daß Karl zwar einen brillanten Verstand, aber kein Herz habe. Als Marx ihm einmal in einem Brief gestand, daß er ein „zerrissener Mensch“ war, rügte ihn der Vater scharf und schrieb ihm, daß dies die Sprache von jungen Leuten wäre, die sich nicht damit abfinden könnten, kein Schloß, keine Equipagen und keine Million Thaler auf der Bank zu haben.3) Tatsächlich aber bekam Marx als Student von seinem Vater einen großen Monatswechsel, und es wurde bis heute nicht erhellt, für welche Zwecke er dieses Geld verwendet hatte. Zweifellos gehörte der junge Marx der deutschen Romantik an, und Ernst Kux hat sehr recht, wenn er schreibt, daß Marx ein Mann war, der zuerst fühlte und dann seine Gefühle „wissenschaftlich“ zu bestätigen suchte.

Der „junge Marx“, der sich heute bei der ‚Neuen Linken’ einer besonderen Beliebtheit erfreut, kannte tatsächlich Bettina von Arnim, war mit Arnold Ruge befreundet und war ein guter Bekannter von Heinrich Heine, der ihn bald unerträglich fand, einen docteur en révolution und einen „gottlosen Selbstgott“ nannte. Der junge Marx war auch ein Künstler, beziehungsweise ein verhinderter Künstler, der einmal plante, eine Theaterzeitschrift herauszugeben. Er dichtete auch und seine nicht besonders gelungene Lyrik ist ein äußerst wichtiger Schlüssel zu seinem Charakter. Als verhinderter Künstler wollte er aus Rache die Welt zerstören, die ihm nicht die gebührende Achtung entgegenbrachte. Kein Wunder, denn die Kunst ist Schöpfung, und ein Mann, dem man nicht erlaubt, schöpferisch zu wirken, ist restlos „frustriert“. Daher auch sein antitheistisches Wüten:

Hat ein Gott mir alles hingerissen,

Fortgewälzt in Schicksalsfluch und Joch,

Seine Welten – alles – alles missen!

Eins blieb. Die Rache blieb mir doch!4)

Oder auch die Zeilen:

An mir selber will ich stolz mich rächen

An das Wesen, das da oben thront…5)

Ferner:

Einen Thron will ich mir auferbauen

Kalt und riesig soll sein Gipfel sein.6)

Ein herostratisch-selbstbezogenes Gedicht endete hingegen mit den Worten: „Und wir, die Affen eines kalten Gottes.“

Sein Größenwahn drückte sich in seinen Versen über das Weltgericht aus:

Götterähnlich darf ich wandeln

Siegreich ziehn durch ihr Ruinenreich

Jedes Wort ist Blut und Handeln

Meine Brust dem Schöpferbusen gleich.7)

Und wenn man die Worte des Äschylus im Gefesselten Prometheus liest, in dem der Heros seinen ohnmächtigen Haß gegen „Vater Zeus“ ausdrückt, die von Marx in seiner Doktoratsthese als Zitat gebraucht wurden, dann sieht man vielleicht tiefer in seine gequälte Seele hinein.8) Wie sehr er aber Künstler sein wollte und nur ein Amateur war, ersieht man aus seiner utopischen Vision einer sozialistischen Gesellschaft, in der jedermann heute das und morgen jenes tun kann, in der Früh auf die Jagd gehen, Mittag fischen, am Abend etwas Viehzucht treiben, daneben auch nach der Mahlzeit sich als Kritiker betätigen ohne aber wirklich ein Jäger, ein Fischer, ein Schäfer oder auch ein Kritiker zu sein.9) Wie man deutlich sieht, ist Marx auch hier wieder von Fourier beeinflußt. Andererseits spielte er schon lange wie Nietzsche mit der Idee des Übermenschen, als der er sich fühlte. In dieser Beziehung steht er zugegebenermaßen der Neuen Linken näher als dem Leninismus. Doch seine künstlerischen Süchte und Sehnsüchte verließen ihn nie – wie auch Hitler, einen anderen „frustrierten“ Künstler. Marx blieb immer auch ein Ästhetiker. Doch war er kein Ethiker, denn wie kann man – in strikter Logik – ein Moralist und ein Determinist sein? Wenn eiserne, geschichtliche Gesetze alles vorschreiben und vorbestimmen, kann man doch kaum mehr über einen Menschen „urteilen“. Besonders im Alter beschäftigte ihn dieses Problem: er kam zu dem einfachen, aber nicht überraschenden Schluß: „Die Kommunisten predigen keine Moral.“10) Jede Moralität führt zu einer Ideologie (wie er die bourgeoise Weltanschauung nannte), und eine Ideologie führt nicht zu einer Tragödie, sondern zu einer Komödie. Jeder Philosoph, der ein ethisches System verkündet, ist kindisch genug um zu glauben, daß ein anderes oder ein wenig geändertes Gewissen den Gang der Dinge beeinflussen kann. Wie aber könnte das sein, wenn die Geschichte vorausbestimmt und in ihren Gesetzen unwandelbar ist? Mit diesen Ansichten aber enden wir wieder beim biologischanatomischen Determinismus des Marquis de Sade.

Ursprünglich wollte Marx eine akademische Laufbahn ergreifen und strebte eine Professur in Bonn an. Seine Freunde rieten ihm jedoch davon ab, doch wurde er mit 24 Jahren Chefredakteur der Rheinischen Zeitung in Köln. Ein Jahr darauf wurde diese Tageszeitung auf Anordnung der preußischen Regierung verboten, was aber Marx nicht davon abhielt, Jenny von Westphalen, die Tochter eines preußischen Offiziers, zu heiraten. Mit ihrem Vollbruder Edgar verband ihn eine enge, immerwährende Freundschaft, nicht aber mit ihrem Halbbruder Ferdinand von Westphalen, der königlich preußischer Innenminister wurde. Adelige Damen schwärmen bekanntlich nur zu oft für führende Sozialisten und spielten eine nicht geringe Rolle in linken Bewegungen. Dafür gibt es verschiedene psychologische Erklärungen. Auf jeden Fall bildeten in Marxens Leben die verwandtschaftlichen Beziehungen eine große Rolle. Von ihm besonders verehrt wurde ein Onkel durch Heirat, der Niederländer Philips in Zaltbommel. Es ist dies der Großvater des hochkapitalistischen Gründers des weltweiten Philips-Konzerns.11)

Es ist wahr, daß Marx seine Frau und Töchter liebte und dies, obwohl er ein fürchterliches Familienleben führte; es war aber nicht die Liebe, die sein Leben formte, sondern über alles bloße Kritisieren und Verhöhnen hinaus echter, glühender Haß. Arnold Ruge, mit dem er anfänglich in Paris zusammengearbeitet hatte, schrieb an Fröbel über Marx: „Der heuchlerische Egoismus und die geheime Genießsucht, das Christusspielen, das Rabbinertum, der Priester und die Menschenopfer (Guillotine) kommen sogleich wieder zum Vorschein… Zähne fletschend und grinsend würde Marx alle schlachten, die ihm, dem neuen Babeuf, den Weg vertreten. Er denkt sich dieses Fest, das er nicht feiern kann.“12)

Die beste Beschreibung von Marx kam jedoch von Carl Schurz, dem deutschen Achtundvierziger und späteren amerikanischen Senator, der Marx bei einem Kongreß des Demokratischen Vereins in Köln begegnete. Über Marx schrieb er in seinen Lebenserinnerungen:

„Er war damals dreißig Jahre alt und bereits das anerkannte Haupt einer sozialistischen Schule. Der untersetzte, kräftig gebaute Mann mit breiter Stirne, dem pechschwarzen Haar und Vollbart und den dunkeln, blitzenden Augen zog sofort die allgemeine Aufmerksamkeit an sich. Er besaß den Ruf eines in seinem Fache sehr bedeutenden Gelehrten, und da ich von seinen sozialökonomischen Entdeckungen und Theorien sonst wenig wußte, so war ich umso begieriger des berühmten Mannes Worte der Weisheit zu sammeln. Diese Erwartung wurde in einer eigentümlichen Weise enttäuscht. Was Marx sagte, war in der Tat gehaltsreich, logisch und klar. Aber niemals habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender Arroganz des Auftretens. Keiner Meinung, die von ihm wesentlich abwich, gewährte er die Ehre einer einigermaßen respektvollen Erwägung. Jeden, der ihm widersprach, behandelte er mit kaum verhüllter Verachtung. Jedes ihm mißliebige Argument beantwortete er entweder mit beißendem Spott über die bemitleidenswerte Unwissenheit oder mit ehrenrührigen Verdächtigungen der Motive dessen, der es vorgebracht. Ich erinnere mich wohl des schneidend-höhnischen, ich möchte sagen des ausspukkenden Tones, mit welchem er das Wort ‚Bourgeois’ aussprach, und als ‚Bourgeois’, das heißt als ein unverkennbares Beispiel einer tiefen geistigen und sittlichen Versumpfung denunzierte er jeden, der seinen Meinungen zu widersprechen wagte. Es war nicht zu verwundern, daß die von Marx befürworteten Anträge in der Versammlung nicht durchdrangen.“13)

Marx war schon einmal, im Jahre 1843, nach Paris übersiedelt, wo er unter dem Régime Louis-Philippes größere Freiheit erwartete als im Rheinland, das 1814 von Preußen annektiert worden war. Mit Arnold Ruge veröffentlichte er damals die Deutsch-Französischen Jahrbücher, doch nach dem Erscheinen der ersten Nummer zerstritten sich die Herausgeber, und damit war das Ende dieser Zeitschrift gekommen. In Frankreich geschah es auch, daß Marx mit Hegel brach und lediglich die Hegelsche Dialektik der Geschichte weiter anerkannte. In Paris traf er auch mit Proudhon zusammen, erhielt er die ersten Briefe von Friedrich Engels und schrieb den ersten haßerfüllten Essay gegen die Juden, in denen er die Verkörperung dès bourgeoisen Kapitalismus sah.14) Doch hatte, wie wir sehen werden, der ‚Antisemitismus’15) bei Marx nicht nur einen soziologisch-ökonomischen, sondern auch einen echt ‚rassistischen’ Charakter. Zudem war er in dieser Beziehung auch von Bruno Bauer beeinflußt worden, einem evangelischen Theologen und Freund aus jungen Jahren, der bezeichnenderweise einer der Begründer der neueren Bibelkritik gewesen ist. Bauers Ansichten aufgrund seines Studiums waren ausgesprochen judenfeindlich.16 Philosophisch ein Hegelianer, erntete er Marxens Haß nach dessen Bruch mit Hegel, und so schrieb Marx zusammen mit Engels eines seiner giftigsten Pamphlete: Die heilige Familie gegen Bruno Bauer und Compagnie.

Friedrich Engels war übrigens einer der ganz wenigen Leute, vielleicht sogar der einzige Mann, dessen Freundschaft Marx zu erhalten verstand. Dieser reiche Fabrikant aus dem Wuppertal hatte ein Vermögen, mit dem er den Gründer des internationalen Sozialismus und Kommunismus sein Leben lang unterstützen konnte. Also nur einer von Lenins „nützlichen Idioten“? Vielleicht doch nicht, denn Engels glaubte nicht nur ehrlich an die Theorien des „Mohren“ (wie Marx von seinen Freunden genannt wurde), sondern war auch imstande, sie redaktionell zu verwerten und „praktisch“ weiterzuentwickeln, sodaß einige Autoren meinen, man sollte in Wirklichkeit nicht vom Marxismus, sondern vom „Engelsismus“ reden.

Briefe, in denen Marx Engels kritisierte, wurden jedoch von den Töchtern nach dem Tod des „Mohren“ vernichtet.

Wie schwierig aber Marx in allen seinen menschlichen Beziehungen war, ersieht man auch aus den Aufzeichnungen eines preußischen Offiziers, Gustav Adolf Techow, der nach seiner Bekehrung zum Sozialismus Marx in London aufsuchte und von ihm schrieb: „Hätte er ebensoviel Herz wie Verstand, ebensoviel Liebe wie Haß, würde ich für ihn durchs Feuer gehen.“17) Dieser Techow erzählt uns auch, wie er einen feuchtfröhlichen Abend mit Marx verbrachte, bei dem sein Gastgeber frisch von der Leber her redete. Dem erschütterten Exoffizier gestand der „Mohr“, daß er über die Narren lache, die seinen Proletarierkatechismus ernst nähmen, und daß er in Wirklichkeit nur für die Aristokraten Achtung aufbrächte. „Ich habe den Eindruck mitgenommen, „schrieb Techow einem Freund, „daß seine persönliche Herrschaft der Zweck all seines Treibens ist, und alle seine Socien sind weiter unter und hinter ihm, und wagen sie das einmal zu vergessen, so stuckst er sie in ihr Verhältnis zurück mit einer Unverschämtheit, die eines Napoleon würdig.“18)

Nicht nur auf Marx, sondern auch auf Engels machte der Materialismus von Ludwig Feuerbach einen tiefen und bleibenden Eindruck, und dies beschleunigte auch ihren Bruch mit dem deutschen Idealismus. Feuerbachs Kritik der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen wurde von den beiden mit einem radikalen Materialismus kombiniert. „Der Mensch ist, was er ißt!“19 Hier wurde die Grundlage für den unstillbaren Haß von Karl Marx für alle Formen des Glaubens gelegt. Feuerbachs Überzeugung, daß Kultur und Erziehung die Religion ersetzen sollten, hat einen romantischen und spezifisch deutschen Charakter, doch seine Forderung, daß die Bereitschaft zu glauben dem Entschluß zu wollen weichen muß, zeigte an, in welcher Richtung das Denken von Marx und Engels sich bewegen sollte. Feuerbachs Überzeugung, daß die Moral nicht durch die Religion, sondern lediglich durch bessere Lebensbedingungen gefördert wird, gehört allerdings primär zur Säkularreligion der amerikanischen Linken; wenn nicht zur amerikanischen Folklore. Schließlich ist es für naiv Ungläubige in diesem Tal der Tränen ein großer Trost, daß es einen (automatischen) Fortschritt gibt, daß die Kinder oder Kindeskinder es einst „durch den Fortschritt besser haben werden“. Hier sehen wir die Erfüllung von Dostojewskijs Prophezeiung durch den Mund des Großinquisitors in seinen Brüdern Karamazow20) daß die Zeit kommen werde, in der die Wissenschaft die Existenz von Verbrechern in Abrede stellen wird, daß es keine Sünder mehr geben werde, sondern höchstens Hungernde (und die kann man bei gesteigerter Produktion füttern). Also erzeugt „sehr logisch“ die Armut den Schrei nach dem Sozialismus oder den communism of the stomach. Aber so einfach ist das natürlich nicht. In Italien nistet der Kommunismus auch in Schlössern und Luxuswohnungen, in den Vereinigten Staaten in Hollywood und Park Avenue! Doch während Marx Feuerbach nur aus Büchern und Essays kannte, befreundete er sich in Paris mit Schülern von Saint-Simon und so auch mit dem früheren Sekretär des Roten Grafen, mit Auguste Comte, dem Schöpfer des Positivismus.21) Comtes Versuch, die gesellschaftlichen Gesetze durch Naturgesetze zu erhellen, beeindruckte auch Marx.

Im Jahre 1845 verlangte die preußische Regierung von den französischen Behörden, Marx als gefährlichen Agitator auszuweisen, und die Franzosen gaben diesem Ersuchen statt. Marx ging dann nach Brüssel,22) wo er 1847 sein Pamphlet gegen Proudhon herausgab. Im Jahre darauf veröffentlichte er in Zusammenarbeit mit Engels das Kommunistische Manifest. Einen Monat später befahl ihm die belgische Regierung, das Land zu verlassen, worauf er mit Engels nach Paris zurückfuhr, wo gerade nach dem Fall Louis-Philippes die Revolution ihren Höhepunkt erreicht hatte. Von Paris reiste er dann wieder nach Köln, wo Marx erneut ein Tagblatt, die Neue Rheinische Zeitung mit dem Untertitel „Demokratisches Organ“, publizierte. Im November desselben Jahres forderte die Zeitung ihre Leser auf, keine Steuern mehr zu zahlen und der preußischen Regierung mit der Waffe in der Hand Widerstand zu leisten. Daraufhin wurde das Blatt konfisziert, Marx wurde verhaftet, vor Gericht gestellt, aber eine bürgerliche Jury sprach ihn frei. Es gab eben stets „bürgerliche“ Elemente, die vor Marx einen Heidenrespekt hatten und vor ihm katzbuckelten. Geistig gibt es diese auch heute noch.

Um einer zweiten Verhaftung auszuweichen, ging Marx nocheinmal nach Frankreich zurück, doch war die Regierung dort nun weniger von linken Ideen begeistert und ließ ihm die Wahl, sich entweder außerhalb von Paris anzusiedeln oder das Land zu verlassen. Marx aber war ein echter Bücherwurm; ohne große Bibliotheken war sein Leben verfehlt und so ging er in ein Land, in dem schon eine fix- und fertige sozialistische Bewegung (wenn auch nicht nach seinem Geschmack) bestand – nach England, das immer, nach der Schweiz, der kontinentalen Linken ein rettender Hafen gewesen war. Marx fand eine Wohnung in London, wo er im Lesesaal des Britischen Museums ohne Unterlaß bis zu seinem Tod arbeitete. Sein Unterhalt wurde zu großem Teil von Engels bestritten, der in Manchester arbeitete und dessen Verwandte ihn „ausbezahlt“ hatten; auch hatte Marx ein Nebeneinkommen von der New York Tribune, deren Europa-Korrespondent er Jahre hindurch war. (Doch wissen wir heute, daß er ein fauler Schreiber war und Engels immer wieder seine Artikel schreiben mußte.) Ohne die Thaler, Pfunde und Dollars des ‚Kapitalismus’ hätte es vielleicht keine sozialistisch-kommunistische Bewegung gegeben…

Kehren wir aber zum Kommunistischen Manifest zurück, das alsbald in viele Sprachen übersetzt wurde, auch ins Dänische, aber vorläufig nicht ins Russische. (Marx war stets antirussisch gestimmt gewesen und hatte überhaupt für die Slawen und andere „niedere Völker“ nichts als Verachtung übrig.)23) In Brüssel hatte sich Marx dem „Bund der Kommunisten“ angeschlossen, der früher einmal „Bund der Gerechten“ geheißen hatte. (Auch heute herrscht in Jugoslawien nicht eine kommunistische Partei, sondern der Savez komunista, der „Bund der Kommunisten“.) Das Manifest, eine Kurzschrift von ungefähr 12 000 Worten, gibt eine kompakte Übersicht von den politisch-wirtschaftlichen Überzeugungen der beiden Autoren. Der Stil dieses Pamphlets ist farbig, klar und herausfordernd, aber das Vokabular des deutschen Urtexts ist doch so, daß es vom durchschnittlichen Arbeiter kaum verstanden worden wäre. Meine eigene Ausgabe aus dem Jahre 1921,24) als das allgemeine Bildungsniveau schon bedeutend höher war als im Jahre 1848, hat ein Glossar von zwölf eng bedruckten Seiten. Das allein schon bezeugt, daß der Sozialismus-Kommunismus eine Bewegung von Intellektuellen mit eigenartigen psychologischen Motivationen ist, die aber durch ihre populären (oder popularisierten) Schriften, ihre rednerischen Begabungen oder ihren persönlichen Magnetismus die Massen mobilisieren konnte. Der internationale Sozialismus-Kommunismus wurde nicht von „Werktätigen“25) in die Welt gesetzt. Noch wurde er (mit ganz wenigen Ausnahmen) von Männern erdacht und erfunden, die für die Armen und Bedrückten blutende Herzen hatten, sondern von giftgeschwollenen Hassern. Auch im Gemütsleben von Karl Marx, das wir außerordentlich gut kennen, findet man kaum Liebe, Mitleid oder Zärtlichkeit. War er vielleicht ein Satanist? Auch eine solche Theorie gibt es.26)

Das Kommunistische Manifest, in Brüssel geschrieben, aber in London, der damaligen Hauptstadt des ‚Weltkapitalismus‘, zuerst veröffentlicht, beginnt mit den seitdem berühmten Worten: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen das Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.“ Nach dieser Präambel versucht das Manifest, die Weltgeschichte höchst einfach als Geschichte von Klassenkämpfen darzustellen, doch wird auch die Bemerkung eingeflochten, daß die prähistorischen Völker weder Klassen noch den Privatbesitz kannten. Mit anderen Worten: Die Autoren kopierten Rousseaus Theorie von einem paradiesischen Urzustand, einem Goldenen Zeitalter, einer säkularen Vision der biblischen Geschichte.

Das Manifest preist dann die Bourgeoisie für ihre Großtat: die Vernichtung des Feudalismus und seiner Kultur. Es klagt sie aber an, ein eisern-strenges Régime ihrerseits errichtet zu haben. Dann folgt eine vernichtende Kritik der Bourgeoisie und diese enthüllt den Hauptcharakterzug von Marx: Selbsthaß. Marx, ein typisches Produkt des Bürgerstandes, ist bürgerfeindlich. Marx, jüdischer Abkunft, ist ein Judenhasser. Marx, der seine Zelte im Herzen der ‚kapitalistischen‘ Welt aufgeschlagen hat, ist „Antikapitalist“. Marx, der eine Aristokratin geheiratet hat, ist zwar von der Aristokratie beeindruckt und will bei seinem Ausflug nach Berlin in ihre Salons eindringen, bekämpft sie aber. Im dritten Teil seines Manifests ergeht er sich sogar in wüsten Ausfällen gegen einen „aristokratischen Sozialismus“27). Der Selbsthasser haßt natürlich auch andere; doch will er keine irgendwie gearteten Bundesgenossen in seinem Kampf, nicht solche zumindestens, die seiner Kontrolle entgehen könnten.

Doch Marx preist die Bourgeoisie, daß sie die Herrschaft der Stadt über das Land gefestigt, daß sie eine Massenabwanderung vom Land in die Stadt eingeleitet hat, um sie dem „Idiotismus des Landlebens“ zu entreißen und somit zur Bildung eines städtischen Proletariats, seines Proletariats, beizutragen. Das ist die Stimme des wurzellosen Intellektuellen.

Auch lobt Marx die Bourgeoisie für ihren antifeudalen Kampf, weil sie dadurch für die Schaffung einheitlicher Staaten von einer Nation, einer Regierung, eines nationalen Klasseninteresses, eines einheitlichen Zollgebietes („Douanenlinie“ nennt er sie) gekämpft hatte. Er freut sich über alle diese (typisch linken) „Errungenschaften“, wie er auch dann später mit Engels ein Bewunderer Bismarcks wird, denn Marx ist eben auch ein früher ‚Nationalsozialist‘. Dann aber versucht er zu beweisen, daß die Technik im krassen Gegensatz zu der gegenwärtigen Produktionsweise stünde. Die Bourgeoisie befindet sich in einer furchtbaren Krise: Kriege, Hungernsnöte und wirtschaftliches Chaos bedrohen die bourgeoise Gesellschaft. Die Produktion ist zu hoch. Die einzige Lösung des Problems ist die Eroberung neuer oder die noch brutalere Ausbeutung alter Märkte. Um zu überleben, muß die Bourgeoisie neue Krisen gebären. Doch hat sie das Proletariat geschaffen, das die Bourgeoisie genau so vernichten möchte wie diese seinerzeit die Aristokratie.

Was aber nun folgt ist überraschend oder doch vielleicht nicht so überraschend, wenn man die deutsche Romantik kennt. Es ist dies eine wütige und doch nicht völlig ungerechte Kritik der modernen Industrie, des Maschinenzeitalters, der Knechtschaft, die dem Arbeiter durch die Vorläufer des Fließbandes aufgezwungen wird. Der Arbeiter, sagten Marx und Engels, ist durch die Maschine und durch die Vorarbeiter im Dienste einer ausbeutenden Bourgeoisie versklavt. Und schließlich kommen die beiden Autoren zum Grundübel: Der Arbeiter bekommt nur einen Teil seines ihm zustehenden, gerechten Lohns.

Doch da gibt es einen Trost in Form einer ausgleichenden, dialektischen Gerechtigkeit: Zwar zwingt die Bourgeoisie alle Menschen auf das proletarische Niveau hinunter, aber das Große, das Kolossale, die Masse wird überall siegen. Schon gibt es auch Kleinbürger, die, ob sie es nun wollen oder nicht, vom Proletariat verschlungen werden. Doch innerhalb des Proletariats gibt es bereits eine neue Kultur: Die Beziehungen des Proletariers zu Frau und Kind, zu Staat und Nation sind schon ganz andere als die des Bourgeois. Er hat kein Vaterland,28) keine bourgeoise Moral, keine Religion. Und während in der Vergangenheit nur Minderheiten für ihre Interessen kämpften, ist die Bewegung der Proletarier eine unabhängige Bewegung, die der großen Mehrheit im Interesse der großen Mehrheit. Das klingt nicht nur, das ist tatsächlich höchst demokratisch – freilich auch nur so lange, als das Proletariat eine wirkliche Mehrheit bildet. (Was sie längst nicht mehr in den meisten industrialisierten Ländern tut.) Laut des Manifests ist jedoch sehr logisch der erste Schritt in der Revolution der Arbeiter der Kampf um die Verwirklichung der Demokratie, der Regierung der Mehrheit von Gleichen.

Alldies geschieht jedoch ‚automatisch‘, ist Teil eines wissenschaftlich erforschten historischen Gesetzes. Nur fragt man sich dann, wenn dem wirklich so ist, warum man dann revolutionäre Bewegungen organisieren soll? Revolutionen fordern Opfer – auf beiden Seiten!

Die bourgeoise Gesellschaft ist sowieso schon bankrott, lehrt uns das Manifest. Wenn man den Kommunisten vorwirft, sie wollen die bürgerliche Ehe abschaffen, so ist dies heuchlerisch, denn die allgemeine Promiskuität durch Ehebrüche am laufenden Band ist schon längst in der bürgerlichen Gesellschaft die Regel. Doch hatten Marx und Engels stets eine allmähliche, eine stufenweise Einführung des Kommunismus ins Auge gefaßt – über ein demokratisches Zwischenstadium. Durch dieses würde dann mit den Worten Carl Schmitts die „legale Weltrevolution“ durch Wahlen inszeniert werden können.29) Daher auch die Begeisterung von Engels für die demokratische Republik als Sprungbrett für den Kommunismus.30) Daher auch die Begeisterung der sowjetischen Schriftgelehrten für diese Regierungsform westlich der Grenzen des „Sozialistischen Vaterlands“.31)

Und wie war nun das Programm für die Eroberung des Staates durch das Proletariat, ein Prozeß, der sehr wohl – falls das Proletariat eine riesige Mehrheit bildet – im parlamentarischen Rahmen durchgeführt werden kann? In Rußland kam es allerdings ganz anders, wie ja auch in China und in den Ländern, die von Roten Armeen militärisch erobert wurden.

Wir lesen: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benützen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in die Hände des Staates, d. h. des als Herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“

(Man beachte hier die Worte „Staat“, „zentralisieren“ und die nach dem Gesagten doch widersprüchliche Begeisterung für eine Produktionsvermehrung – doch auch nur durch die ‚Fabrikssklaverei‘!)

Dann aber wird freimütig zugegeben, daß diese ‚Operationen‘ nicht nur „despotische Eingriffe“ benötigen, sondern auch „ökonomisch unzureichend und unhaltbar“ erscheinen werden, aber „zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind“. Das wird Krisen hervorrufen, vielleicht sogar Hunger und Elend, ganz so wie Stalins Vernichtung des freien Bauernstandes. Diese hat das Leben von Millionen gekostet, aber schließlich bat ideologischer Machthunger stets den Vorrang.

Wie sieht aber nun bei Marx und Engels das sicherlich demokratische (mehrheitlich-egalitäre) Verfahren zur Festigung der Herrschaft des Proletariats und zur Verwirklichung des Kommunismus konkret aus?

1) Enteignung des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente für Staatsausgaben.

2) Starke Progressivsteuer.

3) Abschaffung des Erbrechts.

4) Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.

5) Zentralisierung des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit ausschließlichem Monopol.

6) Zentralisierung des Transportwesens in den Händen des Staats.

7) Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.

8) Gleicher Arbeitszwang für alle. Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau. (Den „Idiotismus des Landlebens“ revitalisierend?)

9) Vereinigung der Betriebe von Ackerbau und Industrie. Einwirkung auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.

10) Öffentliche und unentgeltliche Erziehung der Kinder. Beseitigung der Fabriksarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.

Was dann folgt ist eine Denunzierung aller sozialistischen Parteien, Gruppen und Bewegungen, besonders aber solcher, die einen christlichen, bürgerlichen oder gar aristokratischen Charakter tragen. Doch wird der Bourgeoisie weitere Schützenhilfe in ihrem Kampf gegen Monarchie und Feudalherrschaft versprochen. Das Manifest endet mit den Worten: „Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder. Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnungen. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Proletarier aller Länder vereinigt euch!“

Eine aufmerksame Lektüre dieses Manifests ist nicht nur deswegen interessant, weil es die Mentalität der beiden Autoren grell beleuchtet, sondern auch weil es voller innerer Widersprüche und Kurzschlüsse ist. Das Hin und Her zwischen (parlamentarischer) Demokratie und Revolution, die Verdammung und Bekräftigung des Agrarsektors, die „Entfremdung“ des Industriearbeiters, der doch keine andersgeartete Arbeitsmodalität in den USA und der UdSSR besitzt, der brutale Etatismus, der in und zwischen den Zeilen zu lesen ist, das alles spricht eine doch recht deutliche Sprache. Nachdenklich muß es auch stimmen, daß im Manifest nach der herzlich negativen Beschreibung der verschiedenen Formen des Sozialismus, Marx und Engels sich nicht ein einzigesmal für Sozialisten, sondern für die einzig echten und wahren Kommunisten halten.33) Uns aber sollte das Manifest zu einer kuriosen Gewissenserforschung inspirieren: Wir sollten uns einmal ehrlich fragen, wieviel von diesem marxistischen Gedankengut die meisten unter uns längst schon aufgenommen haben und wie weitgehend die Marx–Engels’sche Programmatik in der immer noch Freien Welt schon verwirklicht wurde. Selbst in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten haben die Kinder und Enkel der alten liberalen Tradition sich Ideen aus dem Kommunistischen Manifest angeeignet. Den schönen Satz unserer Autoren, daß die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, finden wir selbst in einer päpstlichen Enzyklika.34)

Punkt eins des Programms, die gewaltsame Agrarreform, ist schon vor dem Zweiten Weltkrieg massiv in der Tschechoslowakei, in Estland, Lettland Jugoslawien und Rumänien, in geringerem Ausmaß aber auch in Ungarn, Spanien und Polen, durchgeführt worden, wenn auch teils aus nationalpolitischen Gründen, teils auch um den Bauernstand zu fördern, nicht aber um den Staat zu bereichern.35) Doch die radikalsten Agrarreformen vor dem Ersten Weltkrieg wurden in Rußland im Zuge der Befreiung der Leibeigenen (1861) und dann durch Stolypin nach 1906 durchgeführt.

Punkt zwei wird in der ganz überwältigenden Mehrheit der freien Länder ausgiebig praktiziert. Das soaking the rich, das „Auspressen der Reichen“, bringt den Staaten wenig Geld, ist aber ein beliebter Wahlschlager und hilft den Neid der Massen zu besänftigen. (Der Hauptteil der Einkommenssteuer kommt in der Regel von der unteren Hälfte der mittleren Einkommen.) Auch liebt der Staat die „Allzureichen“ ebensowenig wie früher die Monarchen die mächtigsten Edelleute. Die Angst vor unabhängigen (daher „unkontrollierbaren“) Menschen ist in allen Ländern groß.

Punkt drei wird in manchen Ländern durch eine konfiskatorische Erbsteuer ersetzt, die in England angewandt wurde, um die finanzielle Stärke des Grundbesitzes zu zerstören. Der reiche Finanzmann, im Unterschied zum Grundbesitzer, hat hunderte Möglichkeiten, einer vernichtenden Erbsteuer auszuweichen. Der Multimillionär kann im Hotelzimmer oder im Spital mit zwei abgetragenen Anzügen im Schrank sterben, denn wir leben im Zeitalter des „Papiers“. Der Grundbesitzer hingegen kann sein Vermögen nicht verstecken.

Punkt vier. Diesen praktizierten und praktizieren alle Staaten, die nicht strikt als Rechtsstaaten angesprochen werden können.

Punkt fünf: Dieser bedroht ganz Europa. In verschiedenen „westlichen“ Ländern, wie zum Beispiel in Frankreich oder Österreich, wurden die Großbanken „nationalisiert“, sodaß dann tatsächlich ein Bankenmonopol des immer mächtiger werdenden Staates vorliegt.

Punkt sechs: Die Zentralisierung und Verstaatlichung des Transportwesens ist im Freien Europa längst abgeschlossen. Nur in den Vereinigten Staaten und in einigen anderen Überseeländern gibt es noch private Eisenbahngesellschaften und auch Fluglinien ohne staatliche Beteiligung. Dasselbe gilt für den Telegramm- und Telefonverkehr36) und sehr weitgehend auch für Rundfunk und Fernsehen. Niemandem fällt es mehr auf, daß wir es hier mit marxistischen Forderungen zu tun haben.

Punkt sieben: Die Nationalisierung eines sehr großen Sektors der Privatwirtschaft ist bei uns allenhalben eine vollendete Tatsache. Wir haben gesehen, wie auch „christliche“ Parteien nach den Zweiten Weltkrieg in Parlamenten für die Erweiterung der Staatsallmacht aus „sozialen Gründen“ und dank ihrer bodenlosen wirtschaftlichen Ignoranz gestimmt hatten. Damit haben wir auch im Westen so viele „volkseigene Betriebe“. Das gilt nicht nur für Frankreich und Österreich, sondern auch für Italien und – gewissermaßen – auch für Spanien.

Punkt acht hat allerdings dem nationalen Sozialismus mit seinem Arbeitsdienst37) besser gefallen als dem internationalen Sozialismus, denn der kommunistische Vollsozialismus ist schon an und für sich ein Arbeitszwangssystem für „Werktätige“. Doch „Arbeitsheere“ hatten wir auch in den Vereinigten Staaten während Roosevelts New Deal.

Punkt neun: Dieser muß im Lichte von Marxens Bauernhaß und seiner Phrase über den „Idiotismus des Landlebens“ verstanden werden. Der Bauer mit eigenem Haus und Feld ist ein „unkontrollierbares“ Wesen. In der Sowjetunion ist auch tatsächlich die „Agrarstadt“ (agrogorod) entstanden. Die Sozialisierung des Agrarsektors durch „Zusammenlegungen“ und Zwangskooperative begünstigt diese Entwicklung.

Punkt zehn: Bei uns finden wir schon allenthalben die Tendenz zur Ganztagsschule, denn die Mütter sollen für einen höheren Lebensstandard und für ihre weibliche „Selbstverwirklichung“ einem Beruf nachgehen. Solche Tendenzen gibt es auch in „bürgerlichen“38) Kreisen. Chruschtschjów hatte den Plan, ab 1980 neunzig Prozent der Sowjetkinder im Alter von sechs Jahren den Eltern wegzunehmen und sie staatlich erziehen zu lassen. (Schon wegen der niedrigen großrussischen Geburtenziffer ist dieser Plan längst fallengelassen worden, denn welches Elternpaar will schon für den Staat allein Kinder produzieren?) Wie man aber sieht, findet man hier im Manifest klassisch linke Pläne, die schon Morelly, Sade und Babeuf gepredigt hatten. Die Kinder gehören eben nicht den Eltern, sondern der Nation!39) Auch soll den Kindern weniger eine geistige und mehr eine praktische („für die materielle Produktion vorbereitende“) Erziehung gegeben werden. Daher auch der Kampf für die Gesamtschule40)) und gegen das (klassische) Gymnasium!

Freilich gibt uns das Manifest keineswegs die ganze marxistische Theorie, aber es zeigt sehr deutlich die Mentalität nicht nur der marxistischen, sondern auch der angeblich „nichtmarxistischen“ Linken. Tatsächlich ist das Hauptwerk des älteren Marx (und das zusätzliche von Engels) nicht viel anderes als eine Intellektualisierung und Rationalisierung des Manifests. Positivismus und Atheismus sind absolute Grundlagen seines Denkens, die auf Comte, Feuerbach und der Umkehrung der Philosophie Hegels beruhen. Als weitere Quellen müssen der französische Sozialismus einschließlich des verachteten Proudhon, der englische Sozialismus (Owen), gewisse Phasen von Ricardo und natürlich auch das ihm übermittelte Bild des Elends der britischen Arbeiterschaft erwähnt werden. Da aber das Vereinte Königreich das am meisten industrialisierte Land Europas war, nahm Marx an, daß alle anderen Länder durch genau denselben Prozeß durchgehen mußten. Das war aber nur sehr zum Teil der Fall. Ein Bücherwurm kann sich eben von der Realität herrlich weit entfernen. Stellen wir hier nur einmal fest, daß Karl Marx seinen Fuß nie in eine Fabrik gesetzt hatte. Von den Arbeitern sprach er stets mit der größten Verachtung, nannte sie „Knoten“ und „Straubinger“. Gerade hierin unterschied er sich, der oft ein Monokel41) trug, radikal von Proudhon.

In seinen Büchern bekommen wir ein volleres Bild seiner Ideen. Nur der erste Band von Das Kapital wurde während seines Lebens veröffentlicht. Die anderen zwei (in manchen Ausgaben drei) wurden von Engels und Kautsky aus dem Material, das Marx hinterlassen hatte, ediert, redigiert und veröffentlicht. Aus den Seiten dieses kritisch-analytischen Werkes kann man eine weitere Konkretisierung der Utopie Marxens eigentlich nicht entnehmen. Das kritische Element war bei Marx weit mehr entwickelt als seine planenden Gaben, denn für das Schöpferische braucht man die Liebe als treibende Kraft, und die fehlte bei Marx. Von allen seinen Theorien über die Übel, Fallen und Gefahren des ‚Kapitalismus‘ (an und für sich ein verfehlter Ausdruck, der mit „freier Marktwirtschaft“ ersetzt werden sollte) ist die Theorie der Konzentrierung und Monopolisierung die einzige, die heute noch ernst genommen werden muß – außer von den Altliberalen, die freilich immer einen Weltmarkt vor Augen haben. (Anders aber die Neuliberalen, die sich vor dem wirtschaftlichen „Kolossalismus“ fürchten.42)) Doch wie uns die Geschichte lehrt, ist die Konzentration ein Problem, das in einem freien Staat und in einer freien Gesellschaft mit Klugheit und nicht bloß mit Strafparagraphen unter Kontrolle gebracht werden kann. (Dafür ist Amerika nicht wirklich als Vorbild zu gebrauchen.) Die Konzentration, der Mammutismus und Kolossalismus sind jedoch wirtschaftliche Grundprinzipien des Sozialismus, der nichts anderes sein kann als ein Staatskapitalismus.43)

Keine andere Prophezeiung Marxens hat sich jedoch bewahrheitet. Marx war wirtschaftsgeschichtlich zu früh geboren und ähnelte daher einem jungen Romanschriftsteller, der Romane über das „Leben“ schreibt, obwohl er nur wieder andere junge Leute kennt. (Hier liegt ein literarisches Privileg des Alters vor: Der Greis mit guter Erinnerungsgabe kann über Kinder und junge Leute, junge Leute aber schwerlich über das hohe Alter schreiben. Sie können es lediglich zu „erraten“ versuchen!) Später in seinem Leben war Marx von der Wichtigkeit der Technik überzeugt, und sie figurierte auch in seinen Berechnungen, aber dieses Element war zu neu, um in den Projektionen gültig verwendet zu werden. (Auch wir wissen herzlich wenig über die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Endwirkungen der Computer und der Automation.) Marx war derartig in seinen Theorien eingesponnen, daß er eine ganze Reihe neuer Faktoren übersah, die von der Niederschrift des Manifests bis zu seinem Tod im Jahre 1883 aufgetreten waren. Zwischen seiner brennenden Intellektualität und seinem hassenden Fanatismus eingekeilt, hatte er pseudoreligiöse Visionen. So dichtete er der Geschichte einen unschuldig-paradiesischen Anfang an, gefolgt von einem „Sündenfall“. Dieser bestand in einer bösartigen, egoistischen Kristallisierung zu einer Klassengesellschaft mit Familie, Religion und Staat, belastet mit einem ausbeuterischen Produktionssystem, bis er, der wahre Prophet, mitsamt seinen Jüngern auf der geschichtlichen Bühne auftrat, um die neue Frohbotschaft der Erlösung mit neuen Heiligen Schriften zu predigen. Das Tausendjährige Reich, beginnend mit einer Diktatur des Proletariats, war nicht mehr weit und sollte uns in das verlorene Paradies der glücklichen Urzeit herrschaftsloser Horden in moderner Version zurückführen. Marx war jedoch zu schlau, um das Beispiel der Frühsozialisten nachzuahmen und uns ein präzises Bild dieser Herrlichkeit zu geben. Er verkündete bloß einen „wissenschaftlichen Sozialismus“, und daher war auch Lenin nach der Machtübernahme etwas verloren und beklagte sich über das Fehlen einer weiteren, genaueren Marschroute.

Es ist nicht leicht zu sagen, wen Marx mehr haßte, die Abweichler im sozialistischen Lager, Männer wie Proudhon, Bakunin, Lassalle, oder den gesichtslosen, großen Feind, die „kapitalistische Bourgeoisie“ mit „Schlössern, Equipagen und Millionen von Thalern“. In seinem Kampf gegen beide Seiten wurde er durch seinen farbenreichen Stil unterstützt, dem wir im Kapital auch zahlreiche brillante Seiten und Passagen verdanken. Der wirkliche Marx wird jedoch nur in seinen Gedichten und Briefen echt lebendig, besonders dann, wenn er Gift und Galle gegen seine früheren Freunde, Mitarbeiter und Sympathisanten speit. Tatsächlich wetteiferte er mit Engels in seinen judenfeindlichen Ausfällen gegen Lassalle, wobei er vor allem die physischen Charakteristiken seines erfolgreichen Konkurrenten aufs Korn nahm. Marx verfiel dann in einen Stil, der sich durch nichts von dem Julius Streichers im Stürmer unterschied. Er war überzeugt, daß ein jüdischer Stamm aus Negern bestand und nannte Lassalle deshalb einen „jüdischen Nigger“, doch auch Engels befleißigte sich nicht einer milderen Tonart.44)

Das ist alles nicht so wunderlich, denn in Wirklichkeit und ganz im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung besteht zwischen der sozialistischen und jüdischen Mentalität ein innerer Gegensatz, der im Laufe der Zeit immer wieder zum Ausdruck kommt. Als kleine Minderheit innerhalb der christlichen Mehrheit (mit der die Juden heilsgeschichtlich-mystisch verbunden bleiben) haben sie selbstverständlich einen Hang zum einseitig Kritischen, wie er bei jeder religiösen Minderheit zu finden ist. Den Glauben der großen Mehrheit in Frage stellend, betonen diese Minderheiten die Verneinung, was sie natürlich äußerst unpopulär macht, denn nichts geht dem Spießer mehr auf die Nerven als die Kritik, die nicht mit dem bloßen „Raunzen“ oder „Meckern“ zu verwechseln ist. Der echte Kritiker wirkt für ihn „destruktiv“. Wenn aber nun diese kritische Minderheit intellektuell und womöglich auch finanziell erfolgreich ist, wird der bisher schon innerlich unruhige Philister böse. Um das Unglück voll zu machen, kommt dazu die völlig natürliche persönliche Ambition der unter einem gesellschaftlichen Druck stehenden Minderheit.45) Schon ist auch der große Neid der “Überflügelten“ da. Diese Situation ist aber keineswegs einzigartig, denn wir haben so viele andere Parallelfälle: die reichen Reformierten in Frankreich, die Deutschen im alten Rußland, die Armenier und Griechen in der alten Türkei, die Christen im Nahen Osten, die Inder in Afrika, die Viets in Kambodscha und Laos, die Chinesen in Indonesien, die „Neuspanier“ in Mexiko,46) die Japaner und Turcos47) in Brasilien und selbst die Katholiken in den nördlichen Niederlanden.

Wenn auch in der Vergangenheit sehr viele Juden sich von den kritischen Aspekten des Sozialismus angezogen fühlten und wichtige Rollen im frühen Sozialismus gespielt hatten – die Namen Trotzkij, Kamenew, Zinowjew, Radek, Kún, Bernstein, Eisner, Blum, Bauer, Viktor und Friedrich Adler bezeugen es, – so stehen die Juden doch dem sozialistischen Konformismus, Antipersonalismus, dem ständigen Moralisieren und den intellektuellen Kontrollen feindselig gegenüber. Freilich lehnte im alten Rußland, nicht aber in Österreich–Ungarn, der Jude das Ancien Régime ab, eine Haltung, die die neuere jüdische Einwanderung (aus Osteuropa) in das linke Lager drängte. Das aber war bei der alteingesessenen Judenschaft Amerikas nicht der Fall.“48) Bezeichnenderweise ist im amerikanischen Neukonservatismus der Anteil der Juden auffallend groß. Und es muß hier auch gesagt werden, daß im alten, konservativen Lager Europas getaufte Juden ideengeschichtlich eine große Rolle gespielt haben – man denke da an Disraeli und F. J. Stahl, den „Ideologen“ des preußischen Konservatismus. Nicht vergessen darf man auch (ungetaufte) Juden in den Vereinigten Staaten, die während des Zweiten Weltkriegs nebst gewissen katholischen Kreisen die einzige Gruppe bildeten, die lautstark vor der allzu engen Allianz mit der Sowjetunion warnte.49) Ganz davon abgesehen, hatte es in der sozialistischen Bewegung stets einen radikalen „Antisemitismus“ gegeben. Darüber gibt es reichliches Material.50)

Doch auch in Osteuropa, wo einst die Monarchie eine eher judenfeindliche Rechtsordnung vertrat, mußte es bald zu einem Bruch zwischen dem Marxismus und dem Judentum kommen. Die persönliche Feindschaft zwischen Trotzkij und Stalin hatte dafür den Boden bereitet. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, hatte Stalin viel mehr Juden umgebracht als Hitler.51) Marx selbst hatte den Grund dafür gelegt, als er in einem der giftigsten antijüdischen Pamphlete aller Zeiten (auch Luther in dieser Beziehung übertreffend52)) schrieb: „Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis des Eigennutzes. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld… Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewußtsein würde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen.“

Doch dieser Essay schließt nach langen Schimpftiraden gegen das Christentum, das jüdischen Ursprungs ist, und gegen das Judentum, das im Christentum nistet, mit den Worten: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“53) Aber, wie soll das geschehen? Durch eine ‚Endlösung‘? Im Lichte dieser Tatsachen ist es amüsant, sich daran zu erinnern, daß ein christlich-demokratischer Postminister einer Bonner Koalitionsregierung eine Sondermarke mit dem Bildnis von Karl Marx herausgab – von Karl Marx, der unerhörtes Elend über die Menschheit gebracht hat. Warum dann aber nicht von einem seiner Epigonen in der Judenhetze, Julius Streicher?54)

Die falsch gestellten Weichen

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