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~〈2〉 Über einige Motive bei Baudelaire~ I

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Baudelaire hat mit Lesern gerechnet, die die Lektüre von Lyrik vor Schwierigkeiten stellt. An diese Leser wendet sich das einleitende Gedicht der »Fleurs du mal«. Mit ihrer Willenskraft und also auch wohl ihrem Konzentrationsvermögen ist es nicht weit her; sinnliche Genüsse werden von ihnen bevorzugt; sie sind mit dem spleen vertraut, der dem Interesse und der Aufnahmefähigkeit den Garaus macht. Es ist befremdend, einen Lyriker anzutreffen, der sich an dieses Publikum hält, das undankbarste. Gewiß liegt eine Erklärung bei der Hand. Baudelaire wollte verstanden werden: er widmet sein Buch denen, die ihm ähnlich sind. Das Gedicht an den Leser schließt mit der Apostrophe:

Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère!1117

Der Tatbestand erweist sich ergiebiger, wenn man ihn umformuliert und sagt: Baudelaire hat ein Buch geschrieben, das von vornherein wenig Aussicht auf einen unmittelbaren Publikumserfolg gehabt hat. Er rechnete mit einem Lesertyp, wie ihn das einleitende Gedicht beschreibt. Und es hat sich ergeben, daß das eine weitblickende Berechnung gewesen ist. Der Leser, auf den er eingerichtet war, wurde ihm von der Folgezeit beigestellt. Daß dem so ist, daß, mit andern Worten, die Bedingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtungen ungünstiger geworden sind, dafür spricht, unter anderm, dreierlei. Erstens hat der Lyriker aufgehört, für den Poeten an sich zu gelten. Er ist nicht mehr ›der Sänger‹, wie noch Lamartine es war; er ist in ein Genre eingetreten. (Verlaine macht diese Spezialisierung handgreiflich; Rimbaud war schon Esoteriker, der das Publikum ex officio von seinem Werke fernhält.) Ein zweites Faktum: ein Massenerfolg lyrischer Poesie ist nach Baudelaire nicht mehr vorgekommen. (Noch Hugos Lyrik fand beim Erscheinen eine mächtige Resonanz. In Deutschland stellt das »Buch der Lieder« die Schwelle dar.) Ein dritter Umstand ist derart mitgegeben: das Publikum wurde spröder auch gegen lyrische Poesie, die ihm von früher her überkommen war. Die Spanne Zeit, von der hier die Rede ist, darf man ungefähr von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an datieren. In der gleichen Epoche hat sich der Ruhm der »Fleurs du mal« ohne Unterlaß ausgebreitet. Das Buch, das mit den ungeneigtesten Lesern gezählt und anfangs nicht viele geneigte gefunden hatte, wurde im Laufe der Jahrzehnte zu einem klassischen; es wurde auch zu einem der meistgedruckten.

Wenn die Bedingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtungen ungünstiger geworden sind, so liegt es nahe, sich vorzustellen, daß die lyrische Poesie nur noch ausnahmsweise den Kontakt mit der Erfahrung der Leser wahrt. Das könnte sein, weil sich deren Erfahrung in ihrer Struktur verändert hat. Man wird diesen Ansatz vielleicht gutheißen, aber nur desto verlegener um eine Kennzeichnung dessen sein, was sich in ihr könnte gewandelt haben. In dieser Lage wird man bei der Philosophie nachfragen. Dabei stößt man auf einen eigentümlichen Sachverhalt. Seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts stellte sie eine Reihe von Versuchen an, der ›wahren‹ Erfahrung im Gegensatze zu einer Erfahrung sich zu bemächtigen, welche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Massen niederschlägt. Man pflegt diese Vorstöße unter dem Begriff der Lebensphilosophie zu rubrizieren. Sie gingen begreiflicherweise nicht vom Dasein des Menschen in der Gesellschaft aus. Sie beriefen sich auf die Dichtung, lieber auf die Natur und zuletzt vorzugsweise auf das mythische Zeitalter. Diltheys Werk »Das Erlebnis und die Dichtung« ist eines der frühesten in der Reihe; sie endet mit Klages und mit Jung, der sich dem Faschismus verschrieben hat. Als weithin ragendes Monument erhebt sich Bergsons Frühwerk »Matière et mémoire« über diese Literatur. Mehr als die andern wahrt es Zusammenhänge mit der exakten Forschung. Es ist an der Biologie ausgerichtet. Sein Titel zeigt an, daß es die Struktur des Gedächtnisses als entscheidend für die philosophische der Erfahrung ansieht. In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben. Sie bildet sich weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen. Das Gedächtnis geschichtlich zu spezifizieren, ist freilich Bergsons Absicht in keiner Weise. Jedwede geschichtliche Determinierung der Erfahrung weist er vielmehr zurück. Er meidet damit vor allem und wesentlich, derjenigen Erfahrung näherzutreten, aus der seine eigene Philosophie entstanden ist oder vielmehr gegen die sie entboten wurde. Es ist die unwirtliche, blendende der Epoche der großen Industrie. Dem Auge, das sich vor dieser Erfahrung schließt, stellt sich eine Erfahrung komplementärer Art als deren gleichsam spontanes Nachbild ein. Bergsons Philosophie ist ein Versuch, dieses Nachbild zu detaillieren und festzuhalten. Sie gibt derart mittelbar einen Hinweis auf die Erfahrung, die Baudelaire unverstellt, in der Gestalt seines Lesers, vor Augen tritt.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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