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Unter den älteren Fassungen des Motivs der Menge darf eine von Baudelaire übertragene Erzählung Poes als die klassische angesehen werden. Sie weist einige Merkwürdigkeiten auf, und man hat ihnen nur zu folgen, um auf gesellschaftliche Instanzen zu stoßen, die so mächtig und so verborgen sind, daß sie zu denen dürfen gerechnet werden, von denen die vielfach vermittelte, sowohl tiefgreifende wie subtile Wirkung auf die künstlerische Produktion allein ausgehen kann. Das Stück ist betitelt »Der Mann der Menge«. London ist sein Schauplatz; und zum Erzähler macht es einen Mann, der nach langer Krankheit sich erstmals ins Getriebe der Stadt hinausbegibt. In den späten Nachmittagsstunden eines Herbsttages hat er sich hinter dem Fenster eines großen Lokals in London installiert. Er mustert die Gäste um sich herum, auch die Inserate in einer Zeitung; vor allem aber geht sein Blick über die Menge hin, die sich an seinem Fenster vorüberschiebt. »Die Straße war eine der belebtesten in der Stadt; den ganzen Tag war sie von Menschen gefüllt gewesen. Nun aber, bei Einbruch der Dunkelheit, wuchs die Menge mit jeder Minute an; und als die Gasflammen entzündet waren, drängten zwei dichte, massive Ströme von Passanten an dem Café vorbei. Ich hatte mich noch nie in gleicher Verfassung gefühlt wie in dieser Abendstunde; und ich kostete die neue Erregung aus, die beim Anblick des Ozeans wogender Köpfe mich überkommen hatte. Allmählich ließ ich aus dem Auge, was in dem Raum, in dem ich mich befand, vor sich ging. Ich verlor mich an die Betrachtung der Straßenszene.«1155 Die Fabel, zu der dieses Vorspiel gehört, muß, so bedeutsam sie ist, auf sich beruhen; der Rahmen, in dem sie spielt, will betrachtet sein.

Düster und zerfahren wie das Gaslicht, in dem sie sich bewegt, erscheint bei Poe die londoner Menge selbst. Das gilt nicht nur von dem Gesindel, das mit der Nacht »aus den Höhlen«1156 kriecht. Die Klasse der höheren Angestellten wird von Poe folgendermaßen beschrieben: »Ihr Haar war zumeist bereits ziemlich gelichtet, ihr rechtes Ohr stand infolge seiner Verwendung als Träger des Federhalters gewöhnlich etwas vom Kopfe ab. Alle rückten gewohnheitsmäßig an ihren Hüten, und alle trugen kurze goldene Uhrketten von altmodischer Form.«1157 Noch erstaunlicher ist die Beschreibung der Menge nach der Art, wie sie sich bewegt. »Die meisten, die vorbeikamen, sahen aus wie Leute, die mit sich zufrieden sind und mit beiden Füßen im Leben stehen. Sie schienen nur daran zu denken, sich durch die Menge den Weg zu bahnen. Sie runzelten die Brauen und warfen Blicke nach allen Seiten. Wenn sie von benachbarten Passanten einen Stoß bekamen, zeigten sie sich nicht weiter ungehalten; sie brachten ihre Kleider wieder in Ordnung und hasteten weiter. Andere, und auch diese Gruppe war groß, hatten ungeordnete Bewegungen, ein rot angelaufenes Gesicht, redeten mit sich selbst und gestikulierten, so als ob sie sich gerade in der unzähligen Menge, von der sie umgeben waren, allein vorgekommen wären. Wenn sie unterwegs innehalten mußten, dann hörten diese Leute plötzlich zu murmeln auf; aber ihre Gestikulation wurde heftiger, und sie warteten mit abwesendem, forciertem Lächeln, bis die Leute, die ihnen im Wege standen, vorbeiwaren. Wenn man sie anstieß, so grüßten sie diejenigen tief, von denen sie ihren Stoß bekommen hatten, und sie schienen dann höchst befangen.«11581159 Man sollte denken, die Rede sei von halb trunkenen, verelendeten Individuen. In Wahrheit handelt es sich um »Leute von gutem Stande, Kaufleute, Advokaten und Börsenspekulanten«11601161.

Man wird das Bild, das Poe entworfen hat, nicht als realistisch bezeichnen können. Es zeigt eine planvoll entstellende Phantasie am Werk, die den Text weit von denen abrückt, die man als Muster eines sozialistischen Realismus zu empfehlen pflegt. Barbier zum Beispiel, der einer der besten ist, auf die sich ein solcher Realismus vielleicht berufen könnte, schildert die Dinge weniger befremdlich ab. Auch wählte er einen transparenteren Gegenstand; es ist die Masse der Unterdrückten. Von ihr kann bei Poe nicht die Rede sein; er hat es mit ›den Leuten‹ schlechtweg zu tun. In dem Schauspiel, das sie ihm darboten, spürte er, wie Engels, etwas Bedrohliches. Es ist eben dies Bild der Großstadtmenge, das für Baudelaire bestimmend geworden ist. Wenn er der Gewalt erlag, mit der sie ihn an sich zog und als Flaneur zu einem der ihren machte, so hat ihn doch das Gefühl von ihrer unmenschlichen Beschaffenheit dabei nicht verlassen. Er macht sich zu ihrem Komplizen und sondert sich fast im gleichen Augenblick von ihr ab. Er läßt sich weitläufig mit ihr ein, um sie unversehens mit einem Blick der Verachtung ins Nichts zu schleudern. Diese Ambivalenz hat etwas Bezwingendes, wo er sie zurückhaltend einbekennt. Mit ihr mag der schwer ergründliche Charme seines »Crépuscule du soir« zusammenhängen.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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