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3.

Schwester Heike war mindesten genauso begeistert wie Joe, als sie die Nachricht hörte. Sie arbeitete schon seit Jahren auf der Station und war die gute Seele dort. Nie krank, immer geduldig und freundlich – so versah sie ihren Job. Was und wie etwas dort ablief, bestimmte sie, abgesehen natürlich von den ärztlichen Maßnahmen. Es war ihre Station. Sie hatte eine unaufdringliche Art, Nähe und Anteilnahme zu zeigen, besonders bei den komatösen Patienten. Als erstes nach ihrem Dienstantritt heute stellte sich vor. Frank wusste ja nicht, wer ihn monatelang betreut hatte „Ich bin Schwester Heike und wir freuen uns alle über den Heimkehrer!“ Dann begann sie ihm vorsichtig und über Tage verteilt von seiner Krankengeschichte zu erzählen, von der Einlieferung, dem Stammhirninfarkt und seiner langen Zeit im Koma. Auch von den Besuchen berichtete sie, die seine Frau regelmäßig abstattete und den Kindern, Eltern, Freunden, die gelegentlich vorbeischauten. Frank hörte aufmerksam zu. Die Suche nach passenden Bildern in seinem Kopf strengte ihn noch an. Heike dosierte ihre Informationen, um ihn nicht zu überfordern. Er bestätigte, was er gehört hatte, jeweils mit den Augenlidern. Wie Holzstückchen im Wasser trieben Fragmente von Erinnerungen langsam an die Oberfläche.

Einmal, Schwester Heike stand gerade an seinem Bett, da schien es in seinem Kopf laut seinen Namen zu rufen. „Fraaank!!!!“ Es hallte in seinen Ohren nach und er hörte in sich hinein. Plötzlich sah er die Theke einer Rezeption vor sich, roch ein Parfum, ziemlich herb – und dann erinnerte er sich: Er war gerade eine Treppe hinunter gegangen – aber wo war das? - Er stand unten, das Telefon läutete, die Dame am Empfang - genau, sie hatte diesen Duft an sich - sie nahm ab und bedeutete ihm mit einer lautlosen Mundbewegung, wer der Anrufer sei. Er war sofort nach oben gestürmt, um das Gespräch entgegen zu nehmen, etwas Wichtiges. Korea! - Warum Korea?' Er wundert sich, hatte aber keine Zeit, dem nachzugehen, die Bilder überstürzten sich: Oben angekommen war Steve – schon wieder ein Name! - Steve war links aus der Tür gekommen, dann fühlte er noch, dass irgendetwas mit ihm passierte, - im Kopf - er hörte dieses langgezogene: „Fraaank!!“, das sich von ihm entfernte, wie, wenn jemand in einem großen Saal von weit hinten etwas ruft und der Ton von den Wänden zurück hallt - und dann nichts mehr.

Stück für Stück über Tage stieg sein früheres Lebens in ihm auf. Er besaß eine Firma - 'Ebert & Preuß' - so hieß sie. Das war richtig. Steve war sein Partner, Freund und Weggefährte. Sie kannten sich schon ewig, aber woher? Sie stellten technische Apparate her. Ventile. Steve hatte ein Patent. Das vermarkteten sie in der Firma. - Der Gedanke an die Firma kam ihm wie ein Präsent vor, das er gerade eben bekommen hatte. Zum Teil vermochte er das, was aus dem inneren Abgrund nach oben, kam nicht zuzuordnen, wie zum Beispiel Korea. Was bedeutete das? Gelegentlich schloss er die Augen und wünschte sich in seine andere Existenz zurück, doch das ging im Moment nicht mehr. Die Gegenwart hatte ihn gepackt und Fragen wie: Wer war er wirklich? Wie hatte er davor gelebt und mit wem? Oder war er allein? Seine Frau heißt Veronica, hatte die Schwester gesagt. Doch ein Gesicht wollte sich dazu nicht einstellen, nur eine warme Welle, die ihn durchflutete. Und Florian und Caspar, neue Namen und die gleiche Gemütsbewegung. Dann fiel es ihm ein: seine Söhne – seine Familie! Die Vorstellung ergriff vehement Besitz von ihm und erzeugte Freude. Es war schön an sie zu denken! Andere Visionen schwirrten wie ferngesteuerte Drohnen durch seinen Kopf - ein Büro, das Wohnzimmer mit einer Veranda dahinter, der Hauseingang und der Vorgarten, zwei Jungen tobten die Treppe hinauf. Mit einem Mal hatten sie schon die Gesichter von jungen Männern. Nur das Gesicht seiner Frau wollte sich nicht einstellen, so sehr er sich auch darum bemühte.

Heikes ersten Impuls seine Familie umgehend von der erfreulichen Entwicklung zu unterrichten, hatte Frank vehement unterbunden, als sie ihn darauf ansprach. Sie verstand nicht warum - er verstand sich selbst nicht. Aber er wollte es nicht, zumindest jetzt noch nicht. Er war sich nicht einmal im Klaren, ob er überhaupt in diese Welt zurückwollte. Sie ängstigte ihn. Alte Menschen haben oft Angst, wenn sie das, was um sie herum vor sich geht, nicht mehr einordnen können, und sie werden bockig. So ging es ihm. Es war ihm ein Stück Leben abhanden gekommen und die Welt hatte sich weitergedreht. Nun sollte er auf den fahrenden Zug wieder aufspringen, von dem er nicht einmal wusste, wohin er fuhr. Er fühlte sich gefangen zwischen zwei Realitäten. Diese andere Welt war so vertraut und vor allem: es gab dort keine Ablehnung, keine Aggression oder gar Hass. Auch wenn ihm dort manches schwer gefallen war, stets war ihm bewusst, dass alles nur zu seinem Besten geschah. Was würde ihn jetzt hier in dieser Realität erwarten? Gut - es gab seine Familie, seine Söhne. Er fühlte sich wohl bei dem Gedanken. Trotzdem sperrte er sich, das Hier und Jetzt bedingungslos wieder herein zu lassen. Es war noch immer fremd. Doch auch die andere Realität hatte sich bereits ein Stück weit entfernt. Heike unterließ es, ihn wegen der Benachrichtigung seiner Familie zu bedrängen, sie fürchtete einen Rückfall. Umso schlimmer wäre das dann für seine Angehörigen.

Verstellte Wegzeichen

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