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6.

Florian, der ältere von Franks Söhnen, studierte seit vier Jahren in Münster Physik, ein Fach, das genau zu seinem Charakter passte! Er musste immer allem auf den Grund gehen. Unerklärtes war ihm zutiefst suspekt. Nun allerdings im Masterstudium wurde er zunehmend gerade mit solchen Tatsachen konfrontiert: Dinge, die da waren, aber unerklärlich und sich auch jedem Versuch einer logischen Durchdringung zu widersetzen schienen. Ein einfaches Beispiel dafür war die Schwerkraft. Jeder kennt sie, jeder benutzt sie oder weiß um ihre Wirkung. Denn keinem würde es wohl einfallen im zehnten Stock eines Hochhauses aus dem Fenster ins Freie zu spazieren, weil die Schwerkraft ja unerklärbar und daher nicht existent wäre! Aber über ihren Ursprung weiß man eben nichts. Das wurmte Florian. Noch dazu widersetzt sich diese Kraft zäh dem Versuch in einen Zusammenhang gebracht zu werden mit anderen Energieformen. Bewegungsenergie und Magnete zum Beispiel erzeugen Elektrizität, Strom und Magnete bewegen wiederum den E-Motor und der baut ein Magnetfeld auf, eines geht ins andere über. Nur die Schwerkraft bildet eine Extrawurst. Diskussionen über solche Themen machten die Physik für ihn unglaublich spannend.

Besonders mit einem sehr jungen Professor an seiner Fakultät hatte er schon nächtelang geredet. Er hieß Eric, war kaum sechs bis sieben Jahre älter als er, ein hervorragender Wissenschaftler, der aber keinerlei Wert auf seine professorale Würde legte. Seinen Studenten begegnete er als sei er einer von ihnen, der nur zufällig etwas mehr als sie wisse. Er duzte alle und alle ihn. Er konnte sich das leisten bei seinen Fähigkeiten. Florian traf ihn gelegentlich in der 'Destille' oder im 'blauen Haus' und meistens wurde das ein interessanter Abend.

Das Schicksal seines Vaters beschäftigte Florian schon sehr. Früher waren sie nicht so gut miteinander ausgekommen. Besonders in der Pubertät gab es öfter Knies zwischen ihnen. Auf der einen Seite Florian, der alles wissen wollte und nicht mal eben Fünfe gerade sein lassen konnte und auf der anderen sein Vater, der im Beruf sehr eingespannt war und aus Zeitmangel oder wegen anderer Probleme den eigensinnigen Gedankengängen seines Sohnes nicht folgen wollte. Florian glich eher seiner Großmutter. Diese hatte ihre strengen Prinzipien und musste alles geregelt und in Schubladen eingeordnet haben, - er ebenfalls. Die Vererbung macht ja öfters solche Sprünge. Als er älter wurde, legte sich der Zwist mit seinem Vater in dem Maße, in dem er erkannte, was sein Vater alles leistete und managte. Er bewunderte ihn für seine Flexibilität, die ihm abging. Mit Beginn des Studiums und der räumlichen Trennung von zu Hause wurde ihr Verhältnis auf einer freundschaftlichen Ebene sogar noch enger. Umso mehr machte ihm die Situation zu schaffen, dass der Vater zwar körperliche noch vorhanden, trotzdem nicht mehr greifbar war. Dieses Unerklärbare ließ ihm keine Ruhe.

Nach einem anstrengenden Tag mit mehreren Vorlesungen wollte Florian in der Destille ein bisschen abhängen und sah schon beim Eintreten, dass Eric dort mit einigen Kommilitonen herumsaß, wie immer im offenen Hemd und in seiner betagten Cordhose. Ob er mit seiner Frisur Albert Einstein nacheifern wollte, war unklar. Er widersprach, aber die dunkle, wirre Mähne war schon imposant. Florian setzte sich zu ihnen und bestellte ein Hefeweizen.

Die Gespräche am Tisch drehten sich um Alltäglichkeiten und das Studium. Er trank stumm sein Bier und ließ sich ein zweites kommen. Die anderen verabschiedeten sich dann nach und nach und zum Schluss saß er mit seinem Professor allein am Tisch. Florian leerte das Glas und gab dem Kellner erneut ein Zeichen.

„Kummer, Flo?“, sprach ihn Eric an. Florian schreckte ein bisschen aus seinen Gedanken auf. „Ja,“ antwortete er und machte eine Pause, in der er überlegte, ob er mit dem Professor über seine Familie sprechen sollte. „Mein Vater,“ sagte er schließlich. Eric nickte ihm aufmunternd zu. Nachdem Florian ihn kurz über die Fakten aufgeklärt hatte, landeten sie schnell beim eigentlichen Problem, über das er grübelte, der Unfassbarkeit dieses Zustandes, in dem sein Vater seit Monaten gefangen war. „Wo ist er?“, fragte Florian. „Anderswo,“ sagte Eric lapidar. „Und wie sieht dieses Anderswo aus? Wie kann man dorthin gelangen, wenn man keinen Schlaganfall hat? Und vor allen, wie und warum kommen die einen wieder zurück und die anderen nicht?“ Eric nickte wieder einige Mal, ehe er etwas erwiderte. Er musste ein bisschen ausholen.

„Du weißt doch, in welchen Regionen wir in der Physik mittlerweile denken.“ Er schaute gerade in Florians fragende Augen. „Wir erkennen zum Beispiel, wie die festen Teilchen des Atoms sich aufzulösen scheinen, wenn wir genauer hinschauen. Es ist zwar bekannt, dass sie da sind, nicht aber wo genau. Oder wie schnell sie sich bewegen, welche Masse sie haben, zumindest nicht alles zum gleichen Zeitpunkt.“ „Heisenberg,“ sagte Florian, „Unschärferelation.“ Eric fuhr fort. „Oder denk doch mal an die schwarze Materie oder die schwarze Energie, die im Weltall existiert. Was ist das? Wir haben das zwar schon mathematisch bewiesen – aber begriffen? Wohl kaum. Und was ist in einem schwarzen Loch? Was sitzt da drinnen? Die sogenannte 'Singularität', zu der alles werden soll, was dort hineinstürzt. Und w a s ist das? “ Eric blickte kurz zur Decke. „Er?“ Er nahm einen Zug aus seinem Glas. Florian war nicht zufrieden. „Ist das nicht zu billig, alles was wir nicht erforscht haben, dem weisen, alten Mann mit Bart in die Tasche zu schieben?“ Eric grinste. „Ob du das nun möchtest oder nicht: ER,“ und er machte eine Daumenbewegung nach oben, „wird dir aus seinen Wolken noch öfters zuzwinkern!! Physik und Metaphysik geben sich an vorderster Spitze der Forschung längst die Hand. Und noch so einiges andere mehr. Gewöhn' dich daran, wenn du in unserem Metier weiterkommen willst.“

Florian stierte in sein Glas. Die schwarzen Löcher, sein Vater, das Krankenhaus, die sich auflösenden Teilchen, alles kreiselten nach dem vierten Bier lustig in seinem Kopf herum. Eric hatte beim Trinken zwar auch mitgehalten, war aber trotzdem völlig klar. Er bemerkte Florians glasigen Blick und winkte dem Keller zum Zahlen. „Am Anfang der Erkenntnis, ganz vorne an der Front, da gibt es noch keine Trennung. Das ist Menschenwerk. Es beruht auf dem hilflosen Versuch, eine Winzigkeit vom all dem, was ist, zu verstehen.“ Florian holte Luft. „Und dieses Bisschen wird dann eingekastelt, katalogisiert, in Denksysteme gepresst, bis wir glauben es sicher zu haben. Schon wird es zur Religion erhoben, wegen der man sich anschließend gegenseitig die Köpfe einschlägt. Weil die anderen nämlich auch so etwas haben, nur ein bisschen anders. Und die Wirklichkeit ist dann noch einmal etwa ganz Anderes! Sie ist, wie sie ist und kümmert sich einen Dreck darum, was wir von ihr halten!“ Eric stand auf und klopfte mit dem Knöchel auf den Tisch. „Na denn!“

Verstellte Wegzeichen

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