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Die Menge – kein Gegenstand ist befugter an die Literaten des neunzehnten Jahrhunderts herangetreten. Sie traf Anstalten, sich in breiten Schichten, denen Lesen geläufig geworden war, als ein Publikum zu formieren. Sie wurde Auftraggeber; sie wollte sich, wie die Stifter auf den Bildern des Mittelalters, im zeitgenössischen Roman wiederfinden. Der erfolgreichste Autor des Jahrhunderts ist diesem Verlangen aus innerer Nötigung nachgekommen. Menge hieß ihm, fast im antiken Sinn, die Menge der Klienten, des Publikums. Hugo spricht als erster die Menge in Titeln an: »Les miserables«, »Les travailleurs de la mer«. Hugo war in Frankreich der einzige, der mit dem Feuilletonroman konkurrieren konnte. Der Meister der Gattung, die für die kleinen Leute Quelle einer Offenbarung zu werden anfing, ist, wie bekannt, Eugène Sue gewesen. Er wurde 1850 mit großer Stimmenmehrheit als Vertreter der Stadt Paris in das Parlament gewählt. Kein Zufall, daß der junge Marx Anlaß fand, mit den »Mystères de Paris« ins Gericht zu gehen. Aus der amorphen Masse, der damals ein schöngeistiger Sozialismus zu schmeicheln suchte, die eherne des Proletariats herauszuschlagen, stand ihm als Aufgabe früh vor Augen. Darum präludiert die Beschreibung, die Engels dieser Masse in seinem Jugendwerk abgewinnt, wie schüchtern immer, einem der Marxschen Themen. In der »Lage der arbeitenden Klasse in England« heißt es: »So eine Stadt wie London, wo man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang des Endes zu kommen, ohne dem geringsten Zeichen zu begegnen, das auf die Nähe des platten Landes schließen ließe, ist doch ein eigen Ding. Diese kolossale Centralisation, diese Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf Einem Punkt hat die Kraft dieser dritthalb Millionen verhundertfacht … Aber die Opfer, die … das gekostet hat, entdeckt man erst später. Wenn man sich ein paar Tage lang auf dem Pflaster der Hauptstraßen herumgetrieben … hat, dann merkt man erst, daß diese Londoner das beste Theil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Civilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt, daß hundert Kräfte, die in ihnen schlummerten, untäthig blieben und unterdrückt wurden … Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da an einander vorbeidrängen, sind sie nicht Alle Menschen, mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? … Und doch rennen sie an einander vorüber, als ob sie gar Nichts gemein, gar Nichts mit einander zu thun hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, daß Jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden an einander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt es Keinem ein, die Andern auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolirung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen tritt um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr dieser Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.«1146

Diese Beschreibung ist merklich von denen verschieden, die man bei den französischen Kleinmeistern finden kann, einem Gozlan, Delvau oder Lurine. Es fehlt ihr die Gewandtheit und Nonchalance, mit der der Flaneur sich durch die Menge bewegt und die der Feuilletonist ihm beflissen ablernt. Für Engels hat die Menge etwas Bestürzendes. Sie löst eine moralische Reaktion bei ihm aus. Eine ästhetische spielt daneben mit; ihn berührt das Tempo, in dem die Passanten aneinander vorüberschießen, nicht angenehm. Es macht den Reiz seiner Schilderung aus, wie sich der unbestechliche kritische Habitus mit dem altväterischen Tenor in ihr verschränkt. Der Verfasser kommt aus einem noch provinziellen Deutschland; vielleicht ist die Versuchung, in einem Menschenstrom sich zu verlieren, an ihn nie herangetreten. Als Hegel nicht lange vor seinem Tod zum ersten Mal nach Paris kam, schrieb er an seine Frau: »Gehe ich durch die Straßen, sehen die Menschen grade aus wie in Berlin, – alles ebenso gekleidet, ungefähr solche Gesichter, – derselbe Anblik, aber in einer volkreichen Masse.«1147 In dieser Masse sich zu bewegen, war dem Pariser etwas Natürliches. Wie groß auch immer der Abstand sein mochte, den er für seinen Teil von ihr zu nehmen beanspruchte, er blieb von ihr tingiert, er konnte sie nicht wie ein Engels von außen ansehen. Was Baudelaire angeht, so ist die Masse so wenig etwas ihm Äußerliches, daß sich in seinem Werk verfolgen läßt, wie er, von ihr bestrickt und von ihr angezogen, sich ihrer wehrt.

Die Masse ist Baudelaire derart innerlich, daß man ihre Schilderung bei ihm vergebens sucht. So trifft man seine wichtigsten Gegenstände kaum jemals in der Gestalt von Beschreibungen. Es ist ihm, wie Desjardins sinnreich sagt, »mehr darum zu tun, das Bild dem Gedächtnis einzusenken als es zu schmücken und auszumalen«1148. Man wird sich sowohl in den »Fleurs du mal« wie im »Spleen de Paris« umsonst nach einem Gegenstück zu den Gemälden der Stadt umsehen, in denen Victor Hugo Meister war. Baudelaire schildert weder die Einwohnerschaft noch die Stadt. Dieser Verzicht hat ihn in den Stand gesetzt, die eine in der Gestalt der anderen heraufzurufen. Seine Menge ist immer die der Großstadt; sein Paris immer ein übervölkertes. Das ist es, was ihn Barbier sehr überlegen macht, dem, weil sein Verfahren die Schilderung ist, die Massen und die Stadt auseinanderfallen1149. In den »Tableaux parisiens« ist fast überall die heimliche Gegenwart einer Masse nachweisbar. Wenn Baudelaire die Morgendämmerung zum Thema macht, so ist in den menschenleeren Straßen etwas von dem »Schweigen eines Gewimmels«, das Hugo aus dem nächtlichen Paris herausspürt. Nicht so bald läßt Baudelaire den Blick auf den Tafeln der Anatomieatlanten verweilen, die auf den staubigen Seinequais zum Verkauf ausliegen, so hat auf diesen Blättern die Masse der Abgeschiedenen unvermerkt die Stelle eingenommen, an der vereinzelte Gerippe zu sehen waren. Eine kompakte Masse bewegt sich in den Figuren der »Danse macabre« vorwärts. Mit dem Schritt, der das Tempo nicht halten kann, mit Gedanken, die von der Gegenwart nichts mehr wissen, aus der großen Masse herauszufallen, macht das Heldentum der verhutzelten Frauen aus, denen der Zyklus »Les petites vieilles« auf ihren Wegen folgt. Die Masse war der bewegte Schleier; durch ihn hindurch sah Baudelaire Paris1150. Ihre Gegenwart bestimmt eines der berühmtesten Stücke der »Fleurs du mal«.

Keine Wendung, kein Wort macht in dem Sonett »A une passante« die Menge namhaft. Und doch beruht der Vorgang allein auf ihr, wie die Fahrt des Segelschiffs auf dem Wind beruht.

La rue assourdissante autour de moi hurlait.

Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,

Une femme passa, d’une main fastueuse

Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;

Agile et noble, avec sa jambe de statue.

Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,

Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,

La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

Un éclair … puis la nuit! – Fugitive beauté

Dont le regard m’a fait soudainement renaître,

Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!

Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,

O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais! 1151

Im Witwenschleier, schleierhaft durch ihr stummes Dahingetragenwerden im Gewühl, kreuzt eine Unbekannte den Blick des Dichters. Was das Sonett zu verstehen gibt, ist, in einem Satz festgehalten: die Erscheinung, die den Großstädter fasziniert – weit entfernt, an der Menge nur ihren Widerpart, nur ein ihr feindliches Element zu haben –, wird ihm durch die Menge erst zugetragen. Die Entzückung des Großstädters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick. Es ist ein Abschied für ewig, der im Gedicht mit dem Augenblick der Berückung zusammenfällt. So stellt das Sonett die Figur des Chocks, ja die Figur einer Katastrophe. Sie hat aber mit dem so Ergriffenen das Wesen seines Gefühls mitbetroffen. Was den Körper im Krampf zusammenzieht – crispé comme un extravagant, heißt es – das ist nicht die Beseligung dessen, von dem der Eros in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von der sexuellen Betroffenheit, wie sie einen Vereinsamten überkommen kann. Daß diese Verse »nur in einer Großstadt entstehen konnten«1152, wie Thibaudet gemeint hat, will nicht viel sagen. Sie lassen die Stigmata zum Vorschein kommen, die das Dasein in einer Großstadt der Liebe beibringt. Nicht anders hat Proust das Sonett gelesen und darum das späte Nachbild der Frau in Trauer, das ihm eines Tages in Albertine erschienen ist, mit der beziehungsvollen Beschriftung la Parisienne versehen. »Als Albertine wieder in mein Zimmer trat, hatte sie ein schwarzes Satinkleid an. Es machte sie blaß, und sie ähnelte so dem Typ der feurigen und doch bleichen Pariserin, der Frau, die, frischer Luft entwöhnt, durch ihre Lebensweise inmitten von Massen und vielleicht auch durch den Einfluß des Lasters angegriffen, an einem bestimmten Blick zu erkennen ist, welcher bei Wangen, denen kein Rot aufgelegt wurde, unstet wirkt.«1153 So blickt, noch bei Proust, der Gegenstand einer Liebe, wie nur der Großstädter sie erfährt, wie sie von Baudelaire dem Gedicht erobert wurde und von der man nicht selten wird sagen dürfen, die Erfüllung sei ihr minder versagt als erspart geblieben1154.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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