Читать книгу Verstellte Wegzeichen - Walter Buchenau - Страница 5

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2.

„Hallo, Herr Ebert, da bin ich mal wieder um nach Ihnen zu schauen.“ Die Worte drangen befremdlich an sein Ohr. Es dauerte einen Augenblick, bis er registrierte, dass sie wohl ihm galten. Er öffnete die Augen und drehte den Blick langsam in Richtung der Stimme, während die Schritte näherkamen. „Herr Ebert!“, rief es aufgeregt von links, „Sie haben ja die Augen offen! Ach wie schön, dass Sie endlich aufgewacht sind, dass sie endlich wieder bei uns sind!“ In seinem Blickfeld erschien ein freundliches Gesicht, umrankt von braunen Haaren und mit einer großen, ebenfalls brauen Brille, das sich leicht über ihn beugte. „Das war auch langsam Zeit! Sie haben uns ganz schön warten lassen, wissen Sie das? Aber jetzt wird alles gut! Sie werden sehen! Das muss ich gleich den andern erzählen!“ Das Gesicht nickte ihm zu und lachte, dann verschwand es und er hörte eine Tür klappen.

'Aufgewacht?' ging ihm durch den Kopf, 'Warten lassen?' Hatte er geschlafen? Hatte er geträumt? Diese Welt, durch die er sich gerade eben noch gekämpft hatte, sie war doch sehr real gewesen, oder? Er fühlte noch das kühle Gras in seinem Tal unter den Füßen, spürte die Gegenwart seines Begleiters, dieses durchsichtigen Wesens, das ihn getröstet und mit seiner Fürsorge eingehüllt hatte. Er registrierte aber auch, wie der Name in seinen Ohren nachhallte. „Ebert“. Das hörte sich vertraut an. War er damit gemeint? Er wiederholte ihn in Gedanken einige Male. Es klang für in stimmig. „Frank,“ schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Auch das passte dazu. „Frank Ebert.“ Er sprach die Worte im Geist mehrmals nach und sie wurden geläufiger, vertrauter. Es passte. Das war sein Name! Doch der Rest von ihm, sein Leben, was war mit dem? Jeder Mensch hat doch eine Geschichte, wo war die?

Eine nicht ganz greifbare, ungute Emotion stieg in ihm auf wie aus einem entfernten Winkel, wenn man sich erinnern will und gerade nicht darauf kommt, obwohl es doch auf der Zunge liegt. Schon drängten die nächsten Fragen. „Aber wer bin ich? Warum weiß ich das nicht?“ Da stand etwas neben ihm. Es kam ihm vor, als sollte er in einen abgelegten Anzug schlüpfen, eine Art Ganzkörperstrumpf, der aber nicht richtig passen wollte. Es war mühsam. Auch das Denken strengte an. Er bemerkte, wie die Luft rhythmisch durch die Nase ein- und ausströmte. Das beruhigte ihn und er war erstaunt, dass er so etwas wahrnahm, dieses Etwas, das er so einfach gratis bekam. Der Atem schenkte ihm Kraft, und er empfand Dankbarkeit und Freude. Atmen! Was für ein wunderbarer Vorgang! Das ist viel mehr als nur Luft holen. Das ist: sich verbinden mit ….wem? Menschen atmen! Tiere auch. Ich bin ein Mensch, der jetzt hier in diesem Zimmer atmet. - Wo war ich vorher? Menschen haben eine Vergangenheit, eine Mutter…..' Er suchte in seinem Kopf nach einem Bild, einem Namen, etwas Konkretem, aber da war nur die weiße Wand. Es wollte einfach nichts auftauchen. Erschöpft überließ er sich wieder der Erinnerung an seine Anderswelt. die sofort gegenwärtig war.

Schwester Heike, Joe, der afrikanische Krankenpfleger und eine Schwesternschülerin kamen ins Zimmer gestürzt, aber Frank hatte die Augen geschlossen. Er schlief, dachten sie. Zumindest sah es so aus, aber er vernahm deutlich die weibliche Stimme von vorhin, welche die andern jetzt hinausdrängte, um seinen Schlaf nicht zu stören. Sie tat ihm gut.

Am nächsten Morgen erschien der Stationsarzt bei Frank, um die Nachricht von seinem Aufwachen zu überprüfen. Er registrierte routinemäßig, dass der Patient tatsächlich die Augen öffnete und schloss, woraus man aber noch nicht ableiten könnte, ob er bei Bewusstsein wäre oder verstünde, was um ihn herum vor sich ginge. Zur näheren Überprüfung ordnete er ein EEG an, das so bald wie möglich erstellt werden sollte. Er war neu auf der Koma-Station und empfand wenig Empathie mit denen, die dort lagen. Für ihn waren es lediglich Fälle, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst und streng wissenschaftlich abzuhandeln waren. Jeden anderen Ansatz hielt er für Humbug. In seinen Augen rieb sich Schwester Heike zum Beispiel viel zu sehr für diese Menschen auf. Ihm könnte das nicht passieren. Er fand es auch höchst überflüssig und albern mit einem Komapatienten zu reden, der ja sowieso nichts davon mitbekam.

Die üblichen Krankenhausprozeduren, die Frank so noch gar nicht mitbekommen hatte, ließ er ruhig über sich ergehen. Das Waschen, Drehen, Einreiben, die passiven Bewegungen der Gliedmaßen, die er spüren konnte, erstaunten ihn. Er wunderte sich nur, dass jeder Impuls zu einer anderen Bewegung als der Augen von seinem Körper unbeantwortet blieb.

Am Nachmittag holte ihn Joe zum EEG und eventuellen weiteren Untersuchungen ab. Joe hieß eigentlich Abdulaye Owuatuegwa und kam aus Nigeria, aber diesen Namen konnte sich keiner merken und so hatte sich 'Joe' für ihn eingebürgert. Er nahm das lachend hin. Das war sowieso eine seiner ganz großen Stärken: sein Lachen! Zu Anfang, als er ins Krankenhaus kam, begegneten ihm eine Reihe von Leuten mit Zurückhaltung bis Ablehnung. Nicht so sehr die Ärzte, als einige der anderen Pfleger, die ihm sein fehlerhaftes Deutsch ankreideten. Auch einige der älteren Patienten standen sich mit ihren Vorurteilen gegenüber einem Farbigen gewaltig selbst im Wege. Es gab einmal einen richtigen Aufstand, als ein schwieriger Patient sich mit Händen und Füßen weigerte von ihm angefasst zu werden. Joe schluckte das. Er hatte in seinem Leben schon viel Schlimmeres erlebt. Doch seine hilfsbereite Art und seine Freundlichkeit glätteten bald die Wogen. Er lernte immer besser Deutsch, und wenn er mit Patienten etwas länger zu tun hatte, war er bei ihnen rasch ausgesprochen beliebt. Er verstand es selbst den Traurigsten unter ihnen aufzumuntern. Ein Stationsarzt auf der Inneren staunte nicht schlecht, als er einmal aus einem Zimmer mit drei Schwerkranken plötzlich lauten Gesang hörte. Er schaute herein und sah Joe, der den Vorsänger gab und die drei Patienten, die in ihren Betten unter seiner Anleitung inbrünstig den Refrain mitsangen. Unglaublich! Man hatte ihn dann auf die Wachkomastation versetzt, weil andere da nicht so gerne arbeiteten. Joe nahm es gelassen hin, sozusagen als neue Herausforderung.

Nun erschien er in Franks Krankenzimmer, um ihn im Bett zum EEG zu fahren. Frank hatte die Augen geöffnet. „Hast du Augen endlich auf!“, lobte er. „Das ist gut. Jetzt geht es zur Untersuchung. Gucken, wie es aussieht unter den Haaren!“ Dabei bleckte er seine weißen Zähne, dass die Ohren vom Mund Besuch bekamen. Frank schloss die Lider und öffnete sie wieder. Joe löste die Feststeller und schickte sich an, das Bett aus dem Zimmer zu rangieren. „Einmal Rallye nach Dakar!“, lachte er. „Ist gut, was?“ Frank senkte kurz die Lider. „Und dann du wirst gesund!“ Auch das „Du“ zu jedem Patienten hatten ihm die Kollegen zuerst angekreidet, aber die Kranken fühlten sich damit wohl, spürten Wärme und Nähe, was für die Heilung oft mehr wert war, als alle Infusionen und Medikamente. Frank schloss kurz – wie zur Erwiderung – die Lider und Joe stoppte plötzlich das Gefährt. „Hey, war das Antwort?“ Frank schloss wieder kurz die Augen. „Mann!!“, rief Joe, „du verstehst mich?!“ Frank schaute ihn an und klappte die Augenlider zu und auf. „Mach noch mal Augen zu!“ Frank schloss sie. „Und jetzt auf!“ Frank öffnete sie. „Halleluja, Amen! Ich kann mit dir reden! Willst du „Ja“ sagen, einmal die Augen zu.“ Frank tat es. „Und „Nein“ zweimal!“ Frank zwinkerte zweimal. Joe lachte sein dröhnendes Lachen und war so begeistert, dass er Franks Gesicht in seine riesigen, dunklen Hände nahm und ihm einen Kuss auf die Stirn drückte.

Verstellte Wegzeichen

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