Читать книгу Die falsch gestellten Weichen - Von Kuehnelt-Leddihn Erik - Страница 26

20. CHRISTENTUM VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG

Оглавление

Die katholische Kirche ging in den Jahren 1789 bis 1914 durch eine Reihe von Phasen. Es war dies ein Auf und Ab, das aber im Endeffekt dennoch keineswegs als eine längere Periode des Abstiegs gewertet werden darf. Die Französische Revolution, so müssen wir gleich eingangs bemerken, traf die Kirche keineswegs in Frankreich oder anderswo in einem Zustand des völligen Zerfalls oder der inneren Auflösung, außer allerdings in einem richtunggebenden Sektor der Intelligenz, der gesellschaftlichen Spitzen, und des intellektualisierten Klerus. Es ist natürlich richtig, daß es in Frankreich ungeschriebene Adelsprivilegien innerhalb der Hierarchie1) gab, daß Salonabbés herumschwärmten, die nicht an die grundlegenden Dogmen der Kirche glaubten, doch lebte die große Mehrheit der französischen Geistlichkeit, wie zahlreiche Beobachter aus der vorrevolutionären Zeit hervorhoben, brav, anständig, fromm und fleißig: Die Pfarrer und Bischöfe sorgten sich in so mannigfaltiger Weise um das Wohl und Wehe des einfachen Volkes und beschränkten sich nicht auf die Seelsorge.2) Man muß aber zugeben, daß die Kirche in Frankreich damals immer noch am „inneren Schisma“ des Jansenismus litt, einer puritanisch-prädestinatären (in gewissem Sinn „kalvinistischen“) Strömung in der Kirche, deren allerletzte Ausläufer bis zum Ersten Weltkrieg und auch darüber hinaus gingen.3) Der Jansenismus wurde durch eine Zusammenarbeit von Staat und römischer Kirchenleitung gewaltsam unterdrückt, und deshalb darf man sich nicht wundern, daß Jansenisten und auch Reformierte sich am Königtum zu rächen suchten und republikanisch zu fühlen begannen. Das zeigte sich dann auch im Spiegelbild anticalvinischer Ausschreitungen von Royalisten nach dem Sturz Napoleons.

Doch gab es, um einen Ausdruck Spenglers zu gebrauchen, während der Französischen Revolution auch einen Priesterpöbel, der nicht nur kompromißhaft kollaborierte und den vom Papst verbotenen Eid auf die Verfassung ablegte, sondern auch auf dem äußerst linken Flügel der Revolution eine nicht ganz unbeträchtliche und zumal höchst widerlich-widernatürliche Rolle spielte. Selbst Ordensleute waren darunter.

Doch hatte die Erste Aufklärung auch anderswo, und nicht nur in Frankreich, ihre Opfer gefordert. Durch den Josephinismus–Febronianismus war nicht nur allenthalben im Herzen Europas die Kirche enger an den Staat gebunden, sondern auch der Volksfrömmigkeit an den Leib gerückt worden. Diese Welle des „Antiklerikalismus“ überdauerte selbst die Französische Revolution und reichte bis in die Romantik hinein, die doch eine Reaktion auf die „Linke Welle“ gewesen war. (Man denke nur daran, daß lediglich empörte Bauern die Zerstörung der weltberühmten Wies–Kirche in Bayern durch eine „aufgeklärte“ Regierung verhinderten!) Freilich war der Josephinismus nicht ohne Widerstand über die Bretter gegangen: In den österreichischen Niederlanden, wie wir schon erwähnten, hatte er eine wahre Revolte hervorgerufen.

In der Romantik aber hatte die Kirche tatsächlich einen gewissen Auftrieb erlitten, der aber eher sentimentale als rationale Ursachen hatte. Die Greuel der französischen Demokraten und die napoleonischen Kriege, die den Fortschritt mit Feuer und Schwert über fast ganz Europa verbreiteten, hatten bei denkenden, viel mehr aber noch bei feinfühligen Menschen einen wahren Widerwillen gegen das „Neue“ erregt. Die katholische Kirche verzeichnete damals eine überraschende Anzahl von Konvertiten, die in der Mehrzahl aus dem Lager lauer oder innerlich abgefallener evangelischer Christen kamen. (Die Frommen wandten sich eher dem Pietismus zu.) Die Überzeugung war damals stark, daß die Monarchie mit dem katholischen Glauben innerlich verbunden war, während dem ‚Protestantismus‘ eine demokratisch-republikanische Tendenz innewohne – wohl ebenfalls eine fausse idée claire, die aber umso zugkräftiger war.

Auch heute nimmt man in kleinen katholisch-konservativen Kreisen nur zu gerne an, daß der Humanismus Luther, Luther aber die Französische Revolution, überdies Luther den Liberalismus und den ‚Kapitalismus‘ hervorgebracht haben, der ‚Kapitalismus‘ aber zwangsläufig zum Sozialismus führe. Nun war aber Luther in Wirklichkeit ein Antihumanist4) und allen demotischen Vorstellungen5) sowie wirklichen Neuerungen gegenüber spinnefeind gesinnt. (Demotisch-demokratische Tendenzen finden wir hingegen beim Jesuiten Suárez und anderen Spätscholastikern.) Der ‚Kapitalismus‘ hingegen wurde in der katholischen Lombardei6) und in Spanien7) geboren. Er bekam allerdings durch den Calvinismus einen späten, wenn auch gewaltigen Antrieb, wobei aber nicht so sehr die freie Wirtschaft (die man so gerne mit dem unsachlichen Terminus „Kapitalismus“ belegt), sondern der erhöhte, wenn nicht der überhöhte Arbeitsethos den Reichtum des Nordens in der Vergangenheit begründete. Zweifelhaft ist es allerdings, ob sich diese bewährte Arbeitsmoral im Versorgungsstaat noch lange halten wird.

Materiell ist die katholische von der reformatorischen Welt erst von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an überholt worden. Der Abstieg Spaniens begann keineswegs mit dem wetterbedingten Untergang der Armada. Frankreich und Österreich waren noch bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts die Großmächte Europas. Noch 1763 vergrößerte sich das spanische Imperium gewaltig. Der amerikanische Mittlere Westen vom Mississippi zu den Rocky Mountains und bis nach Kanada hinauf wurde damals spanisch. Orte wie St. Louis und das Stadtgebiet des heutigen Minneapolis kamen unter die Herrschaft Madrids; Spanier und Russen begegneten sich nördlich von San Francisco.8) Zwar konnten die Niederländer mehr als die Hälfte des portugiesischen Weltreichs während der spanischen Besetzung Portugals blutlos annektieren, doch den Brasilianern gelang es nach einiger Zeit, die Niederländer wieder hinauszuwerfen.9)

Alldies ändert nichts an der Tatsache, daß die Zeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (trotz des Verlustes der dreizehn Kolonien in Nordamerika durch französische Intervention) eine Zeit der absoluten britischen (und auch preußischen) Aszendenz ist, während die Bedeutung Schwedens und der Niederlande – beides Großmächte vor nicht allzulanger Zeit – sich ihrem Ende nähert. Doch selbst nach 1815 ist Frankreichs Stellung als Großmacht praktisch unbestritten.

Der Primat des Mundus Reformatus ist aber nicht so sehr auf den „neuen Glauben“, sondern viel eher auf seine rapide Säkularisierung zurückzuführen. Mit Recht hatte Hegel behauptet, daß nicht im katholischen Raum, sondern in den Ländern der Reformationskirchen die Französische Revolution ihre eigentlichen Triumphe gefeiert hatte.10) Dasselbe kann man auch von der Aufklärung sagen. Diese Verweltlichung drückte sich schon in der reformatorischen Negierung einer kirchlich-religiösen Kultur an. Alexander Rüstow hat uns in einem wohldokumentierten Essay den Abbruch der deutschen Malerei durch die Reformation vor Augen geführt,11) und A. Müller–Armack verdanken wir, nur um ein Beispiel zu nennen, den Hinweis, daß in Leipzig die erste evangelische Kirche seit der Reformation erst 1870 gebaut wurde.12) Der Geist und die Energien des Mundus Reformatus konnten sich in weltlich-verweltlichtem Enthusiasmus auf die irdischen Güter konzentrieren. Die These Max Webers ist zumindestens halbwahr. Auch nicht so zufällig entwickelte sich die Technik im Norden Europas schneller und durchdrang dort das tägliche Leben auch intensiver als im Süden und vor allem im Osten Europas, da sich dort noch gewisse manichäische Residuen einer solchen Entwicklung gegenüberstellten. Doch diese Evolution im Norden verband sich auch mit einem starken Sinn für Disziplin, Ordnung und Pünktlichkeit, wie man es früher nur im monastischen Rahmen mit der strengen Arbeits- und Zeiteinteilung gewohnt war. Das anarchische Lebensgefühl der katholischen und der ostkirchlichen Welt, verbunden mit Trägheit, Schlamperei, joie de vivre und dolce vita, eignete sich für eine rapide Industrialisierung herzlich wenig.13) Der Militarismus Preußens und der „Marinismus“ Englands gaben dem „südlicheren Norden“ auch eine große politische Machtfülle. Die katholischen Völker gerieten ins Hintertreffen; auch die schulische Bildung und selbst die Geburtenziffern in den katholischen Ländern hielten keine Vergleiche aus. Erst nach dem Ersten Weltkrieg holten die katholischen Bevölkerungsteile und Länder wieder auf.14)

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Krise in der katholischen Kirche und im Orbis Catholicus einen wahren Zenit erreicht, wobei sie einer Phalanx von Gegnern gegenüberstand: Vulgärprotestantismus,15) Freimaurerei, Nationalismus, Demokratie, Liberalismus, Antiklerikalismus, Sozialismus, Gallikanismus und Staatskirchentum, Materialismus, Anarchismus und einer ganzen Reihe von ideologischen und philosophischen Strömungen. Wie wenig man damals als „gebildeter Mensch“ der Kirche noch anhängen konnte, zeigt der Ausruf Leos XIII., der einen fromm-katholischen Arzt in Privataudienz empfing: „Medicus catholicus, res miranda!“ Ein sogenannter Rationalismus hatte den Glauben bei der immer größer werdenden Masse der Halbgebildeten (vor allem im Bürgertum) unterhöhlt, sodaß er nur mehr in der stets schrumpfenden Bauernschaft, im kleinsten Kleinbürgertum, in manchen Fragmenten der Arbeiterschaft, bei einigen wenigen Traditionalisten (vornehmlich im Adel) und auch bei total emanzipierten Intellektuellen und Künstlern, die bewußt gegen den Strom schwammen, vertreten war. Zu letzterer Gruppe gehörten in der Periode 1848–1914 Männer wie Newman, Donoso Cortés, Montalembert, Bloy, Péguy, Huysmans, Manzoni, Solowjów,16) Wilfred Ward, Hügel, Jarcke, Klopp, Pastor, Phillips – eine kurze Liste, und in dieser findet man bezeichnenderweise wenige Deutsche. Das sollte sich allerdings im 20. Jahrhundert überraschenderweise ändern. (Große evangelische Denker und Künstler, die aus ihrem Glauben heraus gewirkt haben? Außer Schleiermacher, Kuyper, Stahl, Gladstone und Troeltsch auch wieder fast niemand!)

Doch findet 1870 in der katholischen Kirche ein sehr bedeutendes Ereignis statt: Mitten in einer Zeit der „verlängerten Aufklärung“, des „bürgerlichen Freisinns“, des Materialismus und Rationalismus wurde das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit verkündet, in der Tat also nur die Verbindlichkeitserklärung einer alten, sehr allgemeinen Überzeugung, die aber gerade zu diesem Zeitpunkt als Kampfansage gegen die „Welt“ gewertet werden mußte. Ohne ein absolutes Magisterium wäre die katholische Kirche auf die Dauer allerdings nicht ausgekommen. Das Ende des Kirchenstaates, das mit einer neuen Bekräftigung der rein geistigen Führungsrolle des Papsttums zusammenfiel, hatte wahrhaft symbolische Bedeutung. Die „moderne Welt“ des „Fortschritts“ zeigte sich wütend, beleidigt und empört. Der Syllabus hatte sie allerdings schon auf diese Dogmatisierung vorbereitet. Der Artikel 80 (es ist dies der letzte) verdammte ausdrücklich die These, daß sich der Papst mit dem Fortschritt, dem (sektiererischen) Liberalismus und der modernen Gesellschaft aussöhnen sollte.17)

Europas Linke, die in dieser „frechen“ Dogmatisierung den Beginn der Agonie der Kirche sah – das Écrasez l’Infame! Voltaires wurde allenthalben wieder laut –, sollte sich jedoch enttäuscht sehen. Zwar war die katholische Kirche nun noch deutlicher die Verkörperung des „Rückschritts“, das so offensichtliche Hindernis am Wege des bejubelten Fortschritts, der den Himmel auf Erden verwirklichen sollte, aber schon die Gründung einer „altkatholischen“ Kirche, von der man dachte, daß sie alsbald die Mehrheit der katholischen Christen von Rom weglocken würde, kam fast einer Totgeburt gleich.18) Bismarck erhoffte sich für diesen Splitter einen großen Erfolg, und in manchen Schweizer Kantonen wurden im Zeichen des „bürgerlichen Freisinns“ die „Christkatholischen“ (im Unterschied zu den „Römischen“) finanziell unterstützt. Doch schon in der Zentrumspartei konnte die Kirche sich im Deutschen Reich ein gewisses Machtinstrument beschaffen, das im „Kulturkampf“ recht erfolgreich verwendet werden konnte. (Einen ‚Kulturkampf‘ nannte der aufgeklärte Anatom R. Virchow, der als Abgeordneter der Liberalen im Reichstag saß, diesen Kampf Bismarcks gegen die „fortschrittsfeindliche“ Kirche.) Doch gerade im Zentrum zeigte es sich, daß die katholische Kirche noch lange nicht wehrlos war, denn hier trat eine Partei auf den Plan, die tatsächlich alle Volksschichten auf der Basis des Glaubens umfaßte und auch Nichtkatholiken, wie zum Beispiel Ludwig von Gerlach, anzog.19) Und diese Partei, wie die auch mit ihr verwandte Bayrische Volkspartei,20) war keineswegs der politische Arm des Vatikans, sondern verfolgte eine eigene Politik.21)

An reinem Prestige in der „Welt“, besonders in der elitären Welt der Geister, blieb die katholische Kirche jedoch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs relativ arm. Von manchen Regierungen gestützt und bevorzugt (besonders in finanzieller Hinsicht), wurde sie von anderen benachteiligt, wenn nicht verfolgt. Man denke da nur an die Austreibung der religiösen Orden aus Frankreich und Portugal, an die antijesuitische Gesetzgebung im Zweiten Deutschen Reich, die erst 1917 dank des Eingreifens des Kaisers aufgehoben wurde, an die zahlreichen Verordnungen gegen die katholischen Christen in Norwegen und Schweden,22) in Rußland (vor 1905–1906), in der Schweiz und in Griechenland. Die Lage in England hatte sich nach 1829 sehr zu ihren Gunsten verändert, wo ihr Ansehen um 1900 im Vergleich zu anderen Ländern vielleicht am größten war. Freilich, es gab in Europa auch Gesetze, die evangelische Christen benachteiligten – so in Spanien und ferner in gewissen lateinamerikanischen Ländern, doch diese waren die Ausnahmen eher denn die Regel; sie entstammten eher einem nationalistischen Gefühl als einer Philosophie, Theologie oder Ideologie.23)

Das alles will natürlich nicht heißen, daß der ‚Protestantismus‘ ein echtes Ansehen hatte. Er galt lediglich als die mildere, aufgeklärtere, fortschrittlichere, liberalere, demokratischere, rationalere, gereinigtere, weniger korrupte Form einer hoffnungslosen Beschränktheit, d.h. des Christentums. Dieses schiefe Urteil war aber nur möglich, weil doch ein recht beträchtlicher Teil der Masse der evangelischen Christen mit oder ohne Zustimmung der Kirchenführung sich vom Gedankengut der Reformation entfernt hatte. Entgegen einem beliebten Klischee war eben Luther keineswegs ein „Frühliberaler“, ein Vorläufer der Demokratie, ein Verfechter des Relativismus und der Toleranz oder gar ein Humanist gewesen. Er reagierte gegen den Geist der Renaissance und jegliche Anthropolatrie. Die Reformation wurde nicht 1521, auch nicht im Jahre 1517, sondern im Winter 1510–1511 geboren, als der mittelalterliche, „gotische“ Mönch, der Augustiner-Eremit Martin Luther, von der neuen Universität Wittenberg24) nach Rom kam und dort mit Entsetzen wahrzunehmen glaubte, daß das Papsttum ein Neuheidentum finanzierte, favorisierte und protegierte. Dieser Verrat am innersten Wesen des Christentums mußte rückgängig gemacht werden! Soli Deo Gloria! Ehre für Gott allein! Der Glaube mußte verinnerlicht und entintellektualisiert werden! Luther also war ein Erzkonservativer, der sich gegen die damalige Modernität gewandt hatte. Kein Wunder also, daß die meisten Humanisten, die anfänglich mit ihm sympathisierten, sich nun von ihm abwandten – nicht nur Erasmus (ein frommer Mann),25) sondern selbst der sehr antiklerikale Reuchlin. Es waren auch gerade die Universitäten und die Universitätsstädte, die anfänglich der fideistischen, ja mystischen Lehre Luthers den größten Widerstand entgegensetzten.26) Bei uns aber lebt das Märchen von Luther als einem Produkt der Renaissance, der auf dem Kamm der höchsten Welle des Humanismus seinen Triumph feierte, immer noch weiter. Doch der Wandel im Lutherbild vom Wahren (oder wenigstens teilweise Wahren) zu Fiktionen war schon im frühen 19. Jahrhundert abgeschlossen.27) Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts war das Bild des donnernden, kompromißlosen, drohenden Theologen, der mit dem Teufel auf der Wartburg gekämpft hatte, allwöchentlich zur Beichte ging, den Tropfen des vergossenen Meßweins vom Boden ableckte, die Juden und die Bauern unflätig beschimpfte28) und die absolute Herrschaft des Staates über den aufmuckenden Herrn Omnes predigte, längst verschwunden. Die Ohrenbeichte fiel der Vergessenheit anheim, Beichtstühle wurden keine mehr gebaut oder bestehende entfernt.29) Die Aufklärung bemächtigte sich in Europa ganz vorzüglich des ‚Protestantismus‘.30)

Zwar gab es noch hie und da evangelische Denker, die der katholischen Vorvergangenheit und der reformatorischen Vergangenheit geistig verbunden blieben, Männer wie Stahl, Vilmar, Leo, Frantz,31) aber sie waren die Ausnahme eher denn die Regel. In den Vereinigten Staaten war es allerdings anders: Da lebte neben einem modernistischen Protestantism (der im katholischen Glauben ein mittelalterlichfeudal-monarchistisches Relikt sah) auch ein harter, puritanischer Fundamentalismus weiter. Für diesen waren katholische Christen zwar rückständige, aber dennoch frivole, heidnische Epikuräer. Diese Haltung lebt auch noch heute weiter und hat sich selbstverständlich gegen die „Welt“ als widerstandsfähiger erwiesen als sein „aufgeklärtes“ ganz und gar nicht im Geiste der Reformatoren weiter vegetierendes Gegenstück… oder auch eine betont „nachkonziliäre“ katholische Kirche. Man sehe sich nur einmal das berühmte Bild Grant Woods, betitelt American Gothic, im „Art Institute“ Chicagos an. Dann versteht man nicht nur den (ungebrochenen) Geist der amerikanischen Evangelikalen, sondern auch das Grundmotiv der so mittelalterlichen Reformatoren. Welches Gemälde würde aber wohl das Gegenteil von Woods American Gothic ausdrücken? Wohl Botticellis Geburt der Venus, einer wahrlich getauften Venus voller Lieblichkeit und Güte.32) (Und Botticelli war wahrhaftig ein frommer Mann.)

Eine echte Schwäche des Reformationschristentums bestand aber in seiner sehr gründlichen Verkennung der menschlichen Natur. Zuerst verwarf es die visuellen (eher denn die akustischen) Ausdrucksformen und Hilfsmittel.33) Luther und das Luthertum tolerierten zwar die großen Kulturwerte, forderten sie aber nicht ausdrücklich, während der Calvinismus eine alttestamentarische Wut auf „Fetische“ und „Idole“ entwickelte: Er war im Grunde gegen eine kirchliche Kunst und die Verwüstungen, die Calvinisten in Frankreich, den beiden Niederlanden und in England-Schottland angerichtet haben, entsetzen noch heute fromme oder auch unfromme Besucher der Kirchen und Kathedralen in diesen Ländern.34) Mit geschlossenen Augen sollte der Christ seinen Herrn anbeten und nicht worship stocks and stones,35) um mit Milton zu reden. Das aber ist für den Durchschnittsmenschen aus Fleisch und Blut oft zu viel verlangt. Das Christentum braucht, ja verlangt eine christliche Kultur mit Architektur, Skulpturen, Malerei, Musik, Prosa und Poesie.36) Die braucht der Mystiker wahrscheinlich nicht, doch die große Mehrheit der Christen sind eben keine Mystiker. Luther, der auch von Ekkehard kam, war es vielleicht. Es gibt zwar einen „Kulturkatholizismus“ (der natürlich seine Schwächen und verwundbaren Stellen hat), aber nicht wirklich einen „Kulturprotestantismus“ – außer in einer völlig zivilen, säkularen Form, die selbstverständlich mit der Aufklärung im Mundus Reformatus eine viel radikalere Säkularisierung hervorgerufen hat als im Orbis Catholicus. Der durchschnittliche Skandinavier oder Brite kommt zumeist nur als Tourist (oder als Konsument einer schöngeistigen Literatur) mit einer spezifisch christlichen Kultur in Kontakt. Doch muß im selben Atem zugegeben werden, daß der wirklich fromme evangelische Christ in der atheistischen Tyrannis existentiell und phänotypisch es leichter hat. Er kommt mit der Dünndruckbibel in der Rocktasche ganz gut aus.37)

Es war nun natürlich, daß im 19. Jahrhundert und auch bis zum Ersten Weltkrieg das Christentum in der Defensive war: Die katholische Kirche, weil sie geistig schlecht gerüstet auf einen totalen Krieg gegen sie durch das Aion („Welt“ und “Zeit“) elend vorbereitet war, die evangelischen Landeskirchen nicht nur weil sie zu weitgehend vom Staat abhingen, sondern auch deswegen, weil sie sich der Welt und dem Zeitgeist freudig oder auch demütig ergaben – obwohl Christus und vor allem die Apostel sie vor beiden stets gewarnt hatten.38) Die Ostkirche hingegen, autokephal und ohne wirkliche Magistratur, war – in Rußland seit Peter dem Großen – völlig am Gängelband des Staates. Dort war zudem auch der Klerus ganz ohne Ansehen. Der Priester („Pope“)39) und insbesonders seine Frau waren in so vielen Volkserzählungen und Märchen die Zielscheibe der Scherze und der Verachtung…

Allerdings sind die Worte des Heiligen Augustinus immer wahr gewesen: et paupera et inops est ecclesia, die Kirche ist arm und hilflos. Auch an die zweite Geschichte in Boccaccios Dekameron muß in diesem Zusammenhang erinnert werden.40) Doch hatte vor dem Ersten Weltkrieg die Kirche zwar keineswegs moralisch, wohl aber geistig, wie auch vom Standpunkt der Autorität einen bedauerlichen Tiefstand erreicht – wieder einmal erreicht. Sie hatte auch zweifellos stets nur eine sehr geringe Macht. Die „Macht“ der katholischen Kirche ist ein beliebtes Ammenmärchen, dem sowohl Gläubige als auch Ungläubige immer wieder verfallen. Auch in dem so oft gepriesenen, verteufelten und fast immer mißverstandenen Mittelalter war die Kirche keineswegs „mächtig“. Die Inquisition war eine staatliche Einrichtung, die durch einen königlichen Federstrich ins Leben gerufen oder auch abgeschafft werden konnte. Sie war im Grunde nie etwas anderes als eine geistliche Expertise im staatlichen Dienst. Der starrsinnige oder rückfällige Ketzer wurde der weltlichen Macht mit dem Wunsch übergeben, daß sie nicht sein Blut vergießen sollte.41) (Freilich war auch diese Hilfeleistung der Kirche dem Staat gegenüber das Resultat einer entsetzlichen kirchlichen Fehlentscheidung, ein fataler Unsinn, der aber kam und ging.) Gerne zitiert man Canossa als Symbol der Macht der mittelalterlichen Kirche, aber gerade die Geschichte Papst Gregors VII. zeigt die Schwäche des Papsttums, denn er starb in der Fremde. „Ich liebte die Gerechtigkeit und haßte die Ungerechtigkeit, deshalb sterbe ich im Exil“, waren seine letzten Worte.42) Die Wahrheit ist sehr einfach: Die ‚Macht‘ der Kirche war immer nur ein Mondlicht. Sie reflektierte fast immer nur das Sonnenlicht des Staates oder auch zuweilen den kollektiven Willen (und deshalb auch die Treue)43) eines Volkes.

Zweifellos war das weltweite Prestige des Papsttums im 20. Jahrhundert größer als im Mittelalter, das überhaupt nicht als ausgereift christliches Zeitalter betrachtet werden darf.44) Es kann auch mit Fug und Recht gefragt werden, ob es je ein „christliches Zeitalter“ gegeben hat oder ein solches überhaupt möglich sei – außer als eschatologische Erscheinung. Ich selbst wüßte keine Antwort darauf. Sicher ist es nur, daß der Christ nicht resignierend seine Hände in den Schoß legen darf und – was immer seine „reale“ Hoffnung – in dieser Richtung arbeiten muß.

Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts kündete sich innerhalb der katholischen Kirche eine theologische Krise an: der Modernismus. Der echte, also häretische Modernismus, versuchte den katholischen Glauben in Symbolen „weltlich“ aufzulösen. Leider wurde diese für den Glauben höchst gefährliche Tendenz von der Kirchenführung oft mit den „reformkatholischen“ Bestrebungen verwechselt.45) Es gibt in der katholischen Kirche und Lehre Adiaphora, aber daneben auch Einrichtungen, Gesetze und Meinungen, die nicht nur veränderbar sind, sondern auch aus verschiedenen Gründen verändert werden sollten. Nun aber erzeugte der Modernismus eine Erregung und Gespanntheit mit zahlreichen Verdächtigungen, die zu Anzeigen bei Bischöfen und auch in Rom selbst führten. Wie der Fall des „Amerikanismus“ schon unter Leo XIII. zeigte, blühte bald ein häßliches Angebertum.46) Das Spitzelwesen erreichte durch die Organisation des Sodalitium Pianum einen wahren Höhepunkt.47) So war es zum Beispiel bezeichnend, daß die sehr fromme Baronin Enrica Handel–Mazetti in Rom als „Modernistin“ angezeigt wurde, weil sie in ihrem Roman Jesse und Maria, der zur Zeit der Reformation spielt, auch böse katholische und gute evangelische Christen figurieren ließ. Hier muß man dennoch im Rückblick das harte, oft vielleicht auch sehr lieblose Durchgreifen des Vatikans unter dem heiligmäßigen Papst Pius X. positiv48) werten, denn damals wurde eine Wirrnis unter den Gläubigen verhindert, ein Chaos, wie es fünfzig-sechzig Jahre später unter schwachen Päpsten eintrat.

Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die katholische Kirche in der europäischen Szene weder ein politischer noch ein bedeutender moralisch-spiritueller Faktor – und die evangelischen wie auch die Kirchen des Ostens noch viel weniger. Dasselbe gilt auch für die Neue Welt. Es wurde den Kirchen sogar vorgeworfen, daß sie die „Waffen segneten“, eine Behauptung, die zum eisernen Arsenal des aufgeklärten Spießers gehört.49) Selbstverständlich betete man aber auf beiden Seiten für den Sieg, wie doch jeder gläubige Christ für den Sieg einer Sache beten darf, die er für gerecht oder richtig hält.

Noch eines sei hier erwähnt: natürlich nannte sich vor 1914 keine katholische Partei „demokratisch“, denn schon der reformierte Schweizer Theologe und Literarhistoriker Alexandre Vinet hatte uns gewarnt, daß bei einer „christlichen Demokratie“ das Hauptwort unweigerlich das Eigenschaftswort auffressen würde.50) In Rom dachte man auch nicht anders. Leo XIII. verbot ausdrücklich in der Enzyklika Graves de communi den politischen Gebrauch des Wortpaars „christliche Demokratie“.51) Das wissen die Analphabeten in der Christenheit ebensowenig wie ihre Feinde. Letztere haben die schöne Gelegenheit, mit diesem Papstwort ‚ehrliche Entrüstung‘ zu zeigen und aus der ‚Rückständigkeit‘ der reaktionären Kirche somit Kapital zu schlagen, gründlich verpaßt. Die Historie ist überhaupt elne Geschichte der verpaßten Gelegenheiten, doch wollen wir im nächsten Kapitel uns nicht an die Zeitläufe, sondern an die Thematik halten, und daher die Entwicklung der Kirchen nach dem Ersten Weltkrieg gleich anschließend behandeln.

Die falsch gestellten Weichen

Подняться наверх