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10.

Wenn Schwester Heike Dienst hatte und ihr etwas Zeit blieb, verbrachte sie diese meist bei Frank. Sie instruierte ihn weiter über seine Krankengeschichte und die Prognosen sowie über seine Familie, soweit sie Bescheid wusste. Längst war sie mit vielen seiner früheren Lebensumstände vertraut. Sie redete von der Firma und dem was sie im Lauf der Wochen und Monate davon mitbekommen hatte, zum Beispiel dem Engagement seiner Frau. Sie versuchte ihn zu Stellungnahmen zu ermuntern und schlug ihm allerlei Szenarien vor für die Zeit nach seiner Gesundung, alles um seinen Lebenswillen anzufachen. Sein Gedächtnis kam allmählich ganz zurück, auch wenn es ihm manchmal noch Streiche spielte und Erlebnisse aus seiner 'Anderswelt' dazwischen mogelte. Zum Beispiel war er lange nicht davon abzubringen, dass er ein Tal besäße und wenn er wieder gesund würde, wollte er sich dort niederlassen. Es musste für ihn ein besonders Glücksgefühl mit diesem unwirklichen Ort verbunden sein. Aber was ist schon 'unwirklich' oder 'wirklich'?' Diese Frage hätte er sich früher nie gestellt. In seinem bisherigen Leben vor dem Infarkt war das für ihn 'wirklich', womit er täglich zu tun hatte: die Firma, die Kunden, die technischen Details, Haus und Familie, – alles Dinge, die man anfassen und handhaben konnte. Doch jetzt gab es auch das Andere, das nicht Fassbare. Schließlich hatte er es selbst erlebt. Es stand manchmal greifbarer vor seinen Augen als unsere vordergründige Wirklichkeit. Kuriose Details von jener Seite tauchten bisweilen auf. Er meinte zum Beispiel, man müsste nur in die Luft greifen, wenn man etwas haben wolle. Das Gesuchte wäre doch sofort da, wenn er daran dachte. Wie ungeordnete Puzzleteilchen lagen die Erinnerungen gleichberechtigt in seinem Kopf nebeneinander, sowohl aus dieser, als auch der anderen Welt. Mit Heikes Hilfe lernte er langsam wieder zu unterscheiden, was in die hiesige Realität gehörte. Oder was nur ein Traum war, wie Heike sagte, aber diesem Wort widersprach er entschieden.

Die Welt, in die er Anstalten machte zurück zu kehren, erschien ihm heute viel bemerkenswerter als früher. Selbstverständlichkeiten wie die Tatsache, dass es morgens hell und zur Nacht wieder dunkel wurde, brachten ihn zum Staunen. Wer drehte dieses himmlische Karussell oder hielt die Erdachse stabil, auf dass wir Sommer und Winter erlebten? Wer sagte den Milliarden Lebewesen auf dem Planeten, wann sie für Nachwuchs zu sorgen hatten, damit zum Beispiel die Kälbchen und Lämmer im Frühjahr und nicht in der kalten Jahreszeit geboren wurden? Und wie konnte aus einem klitzekleinen Körnchen Mohn eine so leuchtend schöne Blume hervorkommen? So einschränkend der Infarkt für ihn auch war, so hatten er doch auch positive Seiten - wie alles und jedes in unserer dualen Welt. Er betrachtete vieles wie zum ersten Male, fasziniert wie ein Kind, das gerade seine Umgebung entdeckt und tausend Fragen hat. Dabei konnte er der diesseitigen Realität weitere Dimension aus seinem Komaerlebnis hinzufügen. Auch Heike waren solche Gedanken nicht fremd. Auf ihrer Station hatte sie schon öfters mit Menschen zu tun gehabt, die auf diesem schmalen Grat zwischen den Welten balancierten. Entsprechend gut verstand sie Frank. Noch standen seine Einschränkungen wie eine Mauer um ihm herum, doch der Geist konnte bereits darüber hinweg schauen. Nur den Körper nahm er noch nicht mit. „Noch nicht?“, dachte er und die Angst kletterte wieder aus ihren Tiefen empor. „Oder nie mehr?“ Heike hatte manchmal Mühe, ihn zu trösten und aufzumuntern.

In solchen Situationen war Joe eine große Hilfe. Joe brauchte nicht zu diskutieren und zu argumentieren, er musste nur das Zimmer betreten. Schon füllte er es mit seiner Vitalität und Herzlichkeit aus. Ja, nicht einmal anwesend musste er sein, es reichte, wenn Heike von ihm sprach und Franks Stimmung hellte sich auf. Es bestand schon eine besondere Beziehung zwischen Joe, der Krankenschwester und ihrem Patienten. Schließlich konnte er ja nur das mit den Lidern bestätigen oder ablehnen, was sie für ihn vorgedacht hatten. Dazu mussten sie sich ganz in ihn hineindenken, und er musste sich klar werden, was in ihm vorging. Ebenso duften sie ihre eigenen Gedanken nicht verschweigen-. eine Konstellation, die absolute Ehrlichkeit beiderseits erforderte, wenn der Austausch nicht sinnlos sein sollte. Fast zwangsläufig wurde aus Heikes berufsbedingtem Mitgefühl Sympathie. Das passte zwar nicht zu dem Abstand, den sie zur Erledigung der Aufgaben bei den Patienten brauchte, aber Frank hatte sie berührt. Wenn er auch nicht sprechen konnte, so sagte doch sein Zögern auf bestimmte Fragen oder die Zustimmung, beziehungsweise entschiedene Ablehnung einiger Gedanken genügend über seinen Charakter aus. Es verwunderte Heike, wie viele Gefühle sich mit dem bloßen Auf und Zu der Augenlider ausdrückten ließen. Manchmal geschah es auch, dass er auf spezielle Fragen die Lider gar nicht mehr heben wollte. Das berührte sie dann am meisten.

Verstellte Wegzeichen

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