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Zur Frage des räumlichen Umfangs der österreichischen Geschichte

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Wer sich mit der Geschichte Österreichs befasst, hat es mit zwei unterschiedlichen historiographischen Traditionen zu tun, und zwar (1.) mit der Landesgeschichtsschreibung, die infolge des relativ stabilen räumlichen Rahmens der meisten österreichischen (Bundes-)Länder seit dem Hoch- und Spätmittelalter – abgesehen von den erst nach 1918 geschaffenen Bundesländern Wien und Burgenland – »eine Art ruhenden Pol der Geschichtsschreibung in Österreich darstellt«, und (2.) mit der »gemeinsamen« österreichischen Geschichte. Im Unterschied zur Geschichte der einzelnen Länder ist die gemeinsame österreichische Geschichte ein »im räumlichen Umfang wie in zeitlicher Kontinuität instabiler Traditionsstrang«. Ausgehend von diesen Überlegungen hat Gerald Stourzh 1991 am Beispiel von zwischen 1853 und 1988 publizierten »Reflexionen zur österreichischen Geschichte« die »Problematik des Umfanges der österreichischen Geschichte« illustriert.

Der gebürtige Prager Josef Alexander (später: von) Helfert (1820–1910), seit 1848 Unterstaatssekretär im Wiener Unterrichtsministerium, ging 1853, also in der Zeit des Neoabsolutismus, in seinem programmatischen Büchlein Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich davon aus, dass »die alte Gränze, welche zwischen den zwei Hälften der Monarchie gelaufen war«, nämlich zwischen den »deutsch-slawischen« Ländern und dem Königreich Ungarn, endlich verwischt sei. Es existiere nunmehr ein – einheitlich von Wien aus regiertes – Groß-Österreich. Während die Heimatkunde der Kenntnis des jeweiligen Kronlandes und seiner Geschichte diene, diene die Vaterlandskunde bzw. die vaterländische Geschichte der Kenntnis des »Gesammtvaterlandes von Groß-Österreich«. Helferts Vorstellung von Nationalgeschichte orientierte sich am Begriff der Staatsnation, nicht an jenem der Sprachnation: »Österreichische Nationalgeschichte ist uns die Geschichte des österreichischen Gesammtstaates und Gesammtvolkes […].« Nicht zufällig wurden in der Zeit des Neoabsolutismus, im Zuge der Universitätsreform des Unterrichtsministers Leo Graf Thun-Hohenstein, an den »österreichischen« Universitäten eigene Lehrstühle für Österreichische Geschichte – ganz im Sinne Helferts! – eingerichtet (Prag 1850, Wien und Innsbruck 1851). Hauptadressaten des neuen Faches waren Lehramtskandidaten und Juristen, denen während des Studiums für ihre künftige Berufslaufbahn ein solides »vaterländisches historisches Bewusstsein« vermittelt werden sollte. Wie Brigitte Mazohl und Thomas Wallnig unlängst gezeigt haben, waren bereits die zahlreichen seit ungefähr 1800 erscheinenden Kompendien der österreichischen Geschichte, die allesamt nicht von professionellen Historikern verfasst wurden, der aus den Grundelementen »Kaiserhaus«, »Vaterland« und »Staat« amalgamierten »Großen Erzählung« (im Sinne Jean-François Lyotards ) von der »österreichischen Geschichte« verpflichtet gewesen, der »Erzählung, wie aus einer Markgrafschaft eine Großmacht wurde«. Die genannten Grundelemente des Diskurses »österreichische Geschichte« ihrerseits waren bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts fertig ausgebildet und wurden um 1800 lediglich »verdichtet« und »in eine fertige Form gegossen«. Die »Erfindung einer österreichischen Nationalgeschichte« (Georg Christoph Berger Waldenegg ) nach 1848 war also keine Creatio ex nihilo. Es ging den Vordenkern des Neoabsolutismus um die »Schaffung einer österreichischen Staatsnation«, allerdings nicht unbedingt einer strikt »übernationalen« österreichischen Staatsnation, sondern »einer deutsch geprägten österreichischen Staatsnation« (Berger Waldenegg), eine Idee, die begreiflicherweise bei den Vorkämpfern der (Interessen der) nicht-deutschen (Sprach-)Nationen der Monarchie wenig Anklang fand.

Alfons Huber (1834–1898), seit 1870 Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck und ab 1887 am Institut für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien, das 1854 auf Anregung und im Geiste Helferts gegründet worden war, eröffnete 1885 die programmatische Einleitung zum ersten Band seiner Geschichte Österreichs mit den folgenden Sätzen: »Eine Geschichte Österreichs ist unzweifelhaft ein schwierigeres Werk als die Geschichte der anderen Staaten. Die meisten Reiche, welche in der Geschichte eine hervorragende Rolle gespielt haben, tragen den Charakter von natürlichen Gebilden an sich, sind dadurch entstanden, daß eine kräftige Nation im Kampfe um das Dasein ihre Existenz behauptet, sich eine gesicherte Stellung errungen und kleinere Völkerschaften oder Teile von solchen sich unterworfen und mehr oder weniger vollständig sich assimiliert hat. Österreich dagegen ist ein künstlicher Bau, indem das im südöstlichen Deutschland regierende Haus Habsburg auch in benachbarten nichtdeutschen Reichen […] sich Anerkennung verschaffte und so mehrere Staaten mit ganz verschiedener Bevölkerung und vielfach verschiedenen politischen und sozialen Zuständen zunächst durch Personalunion in seinen Händen vereinigte. Österreich ist […] eine Verbindung von drei ursprünglich getrennten Gebäuden, aus denen erst eine Reihe von Baumeistern ein einheitliches architektonisches Werk zu schaffen bemüht war.« Im Unterschied zu Huber hatte Franz (von) Krones (1835–1902) in seinem fünfbändigen, in den 1870er Jahren erschienenen Handbuch der Geschichte Österreichs Österreich nicht als »Mechanismus«, sondern als »Organismus« aufgefasst, dessen »Wachstum nicht bloß durch politische Zufälligkeiten, sondern auch durch geographische Gesetze« bedingt gewesen sei.

Der Innsbrucker Jurist und Historiker Hans von Voltelini (1862–1938) beantwortete um 1900 – in Reaktion auf die 1893 erfolgte Einführung des Pflichtfaches »Österreichische Reichsgeschichte (Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts)« für die rechtshistorische Staatsprüfung im Rahmen des rechts- und staatswissenschaftlichen Studiums an den österreichischen (d. h. cisleithanischen) Universitäten und ausgehend vom »Ausgleich« des Jahres 1867 – die Frage, »ob die österreichische Reichsgeschichte eine Geschichte der Gesamtmonarchie und der beiden Staaten, aus denen dieselbe besteht, sein soll, […] oder ob sie neben der Gesamtmonarchie nur die staatsrechtliche Entwicklung der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder vertreten soll«, im Sinne der engeren, das Königreich Ungarn ausklammernden Auffassung: »Ungarn ist nach den Ausgleichsgesetzen von 1867 ein in seinen inneren Angelegenheiten selbständiger und unabhängiger Staat. Die Geschichte seiner Verfassung und Verwaltung kann daher nur insoweit für die österreichische Reichsgeschichte von Belang sein, als die mit Österreich gemeinsamen Institutionen in Betracht kommen, und als die ungarischen Verhältnisse auf die Entwicklung des österreichischen Staatsrechtes zurückgewirkt haben.« Anders als die englische, die französische oder die deutsche Geschichte werde die österreichische Geschichte »immer eine Staatsgeschichte bleiben müssen, denn die Nationen, welche den Kaiserstaat bewohnen, gehören verschiedenen nationalen Kulturkreisen an«.

Der in Wien lehrende Mediävist und Österreichhistoriker Oswald Redlich (1858–1944) war nach 1918 – ähnlich wie, aber mit anderen Akzenten als Heinrich (Ritter von) Srbik (1878–1951), der bekannteste Vertreter der »gesamtdeutschen« Geschichtsauffassung – bestrebt, bei seinen Kollegen und Lesern in Österreich und Deutschland Verständnis und Wertschätzung für das komplizierte Staatswesen und die Kultur »Altösterreichs« zu erwecken. Er war ohne Zweifel derselben Meinung wie sein Kollege und Freund Aloys Schulte, der ihm 1921 aus Anlass des Erscheinens seines Buches Österreichs Großmachtbildung in der Zeit Kaiser Leopolds I. in einem Brief schrieb: »Wenn man wie ein Jordanes [der Geschichtsschreiber der Ostgoten; Th. W.] über ein verlorenes Reich schreiben muß, darf man nicht in seine Fehler fallen. Und von Österreich-Ungarn gilt doch auch für die Zukunft: es war ein Näherungswerk für die Quadratur des Zirkels. Aber die Zukunft wird wohl zunächst andere Wege einschlagen.«

Otto Brunner (1898–1982), seit 1940 Direktor des (Österreichischen) Instituts für Geschichtsforschung in Wien und Vorsitzender der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft, einer Institution der nationalsozialistischen »Südostforschung«, plädierte noch 1944 für den Primat des Volkes (im völkisch-nationalen Sinn) und der »Volksgeschichte« gegenüber dem Staat und der Staatsgeschichte. Die Geschichte des österreichischen Deutschtums werde künftig im wesentlichen als »Landes- und Volksgeschichte« zu schreiben sein. Neben der Geschichte der Deutschen in den Ländern der Habsburgermonarchie betrachtete Brunner die Geschichte der Habsburger und ihrer dynastischen Großmachtpolitik als das zweite große Thema der österreichischen und gleichzeitig der gesamtdeutschen und der europäischen Geschichte und war davon überzeugt, dass »[d]er einheitliche Rahmen einer österreichischen Geschichte als Geschichte des ›Staates‹ Österreich […] längst sinnlos geworden« sei. »Die wichtigsten uns heute [1944!] beschäftigenden Fragen finden hier keine Antwort mehr. Sie können […] ernsthaft nur aus einer gesamtdeutschen und damit europäischen Sicht in Angriff genommen werden.«

Erst nach 1945 versöhnten sich die meisten Österreicher und die österreichischen Historiker und Historikerinnen mit der Existenz Österreichs als Kleinstaat. Zweimal, so Gerald Stourzh in seiner Studie Vom Reich zur Republik, hat »die Geschichte« die Österreicher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts »von einem Reich in eine Republik transportiert«: vom Reich der Habsburgermonarchie in die Erste Republik und vom Großdeutschen Reich in die Zweite Republik. »Der endgültige Übergang vom Bewußtsein, die Österreicher seien ›Großstaatsmenschen‹, wie [Bundeskanzler] Ignaz Seipel es einmal während der Ersten Republik ausdrückte, zur Bejahung der kleinstaatlichen Republik ist zäh gewesen. Gelungen ist der Übergang nach 1918 noch nicht – erst nach 1945.«

Alphons Lhotsky (1903–1968), seit 1946 Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien, verfocht 1949 in einem Vortrag auf dem ersten österreichischen Archivtag die Ansicht, dass die österreichischen Erblande um 1500 eine Einheit gebildet hätten, die mit relativ geringen Veränderungen die folgenden Jahrhunderte überdauert habe. »Spinnen wir diesen Gedanken weiter aus, so erscheinen uns die vierhundert Jahre Großmacht im Verein mit Böhmen und Ungarn von 1526 bis 1918 als ein Zwischenspiel, an dessen Ende neuerdings jenes natürliche Ergebnis des Spätmittelalters, im großen und ganzen räumlich ähnlich, zutage trat und damit seine in sich selbst zurücklaufende echte Wesenhaftigkeit bewiesen hat.« Noch kurz vor seinem Tod gab sich Lhotsky 1966 im programmatischen Vorwort zu seiner Geschichte Österreichs seit der Mitte des 13. Jahrhunderts überzeugt: »Eine ›Geschichte Österreichs‹ darf heute nur noch demjenigen Territorienkomplex gelten, der sich im Laufe des Mittelalters durch spontane Konvergenz der Landschaften in weitgehender Identität mit der politischen Gestaltungskraft dreier Dynastien zu einer lebenskräftigen Einheit entwickelte, die über zahllose Krisen hinweg ihre Daseinsberechtigung bewiesen hat. Die Republik Österreich der Gegenwart ist nichts anderes als das nur wenig modifizierte ›Haus Österreich‹ der Zeit Kaiser Friedrichs III.«

Lhotskys Interpretation der österreichischen Geschichte zwischen 1526 und 1918 als Zwischenspiel, um nicht zu sagen: als historischer Irrweg, und seine Reduktion der österreichischen Geschichte auf das Staatsgebiet der Republik nach 1918 bzw. 1945 ist von manchen als provinzielles Wunschdenken kritisiert worden, zunächst von »großösterreichischen« bzw. (vormals) »gesamtdeutschen« Zeitgenossen wie Theodor Mayer (1883–1972), Hugo Hantsch (1895–1972) und Adam Wandruszka (1914–1997), zuletzt von Gerald Stourzh. Wandruszka polemisierte 1955 gegen das »krampfhafte« Suchen »nach Parallelen und Vorläufern zur Gegenwart […] in einem angeblichen ›spätmittelalterlichen Territorialstaat‹«. Stourzh gab 1991 unter anderem zu bedenken: »Wenn man die Republik Österreich ›in ihren heutigen Grenzen‹ als ›nichts anderes als das nur wenig modifizierte Haus Österreich der Zeit Kaiser Friedrichs III.‹ bezeichnet, bagatellisiert man die […] Änderungen [das Innviertel, Salzburg und das Burgenland sind erst später dazugekommen, Krain, Südtirol, die Untersteiermark, die Besitzungen an der Adria, in Schwaben und Vorderösterreich sind weggekommen; Th. W.] über Gebühr.«

Außerdem plädierte Lhotsky – ähnlich wie wenige Jahre zuvor der ihm politisch fernstehende Otto Brunner – für eine Trennung der Geschichte der Dynastie von jener der Länder. Dazu bemerkte Stourzh mit Recht: »Dennoch gibt es – mit flexiblem Umfang – eine österreichische Geschichte, die über den Umfang der gegenwärtigen Republik Österreich hinausreicht und mehr ist als ›Herrscher- oder Herrschaftsgeschichte‹. Die Schicksale und die Sozialisation zu vieler Menschen in zu vielen Lebensbereichen – nicht nur im Bereich der öffentlichen Verwaltung oder des Militärwesens – sind von der Zugehörigkeit zum Institutionengefüge der Monarchia Austriaca geprägt worden, als daß man mit einer Trennung in Dynastiegeschichte einerseits und Landes- oder Ländergeschichte andererseits das Auslangen finden könnte. Man denke etwa an die enormen Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts aus den ›Ländern der böhmischen Krone‹ in das ›Erzherzogtum unter der Enns‹, man denke an die jüdischen Westwärts- und Südwärtswanderungen innerhalb der Monarchie, und man merkt sogleich, daß hier historische Phänomene vorliegen, die weder als ›Dynastiegeschichte‹, noch als ›Landes- oder Ländergeschichte‹, noch auch als ›Nationalgeschichte‹ zu verstehen sind.«

Ernst Hanisch schließlich plädierte 1988 und neuerlich 1991 dafür, bei einer Darstellung und Analyse der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert nicht mit dem Bruch von 1918, sondern bereits um die Mitte der 1890er Jahre zu beginnen. »Was aber heißt Österreich vor dem Ersten Weltkrieg? Im öffentlichen Sprachgebrauch war zumeist die westliche Reichshälfte der Habsburgermonarchie gemeint. Der Begriff ist zu weit für meine Intentionen, für mein Programm einer Gesellschaftsgeschichte. Am ehesten trifft grob der ebenfalls, vor allem in der Statistik, verwendete Terminus ›Alpenländer‹ zu; kurz: die spätere Republik Österreich.« Stourzh gab dieser Auffassung gegenüber zu bedenken, »daß eine solche Einschränkung des Begriffs Österreich schon für das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und dann natürlich auch für die ersten 18 Jahre des 20. Jahrhunderts gerade vom Standpunkt einer gesellschaftshistorischen Methode problematisch ist. Die vor allem in den letzten Jahrzehnten Altösterreichs in ihrer Bedeutung überhaupt nicht zu überschätzende demographische, soziale und wirtschaftliche Verbindung der böhmischen Länder und der Donauländer (weniger der Alpenländer) erinnern daran, daß hier eine zu frühe Verengung angelegt ist.« Hanisch antwortete 1994 in der Einleitung zu seiner – wie angekündigt Mitte der 1890er Jahre einsetzenden – Gesellschaftsgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert (Der lange Schatten des Staates), diese Kritik sei zwar »theoretisch richtig, aber praktisch wenig ergiebig. Alle Längsschnitte würden an Aussagekraft verlieren, wenn sich das Korpus der Vergleichsdaten einmal auf das Gebiet der westlichen Reichshälfte, das andere Mal auf das Gebiet der Republik bezöge. Es ist allerdings notwendig, die Perspektive offenzuhalten, das Blickfeld nicht vorschnell auf das Gebiet der späteren Republik einzuschränken, die Verflechtungen mit zu berücksichtigen.«

Was aber, wenn man nicht, wie Ernst Hanisch, eine Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert schreiben will, sondern, wie die Autorin und die Autoren des vorliegendes Bandes, eine Überblicksdarstellung der Geschichte Österreichs vom Frühmittelalter bis ins 21. Jahrhundert? Ein gangbarer Weg scheint die methodische Unterscheidung und Kombination mehrerer unterschiedlich großer Räume zu sein, zu denen bzw. an denen »Österreich« zu verschiedenen Zeiten variierende Beziehungen und Anteile hatte. Arno Strohmeyer hat 2008 den Versuch unternommen, »Österreichische Geschichte der Neuzeit« als »multiperspektivische Raumgeschichte« zu begreifen. Er geht von einer »Pluralität der Räume« der österreichischen Geschichte aus. Der Schwerpunkt seiner Überlegungen liegt »auf politischen Räumen, d. h. auf Räumen, die sich durch politische Praxis konstituierten und politische Ordnung produzierten«. Um einen Raum als Gegenstand und Bestandteil österreichischer Geschichte zu verstehen, müsse »nicht unbedingt ein genetischer Bezug aufgrund von Staatsbildungsprozessen oder der Entwicklung des Nationalbewusstseins bestehen, ausschlaggebend ist vielmehr die geographische Überschneidung. Eine so verstandene österreichische Raumgeschichte konstituiert sich somit aus der Geschichte der Räume, die das Gebiet des heutigen Österreich oder einzelne seiner Teile beinhalten oder beinhaltet haben und der Geschichte, die in diesen Räumen stattfand. Darin eingeschlossen ist die Wahrnehmung dieser Räume durch die Zeitgenossen wie rückblickend in der österreichischen und internationalen Geschichtswissenschaft.«

Strohmeyer unterscheidet als für die (neuere) österreichische Geschichte relevante Räume – neben Europa – (1.) staatlich-territoriale Räume, (2.) europäische Mesoregionen (Zentraleuropa und Ostmitteleuropa) und (3.) das habsburgische Imperium, d. h. die die Herrschaftsräume sowohl der spanischen als auch der österreichischen (oder deutschen) Linie des Hauses Habsburg umfassende »dynastische Agglomeration«. Für unsere Zwecke relevant und praktikabel sind in erster Linie die sich im Zeitverlauf ändernden staatlich-territorialen Räume, nämlich die habsburgischen Erblande des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die Habsburgermonarchie (1526–1918) und das Heilige Römische Reich (962–1806) bzw. der Deutsche Bund (1815–1866), die Erste Republik (1918–1933/38), das nationalsozialistische Deutsche Reich (1938–1945) und die Zweite Republik (seit 1945). Der Raumpluralismus der österreichischen Geschichte ist ein Kernproblem, dem man sich als Historiker Österreichs stellen muss: »Eine als multiperspektivische Raumgeschichte verstandene österreichische Geschichte konstituiert sich nicht aus einem Raum, dessen Entwicklung den maßgeblichen Gedanken der Sinnkonstruktion darstellt, sondern aus einem Bündel von Räumen mit jeweils einer eigenen Geschichte, spezifischen Deutungsvoraussetzungen und Quellenverhältnissen.«

Karl Vocelka hat seiner erstmals im Jahr 2000 erschienenen Überblicksdarstellung der Geschichte Österreichs plausible Überlegungen zur Frage des räumlichen Umfangs der österreichischen Geschichte vorangestellt, die eine pragmatische Lösung der Widersprüche zwischen zwei gegensätzlichen Auffassungen des Begriffs »österreichische Geschichte«, nämlich als Geschichte des heutigen Staatsgebietes auf der einen und als Geschichte der Habsburgermonarchie auf der anderen Seite, nahelegen. »Eine allseits befriedigende Lösung wird sich nicht finden lassen, doch scheint sich die Entwicklung der letzten Zeit auf ein System konzentrischer Kreise hinzubewegen – oder, um einen Terminus aus der Fotografie zu verwenden: zu ›zoomen‹. Das heißt also, dass für die Neuzeit der deutschsprachige Teil der Donaumonarchie zwar im Mittelpunkt des Interesses der österreichischen HistorikerInnen steht, dass aber die Entwicklungen der einst mit dem Haus Habsburg verbundenen Länder, insbesondere sofern sie das wirtschaftliche, politische und kulturelle Klima beeinflussen, entsprechend berücksichtigt werden.« Ganz ähnlich ist Alois Niederstätter in der jüngsten, 2007 vorgelegten einbändigen Darstellung der Geschichte Österreichs vorgegangen. Im Vorwort hat er dies damit begründet, dass »für einen historischen Längsschnitt, der von der Eingliederung des Ostalpenraums in das römische Reich bis zur Gegenwart reichen soll«, nur »der Kompromiss« in Frage komme, »das Schwergewicht auf das heutige Staatsgebiet zu legen, aber auch weiter auszugreifen, wo es nötig erscheint«.

Das für die österreichische Geschichte eine tiefe Zäsur darstellende Jahr 1918, die militärische Niederlage Österreich-Ungarns und die Auflösung dieses Staatsgebildes, bedeuten den meisten heutigen Österreichern kaum mehr etwas ihre eigene, historisch fundierte (nationale) Identität Berührendes, werden nicht als »unsere« Niederlage oder der Zerfall »unseres« ehemaligen Staates empfunden. Das Gegenteil gilt für die Bedeutung der Jahre 1526 (Schlacht bei Mohács) und 1920 (Friedensvertrag von Trianon) im historischen Gedächtnis der heutigen Ungarn oder der Jahre 1620/21 (Schlacht am Weißen Berg, »Prager Blutgericht«) und 1918 (Gründung der Tschechoslowakei) im nationalen Geschichtsbild der heutigen Tschechen. Die moderne österreichische Nation ist eine sehr junge Nation. Ihre wichtigsten historischen »Erinnerungsorte« sind die Jahre 1945 (Kriegsende, Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, Wiedererrichtung der Republik Österreich) und 1955 (Staatsvertrag, Ende der Besatzungszeit, Erklärung der Immerwährenden Neutralität). Die Aufgabe, eine moderne »österreichische Geschichte« oder »Geschichte Österreichs« zu schreiben, wird dadurch nicht einfacher. Eine »Geschichte Österreichs« seit dem Frühmittelalter kann jedenfalls keine »österreichische Nationalgeschichte« sein. Während die ersten Jahre nach 1918 von einer »Entösterreicherung« des Bewusstseins der Deutsch-Österreicher geprägt gewesen waren und der »Ständestaat« in den 1930er Jahren die Parole von Österreich als »zweitem deutschem Staat« ausgegeben hatte, kam es zu einer »Austrifizierung« Österreichs im engeren Sinn – Ernst Hanisch hat von der »Reaustrifizierung«, der eigentlichen österreichischen Nationsbildung gesprochen – erst nach 1945, nach dem Bruch mit Deutschland und der deutschen Geschichte. Noch 1956 waren nur 49 % der befragten Österreicher der Ansicht, die Österreicher seien eine eigene Nation, 1964 sogar nur 47 %; 1970 – nach der »Borodajkewycz-Affäre« 1965 und der Einführung eines österreichischen Nationalfeiertags im selben Jahr – waren es dann bereits zwei Drittel, und seit den späten 1980er Jahren waren stets zwischen 74 und 80 % der Befragten dieser Meinung.

Jede »Geschichte Österreichs« ist letzten Endes ein Konstrukt, ein Konstrukt freilich, das die Österreichhistoriker nicht nur den historisch wissbegierigen Österreicherinnen und Österreichern, sondern allen an der Geschichte Europas und Österreichs in Europa Interessierten schuldig sind.

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