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»Matière et mémoire« bestimmt das Wesen der Erfahrung in der durée derart, daß der Leser sich sagen muß: einzig der Dichter wird das adäquate Subjekt einer solchen Erfahrung sein. Ein Dichter ist es denn auch gewesen, der auf Bergsons Theorie der Erfahrung die Probe machte. Man kann Prousts Werk »A la recherche du temps perdu« als den Versuch ansehen, die Erfahrung, wie Bergson sie sich denkt, unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf synthetischem Wege herzustellen. Denn mit ihrem Zustandekommen auf natürlichem Wege wird man weniger und weniger rechnen können. Proust entzieht sich übrigens der Debatte dieser Frage in seinem Werke nicht. Er bringt sogar ein neues Moment ins Spiel, das eine immanente Kritik an Bergson in sich schließt. Dieser versäumt nicht, den Antagonismus zu unterstreichen, der zwischen der vita activa und der besonderen vita contemplativa obwaltet, die sich aus dem Gedächtnis heraus erschließt. Es läßt sich aber bei Bergson so an, als ob die Hinwendung auf die schauende Vergegenwärtigung des Lebensstromes eine Sache der freien Entschließung sei. Proust meldet seine abweichende Überzeugung von vorneherein terminologisch an. Das reine Gedächtnis – die mémoire pure – der Bergsonschen Theorie wird bei ihm zur mémoire involontaire – einem Gedächtnis, das unwillkürlich ist. Unverzüglich konfrontiert Proust dieses unwillkürliche Gedächtnis mit dem willkürlichen, das sich in der Botmäßigkeit der Intelligenz befindet. Den ersten Seiten des großen Werks obliegt es, dieses Verhältnis ins Licht zu stellen. In der Betrachtung, die den Terminus einführt, spricht Proust davon, wie ärmlich sich seiner Erinnerung durch viele Jahre die Stadt Combray dargeboten habe, in der ihm doch ein Teil der Kindheit dahingegangen sei. Proust sei, ehe der Geschmack der madeleine (eines Gebäcks), auf den er dann oft zurückkommt, ihn eines Nachmittags in die alten Zeiten zurückbefördert habe, auf das beschränkt gewesen, was ein Gedächtnis ihm in Bereitschaft gehalten habe, das dem Appell der Aufmerksamkeit gefügig sei. Das sei die memoire volontaire, die willkürliche Erinnerung, und von ihr gilt, daß die Informationen, welche sie über das Verflossene erteilt, nichts von ihm aufbehalten. »So steht es mit unserer Vergangenheit. Umsonst, daß wir sie willentlich zu beschwören suchen; alle Bemühungen unserer Intelligenz sind dazu nichts nutze.«1118 Darum steht Proust nicht an, zusammenfassend zu erklären, das Verflossene befinde sich »außerhalb des Bereichs der Intelligenz und ihres Wirkungsfeldes in irgendeinem realen Gegenstand … In welchem wissen wir übrigens nicht. Und es ist eine Sache des Zufalls, ob wir auf ihn stoßen, ehe wir sterben, oder ob wir ihm nie begegnen.«1119

Es ist nach Proust dem Zufall anheimgegeben, ob der einzelne von sich selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung bemächtigen kann. In dieser Sache vom Zufall abzuhängen, hat keineswegs etwas Selbstverständliches. Diesen ausweglos privaten Charakter haben die inneren Anliegen des Menschen nicht von Natur. Sie erhalten ihn erst, nachdem sich für die äußeren die Chance vermindert hat, seiner Erfahrung assimiliert zu werden. Die Zeitung stellt eines von vielen Indizien einer solchen Verminderung dar. Hätte die Presse es darauf abgesehen, daß der Leser sich ihre Informationen als einen Teil seiner Erfahrung zu eigen macht, so würde sie ihren Zweck nicht erreichen. Aber ihre Absicht ist die umgekehrte und wird erreicht. Sie besteht darin, die Ereignisse gegen den Bereich abzudichten, in dem sie die Erfahrung des Lesers betreffen könnten. Die Grundsätze journalistischer Information (Neuigkeit, Kürze, Verständlichkeit und vor allem Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Nachrichten untereinander) tragen zu diesem Erfolge genauso bei wie der Umbruch und wie die Sprachgebarung. (Karl Kraus wurde nicht müde nachzuweisen, wie sehr der sprachliche Habitus der Journale die Vorstellungskraft ihrer Leser lähmt.) Die Abdichtung der Information gegen die Erfahrung hängt weiter daran, daß die erstere nicht in die ›Tradition‹ eingeht. Die Zeitungen erscheinen in großen Auflagen. Kein Leser verfügt so leicht über etwas, was sich der andere ›von ihm erzählen‹ ließe. – Historisch besteht eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Formen der Mitteilung. In der Ablösung der älteren Relation durch die Information, der Information durch die Sensation spiegelt sich die zunehmende Verkümmerung der Erfahrung wider. Alle diese Formen heben sich ihrerseits von der Erzählung ab; sie ist eine der ältesten Formen der Mitteilung. Sie legt es nicht darauf an, das pure An-sich des Geschehenen zu übermitteln (wie die Information das tut); sie senkt es dem Leben des Berichtenden ein, um es als Erfahrung den Hörern mitzugeben. So haftet an ihr die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale.

Prousts achtbändiges Werk gibt einen Begriff davon, welcher Anstalten es bedurfte, um der Gegenwart die Figur des Erzählers zu restaurieren. Proust unternahm das mit großartiger Konsequenz. Er geriet dabei von Anfang an an eine elementare Aufgabe: von der eigenen Kindheit Bericht zu geben. Er ermaß ihre ganze Schwierigkeit, indem er es als Sache des Zufalls darstellt, ob sie überhaupt lösbar sei. Im Zusammenhange dieser Betrachtungen prägt er den Begriff der memoire involontaire. Dieser trägt die Spuren der Situation, aus der heraus er gebildet wurde. Er gehört zum Inventar der vielfältig isolierten Privatperson. Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion. Die Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen, deren bei Proust wohl nirgends gedacht sein dürfte, führten die Verschmelzung zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses immer von neuem durch. Sie provozierten das Eingedenken zu bestimmten Zeiten und blieben Handhaben desselben auf Lebenszeit. Willkürliches und unwillkürliches Eingedenken verlieren so ihre gegenseitige Ausschließlichkeit.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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