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III Die Moderne

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Baudelaire hat sein Bild vom Künstler einem Bilde vom Helden angeformt. Beide treten von Anfang an füreinander ein. »Die Willenskraft«, so heißt es im »Salon de 1845«, »muß eine wirklich kostbare Gabe sein und wird offenbar nie vergebens eingesetzt, denn sie genügt, um selbst … Werken … zweiten Ranges etwas Unverwechselbares zu geben … Der Beschauer genießt die Mühe; er schlürft den Schweiß.«1016 In den »Conseils aux jeunes littérateurs« vom nächsten Jahr steht die schöne Formel, in der die »contemplation opiniâtre de l’œuvre de demain«1017 als die Gewähr der Inspiration erscheint. Baudelaire kennt die »indolence naturelle des inspirés«1018; wieviel Arbeit dazu gehört, »aus einer Träumerei ein Kunstwerk hervorgehen zu lassen«1019, habe ein Musset nie begriffen. Er dagegen tritt vom ersten Augenblick an mit einem eigenen Kodex, eigenen Satzungen und Tabus vor das Publikum. Barrès will »in jeder geringsten Vokabel von Baudelaire die Spur der Mühen erkennen, die ihm zu so Großem verholfen haben«1020. »Bis in seine nervöse Krise hinein«, schreibt Gourmont, »behält Baudelaire etwas Gesundes.«1021 Am glücklichsten formuliert der Symbolist Gustave Kahn, wenn er sagt, daß »die dichterische Arbeit bei Baudelaire einer körperlichen Anstrengung ähnlich sah«1022. Dafür ist der Beweis im Werk zu finden – in einer Metapher, die nähere Betrachtung lohnt.

Diese Metapher ist die des Fechters. Baudelaire liebte es, unter ihr die Züge des Martialischen als artistische vorzustellen. Wenn er Constantin Guys, an dem er hing, beschreibt, so sucht er ihn um die Zeit, da die andern schlafen, auf: »wie er dasteht, über den Tisch gebeugt, mit der gleichen Schärfe das Blatt Papier visiert wie am Tag die Dinge um ihn herum; wie er mit seinem Stift, seiner Feder, dem Pinsel ficht; Wasser aus seinem Glas zur Decke spritzen und die Feder an seinem Hemd sich versuchen läßt; wie geschwind und heftig er hinter der Arbeit her ist, als fürchte er, die Bilder entwischten ihm. So ist er streitbar, wenn auch allein und pariert seine eigenen Stöße.«1023 In solch »phantastischem Gefecht« begriffen hat Baudelaire sich selbst in der Anfangsstrophe des »Soleil« porträtiert, und das ist wohl die einzige Stelle der »Fleurs du mal«, die ihn bei der poetischen Arbeit zeigt. Das Duell, in dem jeder Künstler begriffen ist und in dem er, »ehe er besiegt wird, vor Schrecken aufschreit«1024, ist in den Rahmen einer Idylle gefaßt; seine Gewaltsamkeiten treten in den Hintergrund, und es läßt seinen Charme erkennen.

Le long du vieux faubourg, où pendent aux masures

Les persiennes, abri des secrètes luxures,

Quand le soleil cruel frappe à traits redoublés

Sur la ville et les champs, sur les toits et les blés,

Je vais m’exercer seul à ma fantasque escrime,

Flairant dans tous les coins les hasards de la rime,

Trébuchant sur les mots comme sur les pavés,

Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés. 1025

Diesen prosodischen Erfahrungen auch in der Prosa ihr Recht werden zu lassen, war eine der Absichten, denen Baudelaire im »Spleen de Paris« – seinen Gedichten in Prosa – nachgegangen war. In seiner Widmung der Sammlung an den Chefredakteur der »Presse« Arsène Houssaye kommt neben dieser Absicht zum Ausdruck, was jenen Erfahrungen eigentlich zu Grunde lag. »Wer unter uns hätte nicht schon in den Tagen des Ehrgeizes das Wunderwerk einer poetischen Prosa erträumt? Sie müßte musikalisch ohne Rhythmus und ohne Reim sein; sie müßte geschmeidig und spröd genug sein, um sich den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Chocks des Bewußtseins anzupassen. Dieses Ideal, das zur fixen Idee werden kann, wird vor allem von dem Besitz ergreifen, der in den Riesenstädten mit dem Geflecht ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehungen zuhause ist.«1026

Will man diesen Rhythmus vergegenwärtigen und dieser Arbeitsweise nachgehen, so zeigt es sich, daß Baudelaires Flaneur nicht in dem Grade ein Selbstporträt des Dichters ist, wie man es meinen könnte. Ein bedeutender Zug des wirklichen Baudelaire – nämlich des seinem Werk verschriebenen – ist in dieses Bildnis nicht eingegangen. Das ist die Geistesabwesenheit. – Im Flaneur feiert die Schaulust ihren Triumph. Sie kann sich in der Beobachtung konzentrieren – das ergibt den Amateurdetektiv; sie kann im Gaffer stagnieren – dann ist aus dem Flaneur ein badaud geworden1027. Die aufschlußreichen Darstellungen der Großstadt stammen weder von dem einen noch von dem andern. Sie stammen von denen, die die Stadt gleichsam abwesend, an ihre Gedanken oder Sorgen verloren, durchquert haben. Ihnen wird das Bild der fantasque escrime gerecht; auf deren Verfassung, die alles andere als die des Beobachters ist, hat Baudelaire es abgesehen. In seinem Buch über Dickens hat Chesterton meisterhaft den gedankenverloren die Großstadt Durchstreifenden festgehalten. Die standhaften Irrgänge von Charles Dickens hatten in seinen Kinderjahren begonnen. »Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, blieb ihm nichts übrig als herumzustrolchen, und er strolchte durch halb London. Er war als Kind träumerisch; sein trauriges Schicksal beschäftigte ihn mehr als anderes … In der Dunkelheit stand er unter den Laternen von Holbome und in Charing Cross litt er das Martyrium.« »Er legte es nicht auf Beobachtung an, wie das die Pedanten tun; er guckte nicht, um sich zu bilden, Charing Cross an; er zählte nicht die Laternen von Holborne, um Arithmetik zu lernen … Dickens nahm nicht den Abdruck der Dinge in seinen Geist auf; es war viel eher so, daß er seinen Geist den Dingen eindrückte.«1028

Nicht oft konnte sich Baudelaire in den späteren Jahren als Promeneur durch die pariser Straßen bewegen. Seine Gläubiger verfolgten ihn, die Krankheit meldete sich und Zerwürfnisse zwischen ihm und seiner Mätresse traten hinzu. Die Chocks, mit denen seine Sorgen ihm zusetzten und die hundert Einfälle, mit denen er sie parierte, bildet der dichtende Baudelaire in den Finten seiner Prosodie nach. Die Arbeit, die Baudelaire seinen Gedichten zuwandte, unterm Bild des Gefechts erkennen, heißt, sie als eine ununterbrochene Folge kleinster Improvisationen begreifen lernen. Die Varianten seiner Gedichte bezeugen, wie beständig er an der Arbeit war und wie sehr das geringste ihn dabei bekümmerte. Diese Streifzüge, auf denen er seinen poetischen Sorgenkindern an den Ecken von Paris in die Arme lief, waren nicht immer freiwillige. In den ersten Jahren seines Daseins als Literat, da er das Hotel Pimodan bewohnte, konnten seine Freunde die Diskretion bewundern, mit der er alle Spuren der Arbeit – den Schreibtisch voran – aus seinem Zimmer verbannt hatte1029. Damals war er, sinnbildlich, auf die Eroberung der Straße ausgegangen. Später, als er ein Stück seines bürgerlichen Daseins nach dem andern preisgab, wurde sie ihm mehr und mehr zu einem Zufluchtsort. Ein Bewußtsein von der Brüchigkeit dieses Daseins lag aber in der Flanerie von Anfang an. Sie macht aus der Not eine Tugend und zeigt darin die Struktur, die für die Konzeption des Heros bei Baudelaire in allen Teilen charakteristisch ist.

Die Not, die hier verkleidet wird, ist nicht nur eine materielle; sie betrifft die poetische Produktion. Die Stereotypien in Baudelaires Erfahrungen, der Mangel an Vermittlung zwischen seinen Ideen, die erstarrte Unruhe in seinen Zügen deuten darauf hin, daß die Reserven, die großes Wissen und umfassender geschichtlicher Überblick dem Menschen eröffnen, ihm nicht zu Gebote standen. »Baudelaire hatte für einen Schriftsteller einen großen Fehler, von dem er selbst nichts ahnte: er war unwissend. Was er wußte, das wußte er gründlich; aber er wußte Weniges. Geschichte, Physiologie, Archäologie, Philosophie blieben ihm fremd … Die Außenwelt interessierte ihn wenig; er bemerkte sie vielleicht, aber jedenfalls studierte er sie nicht.«1030 Es ist zwar naheliegend und auch berechtigt, solchen und ähnlichen Kritiken1031 gegenüber auf die notwendige und nützliche Unzugänglichkeit des Arbeitenden, die in aller Produktion unerläßlichen idiosynkratischen Einschläge hinzuweisen; aber der Sachverhalt hat eine andere Seite. Er begünstigt die Überforderung des Produzierenden im Namen eines Prinzips, des ›Schöpferischen‹. Diese ist um so gefährlicher als sie, dem Selbstgefühl des Produzierenden schmeichelnd, die Interessen einer ihm feindseligen Gesellschaftsordnung vorzüglich wahrt. Die Lebensweise der Bohémiens hat dazu beigetragen, einen Aberglauben an das Schöpferische in Kurs zu setzen, dem Marx mit einer Feststellung begegnet, die für geistige genau wie für manuelle Arbeit gilt. Zum ersten Satz des Gothaer Programmentwurfs, »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur«, vermerkt er kritisch: »Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn gerade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein anderes Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben.«1032 Wenig von dem, was zu den gegenständlichen Bedingungen geistiger Arbeit gehört, hat Baudelaire besessen: von einer Bibliothek bis zu einer Wohnung gab es nichts, worauf er im Laufe seines Daseins, das gleich unstet in wie außerhalb von Paris verlief, nicht hätte verzichten müssen. »Physische Leiden«, schreibt er am 26. Dezember 1853 an seine Mutter, »bin ich in dem Grade gewohnt, ich verstehe so gut, mir unter einer zerrissenen Hose und einer Jacke, durch die der Wind streicht, mit zwei Hemden auszuhelfen, und ich bin so geübt, mich bei durchlöcherten Schuhen mit Stroh oder selbst Papier einzurichten, daß ich fast nur noch moralische Leiden als solche fühle. Immerhin muß ich offen sagen, daß ich nun soweit bin, aus Furcht, meine Sachen noch mehr zu zerreißen, keine sehr plötzlichen Bewegungen mehr zu machen und nicht mehr viel zu gehen.«1033 Von der Art waren unter den Erfahrungen, die Baudelaire im Bilde des Heros verklärt hat, die unzweideutigsten.

Der Depossedierte taucht unter dem Bild des Heros um diese Zeit noch an anderer Stelle auf; und zwar ironisch. Das ist der Fall bei Marx. Er spricht von den Ideen des ersten Napoleons und sagt: »Der Kulminierpunkt der ›idées napoleoniennes‹ … ist das Übergewicht der Armee. Die Armee war der point d’honneur der Parzellenbauern, sie selbst in Heroen verwandelt.« Nun aber, unter dem dritten Napoleon, ist die Armee »nicht mehr die Blüte der Bauernjugend, sie ist die Sumpfblume des bäuerlichen Lumpenproletariats. Sie besteht großenteils aus Remplaçants …, wie der zweite Bonaparte selbst nur Remplaçant, der Ersatzmann für Napoleon ist.«1034 Der Blick, der sich von dieser Ansicht zum Bilde des fechtenden Dichters zurückwendet, findet es sekundenlang von dem des Marodeurs überblendet, des anders ›fechtenden‹ Söldners, der durch die Gegend irrt1035. Vor allem aber klingen zwei berühmte Zeilen Baudelaires mit ihrer unauffälligen Synkope deutlicher über dem gesellschaftlichen Hohlraum wider, von dem Marx spricht. Sie beschließen die zweite Strophe des dritten Gedichtes der »Petites vieilles«. Proust begleitet sie mit den Worten, »il semble impossible d’aller au delà«1036.

Ah! que j’en ai suivi, de ces petites vieilles!

Une, entre autres, à l’heure où le soleil tombant

Ensanglante le ciel de blessures vermeilles,

Pensive, s’asseyait à l’écart sur un banc,

Pour entendre un de ces concerts, riches de cuivre,

Dont les soldats parfois inondent nos jardins,

Et qui, dans ces soirs d’or où l’on se sent revivre,

Versent quelque héroïsme au cœur des citadins. 1037

Die mit den Söhnen verarmter Bauern besetzten Blechkapellen, die ihre Weisen für die arme Stadtbevölkerung ertönen lassen – sie geben den Heroismus ab, der in dem Wort quelque seine Fadenscheinigkeit scheu verbirgt und eben in dieser Geberde echt und der einzige ist, der von dieser Gesellschaft noch hervorgebracht wird. In der Brust ihrer Heroen wohnt kein Gefühl, das in der der kleinen Leute nicht Platz hätte, die sich um eine Militärmusik ansammeln.

Die Gärten, von denen in dem Gedicht als von ›den unsrigen‹ die Rede ist, sind die dem Städter geöffneten, dessen Sehnsucht vergebens um die großen verschlossenen Parks streift. Das Publikum, das sich in ihnen einfindet, ist nicht ganz das den Flaneur umwogende. »Zu welcher Partei man immer gehören mag«, schrieb Baudelaire 1851, »es ist unmöglich, nicht von dem Schauspiel dieser kränklichen Bevölkerung ergriffen zu werden, die den Staub der Fabriken schluckt, Baumwollpartikeln einatmet, ihre Gewebe von Bleiweiß und Quecksilber und von allen Giften durchdringen läßt, die zur Herstellung von Meisterwerken gebraucht werden … Diese Bevölkerung verzehrt sich nach den Wundern, auf die ihr doch die Erde ein Anrecht gibt; sie fühlt purpurnes Blut in ihren Adern wallen, und sie wirft einen langen von Trauer beschwerten Blick auf das Sonnenlicht und die Schatten in den großen Parks.«1038 Diese Bevölkerung ist der Hintergrund, von dem sich der Umriß des Heros abhebt. Das Bild, welches sich so darstellt, beschriftete Baudelaire auf seine eigene Weise. Er setzte das Wort la modernité darunter.

Der Heros ist das wahre Subjekt der modernité. Das will besagen – um die Moderne zu leben, bedarf es einer heroischen Verfassung. Das war auch die Meinung Balzacs gewesen. Balzac und Baudelaire stehen mit ihr zur Romantik in Gegensatz. Sie verklären die Leidenschaften und die Entschlußkraft; die Romantik den Verzicht und die Hingabe. Aber die neue Anschauungsweise ist ungleich vielmaschiger, ungleich reicher an Vorbehalten bei dem Lyriker als bei dem Romancier. Zwei Redefiguren zeigen, auf welche Art. Beide stellen den Heros in seiner modernen Erscheinung dem Leser vor. Bei Balzac wird der Gladiator zum commis voyageur. Der große Geschäftsreisende Gaudissart bereitet sich darauf vor, die Touraine zu bearbeiten. Balzac schildert seine Veranstaltungen und unterbricht sich, um auszurufen: »Welch ein Athlet! welche Arena! und was für Waffen: er, die Welt und sein Mundwerk!«1039 Baudelaire dagegen erkennt den Fechtersklaven im Proletarier wieder; unter den Versprechungen, die der Wein dem Enterbten zu vergeben hat, nennt die fünfte Strophe des Gedichts »L’âme du vin«:

J’allumerai les yeux de ta femme ravie;

A ton fils je rendrai sa force et ses couleurs

Et serai pour ce frêle athlète de la vie

L’huile qui raffermit les muscles des lutteurs. 1040

Was der Lohnarbeiter in täglicher Arbeit leistet, ist nichts Geringeres als was im Altertum dem Gladiator zu Beifall und Ruhm verhalf. Dieses Bild ist Stoff vom Stoffe der besten Erkenntnisse, die Baudelaire geworden sind; es stammt aus dem Nachdenken über seine eigene Lage. Eine Stelle aus dem »Salon de 1859« ergibt, wie er sie angesehen wissen wollte. »Wenn ich höre, wie ein Raphael oder Veronese mit der verschleierten Absicht glorifiziert werden, was nach ihnen gekommen ist zu entwerten …, so frage ich mich, ob eine Leistung, die als solche der ihrigen mindestens gleichzusetzen ist …, nicht unendlich viel verdienstlicher als die ihre ist, da sie sich in einer Atmosphäre und in einem Landstrich hervorgetan hat, die ihr feindlich gesinnt waren.«1041 – Baudelaire liebte es, seine Thesen kraß, in gleichsam barocker Beleuchtung in den Kontext hineinzusetzen. Es gehörte zu seiner theoretischen Staatsraison, ihren Zusammenhang untereinander – wo einer vorhanden war – zu beschatten. Derartige Schattenpartien sind durch die Briefe fast immer aufzuhellen. Ohne ein solches Verfahren notwendig zu machen, läßt die angezogene Stelle von 1859 ihren unzweifelhaften Zusammenhang mit einer mehr als zehn Jahre früheren und besonders befremdlichen klar erkennen. Die folgende Kette, von Überlegungen rekonstruiert diesen.

Die Widerstände, die die Moderne dem natürlichen produktiven Elan des Menschen entgegensetzt, stehen im Mißverhältnis zu seinen Kräften. Es ist verständlich, wenn er erlahmt und in den Tod flüchtet. Die Moderne muß im Zeichen des Selbstmords stehen, der das Siegel unter ein heroisches Wollen setzt, das der ihm feindseligen Gesinnung nichts zugesteht. Dieser Selbstmord ist nicht Verzicht sondern heroische Passion. Er ist die Eroberung der Moderne im Bereiche der Leidenschaften1042. So, nämlich als die passion particulière de la vie moderne, tritt der Selbstmord an der klassischen Stelle auf, die der Theorie der Moderne gewidmet ist. Der Freitod antiker Helden ist eine Ausnahme. »Wo findet man, abgesehen von Herakles auf dem Berge Oeta, von Cato von Utica und von Kleopatra, … Selbstmorde in den antiken Darstellungen?«1043 Nicht als ob Baudelaire sie in den modernen fände; der Hinweis auf Rousseau und Balzac, der diesem Satze folgt, ist ein dürftiger. Aber den Rohstoff solcher Darstellungen hält die Moderne bereit; und sie wartet auf seinen Meister. Dieser Rohstoff hat sich in eben den Schichten abgesetzt, die sich durchweg als Fundament der Moderne herausstellen. Die ersten Aufzeichnungen zu deren Theorie sind von 1845. Um die gleiche Zeit ist die Vorstellung des Selbstmords in den arbeitenden Massen heimisch geworden. »Man reißt sich um die Abzüge einer Lithographie, die einen englischen Arbeiter darstellt, wie er sich in der Verzweiflung, sein Brot nicht mehr verdienen zu können, das Leben nimmt. Ein Arbeiter geht sogar in die Wohnung von Eugène Sue und hängt sich dort auf; in der Hand hat er einen Zettel: ›… Ich dachte, der Tod möchte mir leichter werden, wenn ich ihn unter dem Dach des Mannes sterbe, der für uns eintritt und der uns liebt.‹«1044 Adolphe Boyer, ein Buchdrucker, publizierte 1841 die kleine Schrift »De l’état des ouvriers et de son amélioration par l’organisation du travail«. Es war eine gemäßigte Darlegung, die die alten in Zunftgebräuchen befangenen Korporationen der wandernden Handwerksburschen für die Arbeiterassoziation zu gewinnen suchte. Sie hatte keinen Erfolg; der Verfasser nahm sich das Leben und forderte in einem offenen Brief seine Leidensgenossen auf, ihm nachzufolgen. Der Selbstmord konnte sehr wohl einem Baudelaire als die einzig heroische Handlung vor Augen stehen, die den multitudes maladives der Städte in den Zeiten der Reaktion verblieben war. Vielleicht sah er den Rethelschen Tod, den er sehr bewunderte, als gelenkigen Zeichner vor einer Staffelei, die Todesarten der Selbstmörder auf die Leinwand werfend. Was die Farben des Bildes angeht, so bot die Mode ihre Palette dar.

Seit der Julimonarchie begann in der Männerkleidung das Schwarze und Graue vorzuwalten. Diese Neuerung beschäftigte Baudelaire im »Salon von 1845«. Im Schlußwort seiner Erstlingsschrift führt er aus: »Vor allen anderen wird derjenige der Maler heißen, der dem gegenwärtigen Leben seine epische Seite abgewinnt und uns in Linien und Farben verstehen lehrt, wie groß und poetisch wir in unseren Lackschuhen und Krawatten sind. – Mögen die wirklichen Pioniere uns nächstes Jahr die erlesene Freude machen, die Heraufkunft des wahrhaft Neuen feiern zu dürfen.«1045 Ein Jahr darauf: »Um auf den Anzug, die Hülle des modernen Heros zu kommen – … sollte der nicht seine Schönheit und seinen ihm eigenen Charme haben …? Ist das nicht der Anzug wie ihn unsere Epoche braucht; denn sie leidet und trägt noch auf ihren schwarzen, mageren Schultern das Symbol einer ewigen Traurigkeit. Der schwarze Anzug und der Gehrock haben ja nicht nur als Ausdruck der allgemeinen Gleichheit ihre politische Schönheit – sie haben auch eine poetische, und zwar als Ausdruck der öffentlichen Geistesverfassung, dargestellt in einer unabsehbaren Prozession von Leichenbittern – politischen Leichenbittern, erotischen Leichenbittern, privaten Leichenbittern. Irgendeine Beisetzung feiern wir alle. – Die durchgehend gleiche Livree der Trostlosigkeit beweist die Gleichheit … Und haben die Falten im Stoff, die Grimassen schneiden und sich wie Schlangen um erstorbenes Fleisch legen, nicht ihren verborgenen Reiz?«1046 Diese Vorstellungen haben an der tiefen Faszination Anteil, die die in Trauer gekleidete Passantin des Sonetts auf den Dichter ausübt. Der Text von 1846 schließt dann: »Denn die Heroen der Ilias reichen euch nicht das Wasser, Vautrin, Rastignac, Birotteau – und dir Fontanarès, der du nicht gewagt hast, dem Publikum zu gestehen, was du unter dem makabren, wie im Krampfe zusammengezogenen Frack durchmachtest, welchen wir alle tragen; – und dir Honoré de Balzac, die sonderbarste, die romantischste und die poetischste unter allen Figuren, die deine Phantasie erschaffen hat.«1047

Fünfzehn Jahre später kommt der süddeutsche Demokrat Friedrich Theodor Vischer in einer Kritik der Herrenmode zu Erkenntnissen, die denen von Baudelaire ähnlich sind. Nur ändert sich ihr Akzent; was bei Baudelaire als Farbton in den dämmernden Prospekt der Moderne eingeht, liegt bei Vischer als blankes Argument im politischen Kampf zur Hand. »Farbe bekennen«, schreibt Vischer mit dem Blick auf die seit 1850 herrschende Reaktion, »gilt für lächerlich, straff sein für kindisch; wie sollte da die Tracht nicht auch farblos, schlaff und eng zugleich werden?«1048 Die Extreme berühren einander; Vischers politische Kritik überschneidet, wo sie sich metaphorisch ausprägt, ein frühes Phantasiebild von Baudelaire. In einem Sonett, dem »Albatros« – es stammt von der überseeischen Reise, durch die man den jungen Dichter zu bessern hoffte – erkennt Baudelaire sich in diesen Vögeln, deren Unbeholfenheit auf dem Schiffsdeck, wo die Mannschaft sie ausgesetzt hat, er so beschreibt:

A peine les ont-ils déposés sur les planches,

Que ces rois de l’azur, maladroits et honteux,

Laissent piteusement leurs grandes ailes blanches

Comme des avirons traîner à côté d’eux.

Ce voyageur ailé, comme il est gauche et veule! 1049

Von den weiten, übers Gelenk fallenden Ärmeln des Jackettanzuges sagt Vischer: »Das sind nicht mehr Arme, sondern Flügelrudimente, Pinguinsflügelstümpfe, Fischflossen und die Bewegung der formlosen Anhängsel im Gang sieht einem thörichten, simpelhaften Fuchteln, Schieben, Nachjücken, Rudern gleich.«1050 Die gleiche Ansicht der Sache – das gleiche Bild.

Folgendermaßen bestimmt Baudelaire das Angesicht der Moderne deutlicher – das Kainszeichen auf ihrer Stirn nicht verleugnend: »Die Mehrzahl der Dichter, die sich mit wirklich modernen Sujets befaßten, hat sich mit den abgestempelten, offiziellen begnügt – diese Dichter beschäftigten sich mit unseren Siegen und mit unserem politischen Heroismus. Auch das tun sie widerwillig, nur weil die Regierung sie dazu kommandiert und sie honoriert. Und doch gibt es Sujets aus dem Privatleben, die bedeutend heroischer sind. Das Schauspiel des mondänen Lebens und der Tausende ungeregelter Existenzen, die in den Souterrains einer großen Stadt zuhause sind — der Verbrecher und der ausgehaltenen Frauen – die Gazette des tribunaux und der Moniteur beweisen, daß wir nur die Augen zu öffnen brauchen, um den Heroismus zu erkennen, den wir zu eigen haben.«1051 Ins Bild des Heros tritt hier der Apache. An ihm kommen die Charaktere, nachhause, die Bounoure an der Einsamkeit Baudelaires verzeichnet – »ein noli me tangere, eine Verkapslung des Individuums in seine Differenz«1052. Der Apache schwört den Tugenden und den Gesetzen ab. Er kündigt ein für alle Mal den contrat social. So glaubt er sich vom Bürger durch eine Welt geschieden. Er erkennt in ihm nicht die Züge des Spießgesellen, die sehr bald von Hugo in den »Châtiments« mit so mächtiger Wirkung gezeichnet wurden. Den Illusionen von Baudelaire sollte freilich ein sehr längerer Atem beschieden sein. Sie begründen die Poesie des Apachentums. Sie gelten einer Gattung, die in mehr als achtzig Jahren nicht abgebaut worden ist. Diese Ader hat Baudelaire als erster angeschlagen. Poes Held ist nicht der Verbrecher sondern der Detektiv. Balzac seinerseits kennt nur den großen Außenseiter der Gesellschaft. Vautrin erfährt Aufstieg und Absturz; er hat eine Karriere wie alle Balzacschen Helden. Die Verbrecherlaufbahn ist eine wie die andern. Auch Ferragus sinnt auf Großes und plant ins Weite; er ist vom Schlage der carbonari. Der Apache, welcher sein Leben lang auf die Bannmeile der Gesellschaft wie der großen Stadt angewiesen bleibt, hat vor Baudelaire in der Literatur keine Stelle. Die schärfste Prägung dieses Sujets in den »Fleurs du mal«, der »Vin de l’assassin« ist zum Ausgangspunkt eines pariser Genres geworden. Seine ›Kunststätte‹ wurde das Chat noir. »Passant sois moderne« hieß die Inschrift, die es in den ersten, heroischen Zeiten führte.

Die Dichter finden den Kehricht der Gesellschaft auf ihrer Straße und ihren heroischen Vorwurf an eben ihm. Damit scheint in ihren erlauchten Typus ein gemeiner gleichsam hineinkopiert. Ihn durchdringen die Züge des Lumpensammlers, welcher Baudelaire so beständig beschäftigt hat. Ein Jahr vor dem »Vin des chiffonniers« erschien eine prosaische Darstellung der Figur: »Hier haben wir einen Mann – er hat die Abfälle des vergangenen Tages in der Hauptstadt aufzusammeln. Alles, was die große Stadt fortwarf, alles, was sie verlor, alles, was sie verachtete, alles, was sie zertrat – er legt davon das Register an und er sammelt es. Er kollationiert die Annalen der Ausschweifung, das Capharnaum des Abhubs; er sondert die Dinge, er trifft eine kluge Wahl; er verfährt wie ein Geizhals mit einem Schatz und hält sich an den Schutt, der zwischen den Kinnladen der Göttin der Industrie die Form nützlicher oder erfreulicher Sachen annehmen wird.«1053 Diese Beschreibung ist eine einzige ausgedehnte Metapher für das Verfahren des Dichters nach dem Herzen von Baudelaire. Lumpensammler oder Poet – der Abhub geht beide an; beide gehen einsam ihrem Gewerbe nach, zu Stunden, wo die Bürger dem Schlafe fronen; selbst der Gestus ist der gleiche bei ihnen beiden. Nadar spricht von Baudelaires »pas saccadé«1054; das ist der Schritt des Dichters, der nach Reimbeute die Stadt durchirrt; es muß auch der Schritt des Lumpensammlers sein, der alle Augenblick auf seinem Wege innehält, um den Abfall, auf den er stößt, aufzulesen. Vieles spricht dafür, daß Baudelaire verhohlen diese Verwandtschaft zur Geltung hat bringen wollen. Eine Wahrsagung birgt sie auf jeden Fall. Sechzig Jahre später erscheint ein Bruder des zum Lumpensammler herabgesunkenen Dichters bei Apollinaire. Es ist Croniamantal, der poète assassiné – erstes Opfer des Pogroms, der auf der ganzen Erde dem Geschlecht der Lyriker ein Ende bereiten soll.

Über der Poesie des Apachentums liegt ein Zwielicht. Stellt der Auswurf die Helden der großen Stadt? oder ist Held nicht vielmehr der Dichter, der aus solchem Stoffe sein Werk erbaut1055? – Die Theorie der Moderne räumt beides ein. Aber der alternde Baudelaire deutet in einem späten Gedicht »Les plaintes d’un Icare« an, daß er nicht mehr mit dem Schlage von Menschen fühlt, unter dem er in der Jugend Heroen suchte.

Les amants des prostituées

Sont heureux, dispos et repus;

Quant à moi, mes bras sont rompus

Pour avoir étreint des nuées. 1056

Der Dichter, der Platzhalter des antiken Helden, wie der Titel des Stücks es sagt, hat dem modernen Helden, von dessen Taten die »Gazette des tribunaux« berichtet, weichen müssen1057. In Wahrheit ist im Begriff des modernen Heros dieser Verzicht bereits angelegt. Er ist zum Untergang vorbestimmt und um dessen Notwendigkeit darzustellen, braucht kein Tragiker aufzustehen. Ist ihr aber ihr Recht geworden, so ist die Moderne abgelaufen. Dann wird die Probe auf sie gemacht werden. Nach ihrem Ende wird sich erweisen, ob sie selber je Antike wird werden können.

Diese Frage blieb Baudelaire stets vernehmbar. Den alten Anspruch auf die Unsterblichkeit erfuhr er als seinen Anspruch, einmal wie ein antiker Schriftsteller gelesen zu werden. Daß »alle Moderne es wirklich wert sei, dereinst Antike zu werden«1058 – das ist ihm die Umschreibung der künstlerischen Aufgabe überhaupt. An Baudelaire bemerkt Gustave Kahn sehr treffend einen »refus de l’occasion, tendue par la nature du prétexte lyrique«1059. Was ihn gegen Gelegenheiten und Anlässe spröde machte, war das Bewußtsein von jener Aufgabe. Nichts kommt für ihn in der Epoche, welcher er selber zufiel, der ›Aufgabe‹ des antiken Heros, den ›Arbeiten‹ eines Herakles näher als die ihm selber als die eigenste auferlegte: der Moderne Gestalt zu geben.

Unter allen Verhältnissen, in die die Moderne tritt, ist das zur Antike ein ausgezeichnetes. Für Baudelaire stellt sich das an Victor Hugo dar. »Das Geschick führte ihn dazu, … die antike Ode und die antike Tragödie bis zu … den Gedichten und Dramen umzubilden, die wir von ihm kennen.«1060 Die Moderne bezeichnet eine Epoche; sie bezeichnet zugleich die Kraft, die in dieser Epoche am Werke ist, der Antike sie anverwandelnd. Widerwillig und in gezählten Fällen wurde sie Hugo von Baudelaire zugestanden. Wagner dagegen erschien ihm als schrankenlose, unverfälschte Ausströmung dieser Kraft. »Wenn Wagner in der Wahl seiner Sujets und in seinem dramatischen Verfahren der Antike nahekommt, so ist er dank seiner leidenschaftlichen Ausdruckskraft gegenwärtig der wichtigste Repräsentant der Moderne.«1061 Der Satz enthält in nuce Baudelaires Theorie der modernen Kunst. Die Vorbildlichkeit der Antike beschränkt sich nach ihr auf die Konstruktion; die Substanz und Inspiration des Werkes ist die Sache der modernité. »Wehe dem, der anderes am Altertum studiert als die reine Kunst, die Logik, die allgemeine Methode. Vertieft er sich in die Antike allzu sehr, … so entäußert er sich … der Privilegien, die die Gelegenheit ihm bietet.«1062 Und in den Schlußsätzen des Essays über Guys heißt es; »Allerorten hat er die transitorische, flüchtige Schönheit unseres gegenwärtigen Lebens gesucht. Der Leser hat uns erlaubt, sie die Modernität zu nennen.«1063 Zusammengefaßt nimmt sich die Doktrin folgendermaßen aus: »Am Schönen wirken ein ewiges, unveränderliches … und ein relatives, bedingtes Element zusammen. Dieses letzte … wird von der Epoche, der Mode, der Moral, den Leidenschaften gestellt. Ohne dieses zweite Element … wäre das erste nicht assimilierbar.«1064 Man kann nicht sagen, daß das in die Tiefe geht.

Die Theorie der modernen Kunst ist in Baudelaires Ansicht von der Moderne der schwächste Punkt. Die letztere zeigt die modernen Motive auf; Sache der ersten wäre wohl eine Auseinandersetzung mit der antiken Kunst gewesen. Dergleichen hat Baudelaire nie versucht. Den Verzicht, der in seinem Werk als Ausfall der Natur und der Naivität erscheint, hat seine Theorie nicht bewältigt. Ihre Abhängigkeit von Poe, die bis in die Formulierung geht, ist ein Ausdruck ihrer Befangenheit. Ihre polemische Ausrichtung ist ein anderer; sie hebt sich von dem grauen Fond des Historizismus ab, von dem akademischen Alexandrinertum, das mit Villemain und Cousin im Schwange ging. Keine ihrer ästhetischen Reflexionen hat die Moderne in ihrer Durchdringung mit der Antike dargestellt, wie das in gewissen Stücken der »Fleurs du mal« geschieht.

Unter ihnen steht das Gedicht »Le cygne« voran. Nicht umsonst ist es ein allegorisches. Diese Stadt, die in steter Bewegung begriffen ist, erstarrt. Sie wird spröde wie Glas, aber auch wie Glas durchsichtig – nämlich auf ihre Bedeutung hin. »(La forme d’une ville | Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel.)«1065 Die Statur von Paris ist gebrechlich; es ist umstellt von Sinnbildern der Gebrechlichkeit. Kreatürlichen – der Negerin und dem Schwan; und historischen – der Andromache, »Hektors Witwe und Weib des Helenus«. Trauer über das was war und Hoffnungslosigkeit in das Kommende ist der gemeinsame Zug an ihnen. Worin zuletzt und am innigsten die Moderne der Antike sich anverlobt, das ist diese Hinfälligkeit. Paris, wo immer es in den »Fleurs du mal« vorkommt, trägt deren Male. Der »Crépuscule du matin« ist das im Stoff einer Stadt nachgebildete Aufschluchzen eines Erwachenden; »Le soleil« zeigt die Stadt fadenscheinig wie ein altes Gewebe im Sonnenlicht; der Greis, der tagtäglich von neuem resigniert nach seinem Handwerkszeug greift, weil die Sorgen im Alter nicht von ihm gelassen haben, ist die Allegorie der Stadt, und Greisinnen – »Les petites vieilles« – sind unter ihren Einwohnern die einzig vergeistigten. Daß diese Gedichte unangefochten die Jahrzehnte durchdrungen haben, danken sie einem sie wappnenden Vorbehalt. Es ist der Vorbehalt gegen die große Stadt. Er unterscheidet sie von fast aller Großstadtdichtung, die nach ihnen gekommen ist. Eine Strophe von Verhaeren genügt, zu erfassen, um was es hierbei geht.

Et qu’importent les maux et les heures démentes

Et les cuves de vice où la cité fermente

Si quelque jour, du fond des brouillards et des voiles

Surgit un nouveau Christ, en lumière sculpté

Qui soulève vers lui l’humanité

Et la baptise au feu de nouvelles étoiles. 1066

Baudelaire kennt solche Perspektiven nicht. Sein Begriff von der Hinfälligkeit der großen Stadt steht im Ursprung der Dauer der Gedichte, welche er auf Paris geschrieben hat.

Auch das Gedicht »Le cygne« ist Hugo gewidmet; vielleicht als einem der Wenigen, deren Werk, wie es Baudelaire schien, eine neue Antike zum Vorschein brachte. Soweit bei Hugo davon die Rede sein kann, ist die Quelle seiner Inspiration von der Baudelaires grundverschieden. Hugo ist das Erstarrungsvermögen fremd, das – wenn ein biologischer Begriff statthaft ist – als eine Art Mimesis des Todes sich hundertfach in Baudelaires Dichtung kundtut. Dagegen kann von einer chthonischen Veranlagung Hugos die Rede sein. Ohne daß ihrer gerade Erwähnung geschähe, kommt sie in den folgenden Sätzen von Charles Péguy zur Geltung. Aus ihnen ergibt sich, wo die Verschiedenheit in Hugos und Baudelaires Konzeption der Antike zu suchen ist. »Dessen soll man versichert sein: wenn Hugo den Bettler an der Landstraße sah, … so sah er ihn wie er ist, wirklich so, wie er wirklich ist …, auf der antiken Landstraße ihn, den antiken Bettler, den antiken Flehenden. Wenn er die Marmorverkleidung eines unserer Kamine sah oder die zementierten Ziegel an einem unserer modernen Kamine, so sah er sie als das, was sie sind: nämlich den Stein vom Herd. Den Stein vom antiken Herd. Wenn er die Tür des Hauses und die Schwelle sah, die für gewöhnlich ein behauener Stein ist, so erkannte er auf diesem behauenen Stein die antike Linie: die Linie der heiligen Schwelle, welche dieselbe ist.«1067 Kein besserer Kommentar zu der folgenden Stelle der »Misérables«: »Die Kneipen des Faubourg Saint-Antoine ähnelten den Tavernen des Aventin, die über der Höhle der Sibylle errichtet sind und in Verbindung mit den heiligen Eingebungen stehen; die Tische dieser Tavernen waren beinahe Dreifüße und Ennius spricht von dem sibyllinischen Wein, der da getrunken wurde.«1068 Aus der gleichen Anschauungsweise stammt das Werk, in dem das erste Bild einer ›pariser Antike‹ erscheint, Hugos Gedichtzyklus »A l’arc de triomphe«. Die Verherrlichung dieses Baudenkmals geht von der Vision einer pariser Campagna aus, einer »immense campagne«, in der nur drei Monumente der untergegangenen Stadt überdauern: die Sainte-Chapelle, die Vendôme-Säule und der Triumphbogen. Die hohe Bedeutung, die dieser Zyklus im Werk von Victor Hugo hat, entspricht der Stelle, die er in der Entstehung eines der Antike angeformten Bildes vom Paris des neunzehnten Jahrhunderts einnimmt. Baudelaire hat ihn unzweifelhaft gekannt. Er stammt aus dem Jahre 1837.

Bereits sieben Jahre früher notiert der Historiker Friedrich von Raumer in seinen »Briefen aus Paris und Frankreich im Jahre 1830«: »Vom Thurme Notre Dame herab übersah ich gestern die ungeheure Stadt; wer hat das erste Haus gebaut, wann wird das letzte Zusammenstürzen und der Boden von Paris aussehen wie der von Theben und Babylon?«1069 Diesen Boden wie er sein wird, wenn dereinst »dies Ufer, wo das Wasser an tönenden Brückenbogen sich bricht, den murmelnden Binsen, die sich neigen, wird wiedergegeben sein«1070, hat Hugo beschrieben:

Mais non, tout sera mort. Plus rien dans cette plaine

Qu’un peuple évanoui dont elle est encor pleine. 1071

Hundert Jahre nach Raumer wirft von Sacré-Cœur, einem anderen erhobenen Orte der Stadt, Léon Daudet auf Paris einen Blick. In seinem Auge spiegelt die Geschichte der ›Moderne‹ bis auf den gegenwärtigen Augenblick sich in schreckenerregender Kontraktion: »Man sieht von oben her auf diese Ansammlung von Palais, Monumenten, Häusern und Baracken und bekommt das Gefühl, sie seien einer Katastrophe oder mehreren vorbestimmt – meteorologischen oder gesellschaftlichen … Ich habe Stunden auf Fourvières mit dem Blick auf Lyon, auf Notre-Dame de la Garde mit dem Blick auf Marseille, auf Sacré-Cœur mit dem Blick auf Paris zugebracht … Was von diesen Anhöhen aus am deutlichsten erkennbar wird, ist die Drohung. Die Menschenansammlungen sind bedrohlich; … der Mensch hat Arbeit nötig, das ist richtig, aber er hat auch andere Bedürfnisse … Er hat unter anderen Bedürfnissen das des Selbstmords, das in ihm und in der Gesellschaft, welche ihn bildet, steckt; und es ist stärker als sein Selbsterhaltungstrieb. So wundert man sich, wenn man oben von Sacré-Cœur, Fourvières und Notre-Dame de la Garde heruntersieht, daß Paris, Lyon, Marseille noch vorhanden sind.«1072 Dies ist das Gesicht, das die passion moderne, die Baudelaire im Selbstmord erkannte, im gegenwärtigen Jahrhundert bekommen hat.

Die Stadt Paris trat in dies Jahrhundert in der Gestalt ein, die ihr Haussmann gegeben hat. Seine Umwälzung des Stadtbildes hatte er mit den denkbar bescheidensten Mitteln ins Werk gesetzt: Spaten, Hacken, Brecheisen und dergleichen. Welches Maß von Zerstörung hatten nicht schon diese beschränkten hervorgerufen! Und wie wuchsen seither mit den großen Städten die Mittel, sie dem Erdboden gleichzumachen! Welche Bilder vom Kommenden rufen sie nicht hervor! – Die Arbeiten Haussmanns standen auf ihrem Höhepunkt, ganze Quartiers wurden abgerissen, da befand sich an einem Nachmittag des Jahres 1862 Maxime Du Camp auf dem Pont neuf. Er wartete unweit vom Laden eines Optikers auf seine Augengläser. »Der Autor, der an der Schwelle des Alters stand, erfuhr einen jener Augenblicke, in denen der Mann, sein verflossenes Leben überdenkend, in allem seine eigene Melancholie gespiegelt sieht. Das geringe Nachlassen seiner Sehschärfe, dessen der Besuch beim Optiker ihn überführt hatte, rief ihm das Gesetz der unvermeidlichen Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge … in die Erinnerung … Ihm, dem weit im Orient Herumgekommenen, dem in den Einöden Bewanderten, deren Sand Staub von Toten ist, kam plötzlich der Gedanke, auch diese Stadt, die ihn umbrauste, würde einst sterben müssen wie so viele Kapitalen … gestorben sind. Ihm fiel ein, wie außerordentlich uns heute eine genaue Darstellung von Athen zur Zeit des Perikies, von Kathargo zur Zeit des Barca, von Alexandrien zur Zeit der Ptolemäer, von Rom zur Zeit der Caesaren interessieren würde … Dank einer blitzartigen Eingebung, wie sie einem bisweilen zu einem außerordentlichen Sujet verhilft, faßte er den Plan, das Buch über Paris zu schreiben, das die Geschichtsschreiber des Altertums über ihre Stadt nicht geschrieben haben … Das Werk seines reifen Alters erschien vor seinem geistigen Auge.«1073 In Hugos Gedicht »An den Triumphbogen«, in Du Camps großer verwaltungstechnischer Darstellung seiner Stadt ist die gleiche Inspiration zu erkennen, die für Baudelaires Idee der Moderne entscheidend wurde.

Haussmann ging 1859 ans Werk. Es war durch Gesetzesvorlagen angebahnt, in seiner Notwendigkeit längst empfunden worden. »Nach 1848«, schreibt Du Camp in dem eben genannten Werk, »stand Paris im Begriff, unbewohnbar zu werden. Die ständige Ausdehnung des Eisenbahnnetzes … beschleunigte den Verkehr und den Bevölkerungszuwachs der Stadt. Die Leute erstickten in den engen, unsauberen, verschachtelten alten Gassen, in die sie gepfercht blieben, weil es nicht anders ging.«1074 Zu Beginn der fünfziger Jahre fing man in der pariser Bevölkerung an, in die Vorstellung von einer unausweichlichen großen Bereinigung des Stadtbildes sich zu schicken. Man darf annehmen, daß diese Bereinigung in ihrer Inkubationszeit auf eine bedeutende Phantasie ebenso stark wirken konnte, wenn nicht stärker, als der Anblick der urbanistischen Arbeiten selbst. »Les poëtes sont plus inspirés par les images que par la présence même des objets«1075, sagt Joubert. Von den Künstlern darf Gleiches gelten. Das, wovon man weiß, daß man es bald nicht mehr vor sich haben wird, das wird Bild. So wurden es wohl die pariser Straßen zu jener Zeit. Jedenfalls lag das Werk, dessen unterirdischer Zusammenhang mit der großen Umwälzung von Paris am wenigsten zu bezweifeln ist, einige Jahre ehe sie unternommen wurde vollendet vor. Es waren Meryons radierte Ansichten von Paris. Niemand ist mehr von ihnen beeindruckt worden als Baudelaire. Ihm war die archäologische Ansicht der Katastrophe, wie sie den Träumen Hugos zugrunde lag, nicht die eigentlich bewegende. Ihm sollte die Antike mit einem Schlag, eine Athene aus dem Haupte des unversehrten Zeus, aus der unversehrten Moderne steigen. Meryon trieb das antike Antlitz der Stadt heraus, ohne einen Pflasterstein von ihr preiszugeben. Diese Ansicht der Sache war es, welcher Baudelaire unablässig im Gedanken der modernité nachgehangen hatte. Er bewunderte Meryon leidenschaftlich.

Beide waren einander wahlverwandt. Ihr Geburtsjahr ist das gleiche; ihr Tod liegt nur um Monate auseinander. Beide starben vereinsamt und schwer gestört; Meryon als Dementer in Charenton, Baudelaire, ohne Sprache, in einer Privatklinik. Beider Ruhm hat sich spät auf den Weg gemacht. Für Meryon ist zu Lebzeiten Baudelaire fast als der einzige eingetreten1076. Weniges in seinen Prosastücken läßt sich mit dem kurzen Text über Meryon messen. Von Meryon handelnd, huldigt er der Moderne; er huldigt aber dem antiken Gesicht in ihr. Denn auch bei Meryon durchdringen einander die Antike und die Moderne; auch bei Meryon tritt die Form dieser Überblendung, die Allegorie, unverkennbar auf. Die Beschriftung ist auf seinen Blättern von Wichtigkeit. Spielt der Wahnsinn in ihren Text hinein, so unterstreicht sein Dunkel nur die ›Bedeutung‹. Die Meryonschen Verse unter der Ansicht des Pont neuf stehen als Auslegung, unbeschadet ihrer Spitzfindigkeit, in nächster Nachbarschaft des »Squelette laboureur«:

Ci-gît du vieux Pont-Neuf

L’exacte ressemblance

Tout radoubé de neuf

Par récente ordonnance.

O savants médecins,

Habiles chirurgiens,

De nous pourquoi ne faire

Comme du pont de pierre. 10771078

Geffroy trifft in das Zentrum von Meryons Werk, er trifft auch dessen Verwandtschaft mit Baudelaire, vor allem aber trifft er die Treue in der Wiedergabe der Stadt Paris, die bald von Trümmerfeldern durchsetzt werden sollte, wenn er die Einzigartigkeit dieser Blätter darin sucht, »daß sie, wiewohl unmittelbar nach dem Leben verfertigt, den Eindruck von abgelaufenem Leben machen, das erstorben ist oder das sterben wird«10791080. Baudelaires Meryon-Text gibt unter der Hand die Bedeutsamkeit dieser pariser Antike zu verstehen. »Selten haben wir mit mehr dichterischer Kraft die natürliche Feierlichkeit einer großen Stadt dargestellt gesehen: die Majestät der aufgehäuften Steinmassen, die Kirchtürme, deren erhobener Finger auf den Himmel deutet, die Obelisken der Industrie, welche Heerscharen Rauches gegen das Firmament entbieten1081, die Gerüste, die ihr durchbrochenes, spinnwebhaftes Gefüge so paradox über den massiven Block der Bauten, an denen man bessert, legen, den dunstigen von Zorn geschwängerten und von Groll schweren Himmel und die tiefen Durchblicke, deren Poesie in den Dramen wohnt, mit denen man sie im Geist ausstattet – keines der komplexen Elemente, aus denen der teuer erkaufte und ruhmreiche Dekor der Zivilisation sich zusammensetzt, ist vergessen worden.«1082 Unter den Plänen, deren Scheitern man wie einen Verlust beklagen kann, ist der des Verlegers Delâtre zu rechnen, der die Meryonsche Folge mit Texten von Baudelaire veröffentlichen wollte. Daß diese Texte nicht geschrieben wurden, geht auf den Graphiker zurück; er vermochte nicht, sich die Aufgabe Baudelaires anders vorzustellen denn als ein Inventar der von ihm wiedergegebenen Häuser und Straßenzüge. Wäre Baudelaire an diese Aufgabe herangetreten, so würde das Wort von Proust über »die Rolle der antiken Städte im Werke von Baudelaire und die Scharlachfarbe, die sie ihm stellenweise mitteilen«1083, sinnfälliger geworden sein als es sich heute liest. Unter diesen Städten stand für ihn Rom voran. In einem Aufsatz über Leconte de Lisle gesteht er seine »natürliche Vorliebe« für diese Stadt. Wahrscheinlich ist er zu ihr durch die Veduten von Piranesi gekommen, auf denen die nicht restaurierten Ruinen noch als eins mit der neuen Stadt erscheinen.

Das Sonett, das als neununddreißigstes Gedicht der »Fleurs du mal« figuriert, beginnt:

Je te donne ces vers afin que si mon nom

Aborde heureusement aux époques lointaines,

Et fait rêver un soir les cervelles humaines,

Vaisseau favorisé par un grand aquilon,

Ta mémoire, pareille aux fables incertaines,

Fatigue le lecteur ainsi qu’un tympanon. 1084

Baudelaire will gelesen werden wie ein Antiker. Erstaunlich schnell wurde die Forderung fällig. Denn die ferne Zukunft, die époques lointaines, von denen das Sonett spricht, sind gekommen; soviel Jahrzehnte nach seinem Tode als sich Baudelaire Jahrhunderte gedacht mag haben. Zwar steht Paris noch; und die großen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung sind noch die gleichen. Aber je beständiger sie géblieben sind, desto hinfälliger wurde an der Erfahrung von ihnen alles, was im Zeichen des ›wahrhaft Neuen‹ gestanden hatte. Die Moderne ist sich am wenigsten gleich geblieben; und die Antike, die in ihr stecken sollte, stellt in Wahrheit das Bild des Veralteten. »Man findet Herculanum unter der Asche wieder; aber einige Jahre verschütten die Sitten einer Gesellschaft besser als aller Staub der Vulkane.«1085

Die Antike von Baudelaire ist die römische. Nur an einer Stelle ragt die griechische Antike in seine Welt hinein. Griechenland stellt ihm das Bild von der Heroine, welches ihm würdig und fähig schien, in die Moderne übertragen zu werden. Griechische Namen – Delphine und Hippolyte – tragen die Frauenbilder in einem der größten und berühmtesten Stücke der »Fleurs du mal«. Es ist der lesbischen Liebe gewidmet. Die Lesbierin ist die Heroine der modernité. In ihr ist ein erotisches Leitbild von Baudelaire – die Frau, die von Härte und Mannheit sagt – von einem geschichtlichen Leitbild durchdrungen worden – dem der Größe in der antiken Welt. Das macht die Stellung der lesbischen Frau in den »Fleurs du mal« unverwechselbar. Es erklärt, warum ihnen von Baudelaire lange Zeit der Titel »Les lesbiennes« zugedacht worden ist. Im übrigen ist Baudelaire weit entfernt, die Lesbierin für die Kunst entdeckt zu haben. Balzac in seiner »Fille aux yeux d’or« hat sie schon gekannt; Gautier in »Mademoiselle de Maupin«, Delatouche in der »Fragoletta«. Auch bei Delacroix trat sie Baudelaire entgegen; etwas umwunden spricht er in der Kritik seiner Bilder von einer »heroischen Manifestation der modernen Frau in der Richtung des Infernalischen«1086.

Das Motiv ist im Saintsimonismus beheimatet, der in seinen kultischen Velleitäten oft die Idee der Androgyne verwertet hat. Zu ihnen zählt der Tempel, der in Duveyriers ›Neuer Stadt‹ prangen sollte. Ein Adept der Schule bemerkt von ihm: »Der Tempel muß eine Androgyne darstellen, einen Mann und eine Frau … Die gleiche Teilung muß für die ganze Stadt vorgesehen werden, ja für das ganze Königreich und die gesamte Erde: es wird die Hemisphäre des Mannes und die der Frau geben.«1087 Faßlicher als in dieser Architektur, die nicht gebaut wurde, ist die saintsimonistische Utopie ihrem anthropologischen Inhalt nach in den Gedankengängen von Claire Demar. Über den großspurigen Phantasien von Enfantin ist Claire Demar vergessen worden. Dem Kern der saintsimonistischen Theorie – nämlich der Hypostasierung der Industrie als der Kraft, die die Welt bewegt – steht das Manifest, das sie hinterließ, näher als der Mutter-Mythos von Enfantin. Um die Mutter geht es auch diesem Text, aber in wesentlich anderer Meinung als denen, die von Frankreich aufbrachen, um im Morgenlande nach ihr zu suchen. In der weit verzweigten Literatur der Zeit, die es mit der Zukunft der Frau zu tun hat, steht er vereinzelt durch Kraft und durch Leidenschaft. Er erschien mit dem Titel »Ma loi d’avenir«. In seinem Schlußabschnitt heißt es: »Keine Mutterschaft mehr! kein Gesetz des Blutes. Ich sage: keine Mutterschaft mehr. Ist die Frau erst einmal … von Männern, die ihr den Preis ihres Körpers zahlen, befreit …, so wird sie ihr Dasein … nur ihrem eigenen Schaffen zu danken haben. Dazu muß sie sich einem Werke widmen und eine Funktion ausfüllen … So müßt ihr euch denn entschließen, das Neugeborene von der Brust der natürlichen Mutter dem Arm der sozialen Mutter zu übergeben, dem Arm der staatlich bestellten Amme. So wird das Kind besser erzogen werden … Dann erst, und früher nicht, werden Mann, Frau und Kind vom Gesetz des Bluts, dem Gesetze der Ausbeutung der Menschheit durch sie selber entbunden werden.«1088

Hier prägt sich das Bild der heldischen Frau, welches Baudelaire in sich aufnahm, in ursprünglicher Fassung aus. Seine lesbische Abwandlung wurde nicht erst von den Schriftstellern vorgenommen, sondern im saintsimonistischen Zirkel selbst. Was an Zeugnissen hier in Frage kommt, lag bei den Chronisten der Schule selbst gewiß nicht in den besten Händen. Immerhin besitzt man von einer Frau, die sich zur Lehre von Saint-Simon bekannte, folgende merkwürdige Konfession: »Ich begann, meinen Nächsten die Frau ebensosehr zu lieben wie meinen Nächsten den Mann … Ich ließ dem Manne seine physische Kraft und die ihm eigene Art von Intelligenz, setzte aber neben ihm als gleichwertig die körperliche Schönheit der Frau und die ihr eigene Art geistiger Gaben ein.«1089 Wie ein Echo dieses Bekenntnisses klingt eine kritische Reflexion von Baudelaire, deren man sich nicht leicht versehen hätte. Sie gilt Flauberts erster Heldin. »Madame Bovary ist ihrer besten Spannkraft und ihren ehrgeizigsten Zielen nach, aber auch in ihrem tiefsten Träumen … ein Mann geblieben. Wie die dem Haupte des Zeus entstiegene Pallas Athene hat diese sonderbare Androgyne alle verführerische Gewalt erhalten, die einem männlichen Geist in einem bezaubernden Frauenkörper zu eigen ist.«1090 Und weiter, über den Dichter selbst: »Alle intellektuellen Frauen werden ihm Dank wissen, das ›Weibchen‹ zu einer Höhe erhoben zu haben …, auf der sie an der Doppelnatur teilhat, die den vollendeten Menschen ausmacht: ebenso der Berechnung fähig zu sein wie der Träumerei.«1091 Mit einem Handstreich, wie er ihm immer gelegen hat, erhebt Baudelaire Flauberts Kleinbürgergattin zur Heroine.

Es gibt in Baudelaires Dichtung eine Anzahl von wichtigen, auch offenkundigen Tatsachen, die unbeachtet geblieben sind. Zu ihnen gehört die gegensätzliche Ausrichtung der beiden lesbischen Gedichte, die in den »Epaves« aufeinander folgen. »Lesbos« ist eine Hymne auf die lesbische Liebe; »Delphine et Hippolyte« dagegen ist eine von weichem Mitleid immer vibrierende Verdammung dieser Passion.

Que nous veulent les lois du juste et de l’injuste?

Vierges au cœur sublime, honneur de l’archipel,

Votre religion comme une autre est auguste,

Et l’amour se rira de l’Enfer et du Ciel! 1092

So heißt es im ersten dieser Gedichte; im zweiten:

– Descendez, descendez, lamentables victimes,

Descendez le chemin de l’enfer éternel! 1093

Der auffallende Zwiespalt erklärt sich so: wie Baudelaire die lesbische Frau nicht als Problem sah – weder als ein gesellschaftliches noch als eines der Veranlagung – so hatte er, als Prosaiker könnte man sagen, auch keine Stellung zu ihr. Im Bilde der Moderne hatte er für sie Platz; in der Wirklichkeit erkannte er sie nicht wieder. Darum schreibt er unbekümmert: »Wir haben die schriftstellernde Philanthropin gekannt, … die republikanische Dichterin, die Dichterin der Zukunft, sie sei Fourieristin oder Saintsimonistin1094 – niemals haben wir unser Auge … an all dies getragene und abstoßende Gehaben …, diese Imitationen männlichen Geistes gewöhnen können.«1095 Es wäre abwegig anzunehmen, Baudelaire wäre je beigefallen, mit seinem Dichten in der Öffentlichkeit für die lesbische Frau sich einzusetzen. Die Vorschläge, die er seinem Anwalt für das Plädoyer im Prozeß gegen die »Fleurs du mal« machte, beweisen das. Die bürgerliche Ächtung ist für ihn von der heroischen Natur dieser Leidenschaft nicht zu trennen. Das »descendez, descendez, lamentables victimes« ist das letzte Wort, das Baudelaire der lesbischen Frau nachruft. Er gibt sie dem Untergang preis. Sie ist unrettbar, weil die Verworrenheit in Baudelaires Konzeption von ihr unauflöslich ist.

Das neunzehnte Jahrhundert begann die Frau im Produktionsprozeß rückhaltlos außerhalb des Hauswesens zu verwerten. Es tat das vorwiegend auf primitive Art; es stellte sie in Fabriken ein. Männliche Züge mußten damit im Laufe der Zeit an ihr in Erscheinung treten. Da Fabrikarbeit sie bedingte, offenbar vor allem entstellende. Höhere Formen der Produktion, auch der politische Kampf als solcher konnten männliche Züge in einer edleren Form begünstigen. Vielleicht kann die Bewegung der Vésuviennes in einem solchen Sinne verstanden werden. Sie stellte der Februarrevolution ein Corps, das sich aus Frauen zusammensetzte. »Vésuviennes«, so heißt es in den Statuten, »nennen wir uns, um damit auszusagen, daß in jeder Frau, die uns angehört, ein revolutionärer Vulkan am Werke ist.«1096 In solcher Veränderung des weiblichen Habitus kamen Tendenzen zur Geltung, die Baudelaires Phantasie beschäftigen konnten. Es wäre nicht erstaunlich, wenn seine tiefe Idiosynkrasie gegen die Schwangerschaft mit im Spiele gewesen wäre1097. Die Vermännlichung der Frau sprach zu ihr. Baudelaire bejahte also den Vorgang. Gleichzeitig aber kam es ihm darauf an, ihn aus der ökonomischen Botmäßigkeit zu lösen. So gelangte er dazu, dieser Entwicklungsrichtung einen rein sexuellen Akzent zu geben. Was er George Sand nicht verzeihen konnte, war vielleicht, die Züge einer lesbischen Frau durch ihr Abenteuer mit Musset entweiht zu haben.

Die Verkümmerung des ›prosaischen‹ Elements, die in Baudelaires Stellung zur lesbischen Frau sich ausprägt, ist auch in anderen Stücken für ihn bezeichnend. Sie befremdete aufmerksame Betrachter. 1895 schreibt Jules Lemaître: »Man steht vor einem Werk voller Kunstgriffe und beabsichtigter Widersprüche … Im Augenblick, da es sich in der krassesten Beschreibung der trostlosesten Details der Realität gefällt, ergeht es sich in einem Spiritualismus, der weit von dem unmittelbaren Eindruck abführt, welchen die Dinge auf uns machen … Die Frau gilt Baudelaire als Sklavin oder als Tier, … aber die gleichen … Huldigungen ergehen an sie, die der heiligen Jungfrau erwiesen werden … Er verflucht den ›Fortschritt‹, er verabscheut die Industrie des Jahrhunderts, … und doch genießt er die besondere Note, die diese Industrie in unser heutiges Leben getragen hat … Ich glaube, das spezifisch Baudelairesche besteht darin, immer zwei entgegengesetzte Arten der Reaktion zu vereinigen …, man könnte sagen, eine vergangene und eine gegenwärtige. Ein Meisterstück des Willens …; die letzte Neuheit auf dem Gebiete des Gefühlslebens.«1098 Diese Haltung als Großtat des Willens vorzustellen, lag im Sinne von Baudelaire. Aber ihr Revers ist ein Mangel an Überzeugung, an Einsicht, an Stetigkeit. Einem jähen, chockartigen Wechsel war Baudelaire in allen seinen Regungen ausgesetzt. Desto lockender schwebte ihm eine andere Art, in den Extremen zu leben vor. Sie formt sich in den Inkarnationen, die von vielen seiner vollkommenen Verse ausgehen; sie benennt sich in einigen von ihnen selbst.

Vois sur ces canaux

Dormir ces vaisseaux

Dont l’humeur est vagabonde;

C’est pour assouvir

Ton moindre désir

Qu’ils viennent du bout du monde. 1099

Ein wiegender Rhythmus eignet dieser berühmten Strophe; ihre Bewegung ergreift die Schiffe, welche festgemacht auf dem Kanale liegen. Zwischen den Extremen gewiegt zu werden, wie es das Vorrecht der Schiffe ist, danach sehnte sich Baudelaire. Deren Bild taucht auf, wo es um sein tiefes, verschwiegenes und paradoxes Leitbild geht: das Getragensein von, das Geborgensein in der Größe. »Diese schönen, großen Schiffe, wie sie unmerklich gewiegt … auf dem stillen Wasser liegen, diese starken Schiffe, die so sehnsüchtig und so müßig ausschauen – fragen sie uns nicht in einer stummen Sprache: wann fahren wir aus ins Glück?«1100 In den Schiffen vereint sich die Nonchalance mit der Bereitschaft zum äußersten Krafteinsatz. Das legt ihnen eine geheime Bedeutung bei. Es gibt eine besondere Konstellation, in der sich Größe und Lässigkeit auch im Menschen zusammenfinden. Sie waltet über dem Dasein von Baudelaire. Er hat sie entziffert und nannte sie ›die Moderne.‹ Wenn er sich an das Schauspiel der Schiffe auf der Reede verliert, so geschieht es, um ein Gleichnis an ihnen abzulesen. So stark, so sinnreich, so harmonisch, so gut gebaut ist der Heros wie jene Segelschiffe. Aber ihm winkt vergebens die hohe See. Denn ein Unstern steht über seinem Leben. Die Moderne erweist sich als sein Verhängnis. Der Heros ist nicht in ihr vorgesehen; sie hat keine Verwendung für diesen Typ. Sie macht ihn für immer im sichern Hafen fest; sie liefert ihn einem ewigen Nichtstun aus. In dieser seiner letzten Verkörperung tritt der Heros als Dandy auf. Stößt man auf eine dieser Erscheinungen, die dank ihrer Kraft und Gelassenheit in jeder ihrer Geberden vollendet sind, so sagt man sich, »der da vorbeigeht, ist vielleicht begütert; doch ganz gewiß steckt in diesem Passanten ein Herakles, für den keine Arbeit vorhanden ist«1101. Er wirkt als wenn er von seiner Größe getragen werde. Daher ist es verständlich, daß Baudelaire seine Flanerie zu gewissen Stunden mit der gleichen Würde bekleidet glaubte wie die Anspannung seiner Dichterkraft.

Für Baudelaire stellte der Dandy sich als ein Nachfahre großer Ahnen dar. Der Dandysmus ist ihm »der letzte Schimmer des Heroischen in Zeiten der Dekadenz«1102. Es gefällt ihm, bei Chateaubriand einen Hinweis auf indianische Dandys zu entdecken – Zeugnis der einstigen Blütezeit jener Stämme. In Wahrheit ist unmöglich zu verkennen, daß die Züge, welche im Dandy versammelt sind, eine ganz bestimmte geschichtliche Signatur tragen. Der Dandy ist eine Prägung der Engländer, die im Welthandel führend waren. In den Händen der londoner Börsenleute lag das Handelsnetz, das über den Erdball läuft; seine Maschen verspürten die mannigfachsten, häufigsten, unvermutbarsten Zuckungen. Der Kaufmann hatte auf diese zu reagieren, nicht aber seine Reaktionen zur Schau zu tragen. Den dadurch in ihm erzeugten Widerstreit übernahmen die Dandys in eigene Regie. Sie bildeten das sinnreiche Training aus, welches zu seiner Bewältigung nötig war. Sie verbanden die blitzschnelle Reaktion mit entspanntem, ja schlaffem Gebaren und Mienenspiel. Der Tick, der eine Zeitlang für vornehm galt, ist gewissermaßen die unbeholfene, subalterne Darstellung des Problems. Sehr bezeichnend dafür ist das folgende: »Das Gesicht eines eleganten Mannes muß immer … etwas Konvulsivisches und Verzerrtes haben. Man kann solche Grimasse, wenn man will, einem natürlichen Satanismus zuschreiben.«1103 So malte sich die Erscheinung des londoner Dandys im Kopfe eines pariser Boulevardiers. So spiegelte sie sich physiognomisch in Baudelaire. Seine Liebe zum Dandysmus war keine glückliche. Er besaß die Gabe nicht, zu gefallen, welche ein so wichtiges Element in der Kunst des Dandys, nicht zu gefallen, ist. Was von Natur aus an ihm befremden mußte zur Manier erhebend, geriet er so, da mit seiner wachsenden Isolierung seine Unzugänglichkeit größer wurde, in die tiefste Verlassenheit.

Baudelaire hat nicht wie Gautier Gefallen an seiner Zeit gefunden, noch sich wie Leconte de Lisle um sie betrügen können. Ihm stand der humanitäre Idealismus eines Lamartine oder Hugo nicht zu Gebote, und es war ihm nicht wie Verlaine gegeben, sich in die Devotion zu flüchten. Weil er keine Überzeugung zu eigen hatte, nahm er selbst immer neue Gestalten an. Flaneur, Apache, Dandy und Lumpensammler waren für ihn ebenso viele Rollen. Denn der moderne Heros ist nicht Held – er ist Heldendarsteller. Die heroische Moderne erweist sich als ein Trauerspiel, in dem die Heldenrolle verfügbar ist. Das hat Baudelaire selbst, versteckt wie in einer remarque, am Rande seiner »Sept vieillards« angedeutet.

Un matin, cependant que dans la triste rue

Les maisons, dont la brume allongeait la hauteur,

Simulaient les deux quais d’une rivière accrue,

Et que, décor semblable à l’âme de l’acteur,

Un brouillard sale et jaune inondait tout l’espace,

Je suivais, roidissant mes nerfs comme un héros

Et discutant avec mon âme déjà lasse,

Le faubourg secoué par les lourds tombereaux. 1104

Dekor, Akteur und Heros treten in diesen Strophen auf eine nicht mißzuverstehende Art zusammen. Die Zeitgenossen brauchten den Hinweis nicht. Courbet klagt als er ihn malt darüber, Baudelaire sehe jeden Tag anders aus. Und Champfleury sagt ihm die Gabe nach, seinen Gesichtsausdruck zu verstellen wie ein entlaufener Galeerensträfling1105. Vallès hat in seinem bösen Nachruf, der von ziemlich viel Scharfblick zeugt, Baudelaire einen cabotin genannt1106.

Hinter den Masken, die er verbrauchte, wahrte der Dichter in Baudelaire das Inkognito. So herausfordernd er im Umgang erscheinen konnte, so umsichtig verfuhr er in seinem Werk. Das Inkognito ist das Gesetz seiner Poesie. Sein Versbau ist dem Plan einer großen Stadt vergleichbar, in der man sich unauffällig bewegen kann, gedeckt durch Häuserblocks, Torfahrten oder Höfe. Auf diesem Plan sind den Worten, wie Verschworenen vor dem Ausbruch einer Revolte, ihre Plätze genau bezeichnet. Baudelaire konspiriert mit der Sprache selbst. Er berechnet ihre Effekte auf Schritt und Tritt. Daß er es immer vermieden hat, sich dem Leser gegenüber zu decouvrieren, ist gerade den Berufensten nachgegangen. Gide vermerkt eine Unstimmigkeit zwischen Bild und Sache, die sehr berechnet ist1107. Rivière hat hervorgehoben, wie Baudelaire vom entlegenen Worte ausgeht, wie er es lehrt, leise aufzutreten indem er es behutsam der Sache nähert1108. Lemaître spricht von Formen, die so geartet sind, daß sie den Ausbruch der Leidenschaft unterbinden1109, und Laforgue hebt den Baudelaireschen Vergleich hervor, der die lyrische Person gleichsam Lügen straft und als Störenfried in den Text gerät. »La nuit s’épaississait ainsi qu’une cloison« – »andere Beispiele ließen sich in Fülle finden«1110, setzt Laforgue hinzu1111.

Die Sonderung der Wörter in solche, die zum gehobenen Gebrauche geeignet schienen, und solche, die von ihm auszuschließen waren, wirkte in die gesamte poetische Produktion hinein und galt von Hause aus für die Tragödie nicht minder als für die lyrische Poesie. In den ersten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts stand diese Konvention unangefochten in Kraft. Bei der Aufführung des »Cid« von Lebrun erregte das Wort chambre ein mißfälliges Gemurmel. »Othello«, in einer Übersetzung von Alfred de Vigny, fiel wegen des Wortes mouchoir, dessen Erwähnung in der Tragödie unerträglich berührte. Victor Hugo hatte damit begonnen, in der Dichtung den Unterschied zwischen den Worten der Umgangssprache und denen einer gehobenen einzuebnen. Sainte-Beuve war in ähnlichem Sinne vorgegangen. Er erklärt im »Leben Joseph Delormes«: »Ich habe versucht …, original auf meine Weise zu sein, auf eine bescheidene, gutbürgerliche … Ich nannte die Dinge des intimen Lebens mit ihrem Namen; aber die Hütte hat mir dabei näher als das Boudoir gelegen.«1112 Baudelaire ging ebenso über das sprachliche Jakobinertum von Victor Hugo hinaus wie über die bukolischen Freiheiten von Sainte-Beuve. Seine Bilder sind original durch die Niedrigkeit der Vergleichsobjekte. Er hält Ausschau nach dem banalen Vorgang, um ihm den poetischen anzunähern. Er spricht von den »vagues terreurs de ces affreuses nuits | Qui compriment le cœur comme un papier qu’on froisse«1113. Diese Sprachgeberde, kennzeichnend für den Artisten in Baudelaire, wird wahrhaft bedeutsam erst an dem Allegoriker. Sie gibt seiner Allegorie das Beirrende, das sie von den landläufigen unterscheidet. Mit ihnen hatte zuletzt Lemercier den Parnaß des Empire bevölkert; der Tiefpunkt der klassizistischen Dichtung war so erreicht worden. Baudelaire ließ sich das nicht bekümmern. Er greift Allegorien in Fülle auf: durch die sprachliche Umwelt, in welche er sie versetzt, ändert er ihren Charakter grundsätzlich. Die »Fleurs du mal« sind das erste Buch, das Worte nicht allein prosaischer Provenienz sondern städtischer in der Lyrik verwertet hat. Dabei vermeiden sie keineswegs Prägungen, die, frei von poetischer Patina, durch ihren Stempelglanz in die Augen fallen. Sie kennen quinquet, wagon oder omnibus; sie schrecken vor bilan, réverbère, voirie nicht zurück. So ist das lyrische Vokabular beschaffen, in dem plötzlich und durch nichts vorbereitet eine Allegorie erscheint. Wenn der Sprachgeist von Baudelaire irgendwo dingfest zu machen ist, so in dieser brüsken Koinzidenz. Claudel hat sie endgültig formuliert. Baudelaire, so hat er einmal gesagt, habe die Schreibweise von Racine mit der eines Journalisten des Second Empire verbunden. Kein Wort seines Vokabulars ist von vornherein zur Allegorie bestimmt. Es empfängt diese Charge von Fall zu Fall; je nachdem, worum die Sache geht, welches Sujet an der Reihe ist, ausgespäht, zerniert und besetzt zu werden. Für den Handstreich, der bei Baudelaire Dichten heißt, zieht er Allegorien in sein Vertrauen. Sie sind die einzigen, die im Geheimnis sind. Wo la Mort oder le Souvenir, le Repentir oder le Mal sich zeigen, da sind Zentren der poetischen Strategie. Das blitzhafte Auftauchen dieser Chargen, die, an ihrer Majuskel erkennbar, sich mitten in einem Text befinden, der die banalste Vokabel nicht von sich weist, zeigt, daß Baudelaires Hand im Spiele ist. Seine Technik ist die putschistische.

Wenige Jahre nach Baudelaires Ende krönte Blanqui seine Laufbahn als Konspirateur durch ein denkwürdiges Meisterstück. Es war nach der Ermordung von Victor Noir. Blanqui wollte sich einen Überblick über seinen Truppenbestand verschaffen. Von Angesicht zu Angesicht kannte er im wesentlichen nur seine Unterführer. Wie weit alle in seiner Mannschaft ihn gekannt haben, steht dahin. Er verständigte sich mit Granger, seinem Adjutanten, der die Anordnungen für eine Revue der Blanquisten traf. Sie wird bei Geffroy so beschrieben: »Blanqui … ging bewaffnet von Hause fort, sagte seinen Schwestern Adieu und bezog seinen Posten in den Champs-Elysées. Dort sollte nach der Vereinbarung mit Granger das Defilee der Truppen stattfinden, deren geheimnisvoller General Blanqui war. Er kannte die Chefs, er sollte nun hinter ihrer jedem im Gleichschritt, in regelmäßigen Formationen deren Leute an sich vorbeiziehen sehen. Es geschah wie beschlossen war. Blanqui hielt seine Revue ab, ohne daß irgendwer etwas von dem merkwürdigen Schauspiel ahnte. In der Menge und unter den Leuten, die zuschauten wie auch er selber schaute, stand der Alte an einen Baum gelehnt und sah aufmerksam in Kolonnen seine Freunde herankommen, wie sie stumm unter einem Gemurmel sich näherten, das durch Zurufe immerfort unterbrochen wurde.«1114 – Die Kraft, die so etwas möglich machte, ist mit Baudelaires Dichtung im Wort verwahrt.

Baudelaire hat bei Gelegenheit das Bild des modernen Heros auch im Konspirateur erkennen wollen. »Keine Tragödien mehr!« schrieb er während der Februartage im »Salut public«. »Schluß mit der Geschichte des alten Rom! Stehen wir heute nicht größer als Brutus da?«1115 Größer als Brutus war freilich weniger groß. Denn als Napoleon III. zur Herrschaft kam, erkannte Baudelaire in ihm den Caesar nicht. Darin war Blanqui ihm überlegen. Aber tiefer als beider Verschiedenheit reicht, was ihnen gemeinsam gewesen ist, reicht der Trotz und die Ungeduld, reicht die Kraft der Empörung und die des Hasses – reicht auch die Ohnmacht, die ihrer beider Teil war. Baudelaire nimmt in einer berühmten Zeile leichten Herzens Abschied von einer Welt, »in der die Tat nicht die Schwester des Traumes ist«1116. Seiner war nicht so verlassen als es ihm schien. Blanquis Tat ist die Schwester von Baudelaires Traum gewesen. Beide sind ineinander verschlungen. Es sind die ineinander verschlungenen Hände auf einem Stein, unter dem Napoleon III. die Hoffnungen der Junikämpfer begraben hatte.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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