Читать книгу Verstellte Wegzeichen - Walter Buchenau - Страница 8

Оглавление

5.

Nach Veronicas täglichen Besuchen bei Frank in den ersten Wochen hatte sich allmählich ein wöchentlicher Rhythmus eingestellt, immer samstags. Alle vier Wochen kamen Franks Eltern, Herbert und Tatjana dazu und gelegentlich auch die Söhne aus Münster und Wuppertal, wo Caspar, der jüngere, mittlerweile ebenfalls studierte. Franks Eltern hatten vor ein paar Jahren nach der Pensionierung von Herbert ihr Häuschen in Köln verkauft und waren aufs Land gezogen. Herbert stammt aus dem Hessischen, aus dem Städtchen Butzbach zwischen Frankfurt und Gießen. Er war auf Drängen des Vaters damals Finanzbeamter geworden wie dieser, obwohl er viel lieber einen technischen Beruf ergriffen hätte. Aber ein Studium hätte zu viel Geld gekostet. Das Gehalt eines kleinen Beamten war für das Alltägliche gerade ausreichend. Und Punkt. Dafür aber sicher, das hatte Priorität. Und das sollte bei seinem Sohn auch so sein. So war es eben damals. Herbert war dann ins Rheinland gewechselt, um der Enge zu Hause zu entkommen. Er hatte im Finanzamt ganz gut Karriere gemacht, so dass er ein Haus bauen konnte, in dem Frank und seine Schwester aufwuchsen. Der Verkaufserlös ihrer Immobilie nach dem Ausscheiden aus dem Amt setzte ihn nun in die Lage einen alten Traum wahrzumachen.

Bei einer Kaffeefahrt in den Spessart, die sie aus unerfindlichen Gründen einmal mitgemacht hatten, hielt der Bus zur Pinkelpause in Gelnhausen an, einem alten Fachwerkstädtchen östlich von Hanau. Es sprach sie sogleich an mit seinen malerischen und adrett hergerichteten Häusern, den kleinen Gässchen und der alten Stadtbefestigung. Als sie an der Auslage eines Immobilienmaklers vorbeiliefen, beguckte sich Herbert die Angebote, nur so aus Spaß, wie er sagte. Er entdeckte ein Angebot, das interessant klang: ein Resthof, etwas außerhalb eines Dorfes in der Nähe. Er war nicht allzu groß, aber nach den Angaben auf dem Papier ordentlich in Schuss, hatte noch ein paar Nebengebäude und der Preis erschien bei dem Platzangebot sehr interessant. Herbert notierte sich die Telefonnummer. Seine Frau Tatjana schüttelte den Kopf. „Wozu?“ Herbert zuckte mit den Schultern. Dann stiegen sie wieder in den Bus. Zu Hause ging ihm der Hof nicht mehr aus dem Kopf. Heimlich, damit Tatjana nichts mitbekam, denn sie liebte keine Neuerungen oder Unvorhergesehenes, nahm er Kontakt mit dem Makler auf. Und so wurde es nach einigem Hin und Her, nach ausgiebigen Besichtigungen, Begutachtung durch einen Bekannten, Finanzierungsgesprächen etc. etc. schließlich sein Hof! Zwar benötigte er viel Überredungskunst bei Tatjana, denn sie liebte ihren kleinen, abgezirkelten Garten in Köln und wollte nicht aufs Land abgeschoben werden, wie sie meinte. Außerdem fand sie das Haus zu teuer und dafür nicht repräsentativ genug. Wenn es etwas mehr hergemacht hätte als so, wie es im Augenblick dastand, dann wäre sie wahrscheinlich viel schneller einverstanden gewesen! Doch als der Verkäufer schließlich noch einen Nachlass gewährte und Herbert ihr ausmalte, wie das Ganze zukünftig einmal aussehen könnte, gab sie nach und Herbert schlug zu. In der Großstadt war er nie so richtig heimisch gewesen. Der Lärm und Trubel waren nichts für ihn und in ihrem kleinen Haus hatte Tatjana alles so fest in Griff, so geregelt und eingeteilt, ihm Pflichten auferlegt und seine Fantasie gezügelt, dass er manchmal zu ersticken glaubte. Bald darauf, nachdem er aus dem Berufsleben ausgeschieden war, zogen sie in den Spessart - nun schon vor ein paar Jahren. Und er blühte auf! Ab und zu kamen sie zu Besuch zurück ins Rheinland und sahen die alten Bekannten wieder, doch tauschen wollten sie jetzt beide nicht mehr. Im Moment galten ihre Besuche am Niederrhein vor allem Frank.

Es war wieder einmal ein solcher Besuchssamstag im Spätsommer, einige Zeit noch bevor Frank zum ersten Mal die Augen aufschlug. Seit fünf Monaten lag er im Koma. Allmählich schwand jede Hoffnung auf Besserung. Schwester Heike begrüßte die Gruppe vor dem Krankenzimmer. Diesmal waren außer Herbert und Tatjana auch Franks Söhne Florian und Caspar dabei. Bald müssten sie wieder zum neuen Semester zurück an ihre Studienorte. Frank lag wie immer mit geschlossenen Augen reglos in seinem Bett, als sie eintraten. Draußen schien noch warm die Sonne, wenn auch der Herbst sich langsam ankündigte. Caspar bemühte sich wie stets gute Stimmung zu verbreiten, obwohl allen ganz anders zu Mute war. „Hallo, Papa! Da sind wir mal wieder und wollen gucken, was du so machst.“ Seine betonte Munterkeit klang hilflos angesichts des offensichtlich unveränderten Zustandes des Kranken. Tatjana setzte sich sogleich an sein Bett und ergriff seine Hand. Florian brachte keinen Ton heraus und verzog sich zur Fensterbank. Herbert blieb mit Veronica am Fußende des Bettes stehen und schwieg, während Tatjana leise auf ihren Sohn einredete. Trotz des Redens lag eine Stille schwer im Raum. In sie hinein sagte Caspar: „Mach doch einfach mal die Augen auf, du alter Faulpelz!“ Es war zwar als Scherz gemeint, aber man merkte seiner Stimme an, wie nahe ihm der Anblick ging. Veronica holte ab und zu tief Luft und stand weiter stocksteif da, Herbert spürte, wie es in ihr arbeitete, sie wollte es den anderen gegenüber nur nicht zeigen. „Willst du dich nicht einmal hierhersetzen? Das wäre doch eigentlich dein Platz.“ Tatjana konnte den verhaltenen Vorwurf nicht verbergen. Sie war mit ihrer Schwiegertochter nie so richtig warm geworden. Diese war ihr zu unkonventionell, teils zu lasch in der Erziehung oder zu extravagant in ihrem Geschmack, jedenfalls nicht so, wie sie sich die Frau an der Seite ihres Sohnes gebacken hätte, wenn das möglich wäre. Ihre Spitzen Veronica gegenüber hatten also Tradition und lagen wohl in ihrer eigenen Herkunft begründet. Tatjana stammte aus einer alten Familie und erwähnte gerne bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit das „von“ in ihrem Mädchennamen. Als sie Herbert zu Hause angeschleppte, waren ihre Eltern denn auch absolut nicht begeistert von einer unstandesgemäßen Heirat. Doch was sollten sie dagegen machen? Der Vater tat sowieso, was seine Tochter wollte und die Mutter seufzte letztlich nur: „Wo die Liebe hinfällt“. Mit seiner offenen und kontaktfreudigen Art stimmte Herbert die Schwiegermutter zwar im Laufe der Zeit etwas sanfter, nur zugegeben hätte sie das nie! Tatjana war in vielem das Abbild ihrer Mutter und wenn sie fand, dass sich etwas nicht schickte, wie jetzt Veronicas Distanz zu Frank, dann ließ sie sich auch von der Gegenwart eines Schwerkranken nicht bremsen. Herbert kannte das und verdrehte nur die Augen. Zum Glück kam Schwester Heike herein und bot ihnen Kaffee an, den man sich draußen auf dem Flur zubereiten könne. Florian ergriff dankbar die Gelegenheit um den Raum zu verlassen und für alle den Kellner zu spielen. Caspar beobachtete aufmerksam seine Mutter, die weiter wie eingefroren am Fußende des Bettes stand. Sie und ihr Jüngster standen sich immer schon besonders nahe.

Als Florian mit einem Tablett voller Kaffeetassen herein balancierte, standen oder saßen alle noch genauso wie vorher. Er verteilte den Kaffee und verzog sich wieder zu seiner Fensterbank. Caspar gesellte sich ihm zu. Eine Weile rührten sie schweigend in den Tassen. Veronica nippte nur an dem Getränk und selbst Tatjana blieben die Worte aus. Nach einer Weile stellte sie unschlüssig ihre Tasse ab. Für Herbert war es das Zeichen zum Aufbruch. Er wolle am Abend nicht zu spät zurück sein in Gelnhausen, sagte er, das heißt in Eidengesäss, so hieß ihr kleiner Wohnort. Was ein Gesäß wäre, wüsste er ja, pflegte Herbert im Bekanntenkreis zu spotten. Aber Eiden? Ob das in dieser Region der Name für die beiden Dinger wären, die den Männern zwischen den Beinen baumeln? Womit er sich regelmäßig einen strafenden Blick von Tatjana einhandelte.

Sie brachen also auf. Die Familie ging die gewohnten Gänge entlang, an den vielen Abteilungen vorbei, zu denen die Flure dazwischen abbogen. Sie fuhren mit dem Aufzug hinunter, passierten die Cafeteria und standen endlich draußen vor dem Haupteingang. Herbert war froh der Krankenhausluft entkommen zu sein und atmete tief durch. Neben dem Portal drängten sich unter einem kleinen Dach die Raucher aus der Klinik. Jedem das seine, dachte er. Denen war offenbar die Luft drinnen noch nicht dick genug. Auf dem Weg zum Parkplatz schlug er einen kleinen Spaziergang vor, er brauche seinen Auslauf und hätte heute zu wenig davon gehabt. Die nicht mitkommen wollten, könnten schon heimfahren. Er nähme später eine Taxe. Nur Veronica wollte auch laufen.

Die Sonne lugte gerade noch über die Baumwipfel. Es ging ein laues Lüftchen und auf den Straßen war nicht viel los. Sicher saßen die Leute alle auf ihren Terrassen und Balkonen, um die letzten Sonnenstrahlen noch zu genießen. Morgen sollte es regnen, sagte der Wetterbericht. Sie liefen schweigend ein Stück die Straße hinunter, bogen dann links ab in ein freies Gelände hinter dem Krankenhaus, folgten schweigend dem Weg, der dann in eine Zaunlücke einmündete und standen plötzlich auf dem Hauptfriedhof. Dort, im hintersten Winkel der Anlage befand sich anscheinend der Ausländer-Friedhof. Viele Gräber mit türkisch klingenden Namen reihten sich aneinander, daneben eine ganze Reihe von fast identischen, schwarz in Stein eingefassten Grabstätten, die alle am Kopfende ein kleines schwarzes Häuschen besaßen. Davor stand auf der einen Seite ein Blumengefäß, auf der anderen eine Schale, wohl für Räucherwerk. Bei näherem Hinsehen erkannten sie die vietnamesischen Namen auf den blanken Steinen. Als ob sie sich hier in der Fremde alle zusammengedrängt hätten, um auf dem letzten Weg wenigstens ein bisschen der fernen Heimat mit ins Jenseits hinüber zu retten. Tatjana und Herbert bogen auf den Hauptweg ein, schwenkten nach rechts und passierten die Trauerhalle. Sie folgten dem geteerten Weg in Richtung Brücke, die den neueren Teil mit dem alten jenseits der Bahnlinie verband. Immer noch sprach keiner ein Wort. Die Fragen nach der Zukunft, die Ungewissheit, ob Frank jemals wieder zu sich kommen würde, und ob er in diesem Falle auch geistig ganz der Alte wäre oder ob sein Licht eines Tages einfach still auslöschen würde - noch brannte es ja, wenn auch dürftig genug, - das alles hing unausgesprochen in der Luft. Dazu die Ungewissheit, was dann aus seiner Familie würde. Herbert empfand große Sympathie für seine Schwiegertochter. Sie stand seiner Wesensart eigentlich viel näher als seine Frau, und er machte sich ehrlich Sorgen um sie. Inzwischen waren sie drüben im alten Teil angekommen, passierten die betagten Familiengräber, in denen schon ganze Generationen ihre letzte Ruhe gefunden hatten und liefen an den Kriegsgräbern vorbei. Herbert räuspert sich ein bisschen um den Frosch loszuwerden, der ihm im Hals saß. „Ich habe dich beobachtet,“ begann er, „schon letztes Mal.“ Veronica schwieg. „So geht das nicht weiter. Du machst dich kaputt!“ Veronica blickte kurz zu ihm hinüber, sagte aber nichts. „Wenn du auch noch ausfällst, zerbricht die ganz Familie. Ich weiß doch, wer bei Euch die Seele vom Geschäft war, das warst immer du. Frank ist ein Arbeitstier,“ er unterbracht sich kurz. „Er war es.“ Er hörte einen Moment dem Klang seiner Worte nach. „Ich weiß, das klingt jetzt hart, er ist immerhin mein Sohn, aber nun ist er nicht mehr da. Und die Kinder hast du mehr oder minder alleine großgezogen. Es sind prächtige Jungen.“ Veronica wiegte etwas den Kopf. Herbert blieb abrupt stehen und schaut ihr gerade ins Gesicht. „Wir wissen nicht, was kommt. Ich habe im Internet viel nachgelesen. Die Prognosen sind sehr unterschiedlich, aber keinesfalls ermutigend. Du musst ein neues Leben beginnen. Du musst das Krankenhaus abschreiben, zumindest innerlich. Ob Frank jemals wieder aufwacht, ist mittlerweile höchst unwahrscheinlich. Ich habe mit einigen Medizinern gesprochen. Alle sagen im Grunde das Gleiche, obwohl sie sich natürlich nicht festlegen wollen.“ „Er ist doch mein Mann,“ entgegnete Veronica hilflos. „Und das wird er auch immer bleiben, zumindest in der Erinnerung. Die kann dir niemand nehmen. Doch du lebst jetzt, besser gesagt, du solltest jetzt leben, Freude haben, vielleicht sogar wieder jemanden kennenlernen. Die Kinder sind aus dem Haus. Sie werden nicht mehr zurückkommen, höchstens zu Besuch. Sie haben ihr eigenes Leben. Und was hast du?“ Veronica wollte etwas erwidern, es fielen ihre aber nur die üblichen Phrasen ein, die man gemeinhin in einer solchen Situation von einer Ehefrau erwartet. Es beschrieb nicht, wie sie sich wirklich fühlte. „Es ist so leer,“ sagte sie fast tonlos. „Eben!“, entgegnete Herbert. „Genau das drückt es aus! Die Leere. Du solltest sie wieder mit Leben füllen, dann geht es auch den Kindern gut.“ „Was erwartest du von mir?“ Sie hatten den Spaziergang wieder aufgenommen. „Nicht so viel zu arbeiten! Ich weiß wie sehr du dich seitdem hineingestürzt hast, um dich abzulenken. Das war auch in Ordnung. Du hast mir vorletztes Mal berichtet, was du alles angeleiert und verändert hast und wie froh euer Kompagnon darüber ist. Nun solltest du kürzer treten und,“ Herbert schluckte, „du musst mit Frank abschließen.“ Veronica wäre fast gestolpert, so abrupt blieb sie stehen. „Das sagst du als Vater?“ „Ja!“, entgegnete Herbert fest. „Ich sehe, was ich sehe und das sind Tatsachen, wenn sie mir auch verdammt nochmal sehr zusetzen. Und ich sage es dir auch als Großvater und als Schwiegervater, ich möchte, dass der Teil der Familie, der noch da ist, erhalten bleibt, verstehst du?“ Herbert hatte mit großem Nachdruck gesprochen und seine Schwiegertochter merkte ihm an, wie viel ihm daran gelegen war. Sie wusste, dass Tatjana und er zum anderen Teil der Familie, ihrer Tochter und deren Familie, keinerlei Kontakt mehr hatten. Die Tochter war einem älteren Mann verfallen, geradezu hörig und der hatte alle Verbindungen gekappt. Herbert hielt ihn für ein Monster und grämte sich deswegen sehr.

Sie gingen wortlos wieder an der Trauerhalle und den vietnamesischen Gräbern vorbei, passierten den Zaun und kamen aufs freie Feld. Die Sonne war inzwischen hinten den Bäumen verschwunden. Im Westen zogen erste Wolken herauf, als sie am Parkplatz ankamen. Das Laufen hatte gutgetan. Und auch das Reden. Vom Wind war nichts mehr zu spüren. Eine eigenartige Ruhe lag über dem Krankenhausportal. Alle Besucher hatten längst das Weite gesucht. „Überlege es dir,“ sagte Herbert, bevor sie in eine der wartenden Taxen stiegen. „Was immer du machst, auf mich kannst du zählen!“

Verstellte Wegzeichen

Подняться наверх