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VIII

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Angst, Widerwillen und Grauen weckte die Großstadtmenge in denen, die sie als die ersten ins Auge faßten. Bei Poe hat sie etwas Barbarisches. Disziplin bändigt sie nur mit genauer Not. Später ist James Ensor nicht müde geworden, Disziplin und Wildheit in ihr zu konfrontieren. Er baut mit Vorliebe Militärverbände in seine karnevalesken Banden ein. Beide vertragen sich miteinander vorbildlich. Nämlich als Vorbild der totalitären Staaten, in denen die Polizei mit den Plünderern geht. Valéry, der für den Symptomkomplex ›Zivilisation‹ einen scharfen Blick hat, kennzeichnet einen der einschlägigen Tatbestände. »Der Bewohner der großen städtischen Zentren«, schreibt er, »verfällt wieder in den Zustand der Wildheit, will sagen der Vereinzelung. Das Gefühl, auf die anderen angewiesen zu sein, vordem ständig durch das Bedürfnis wachgehalten, stumpft sich im reibungslosen Ablauf des sozialen Mechanismus allmählich ab. Jede Vervollkommnung dieses Mechanismus setzt gewisse Verhaltungsweisen, gewisse Gefühlsregungen … außer Kraft.«1169 Der Komfort isoliert. Er rückt, auf der anderen Seite, seine Nutznießer dem Mechanismus näher. Mit der Erfindung des Streichholzes um die Jahrhundertmitte tritt eine Reihe von Neuerungen auf den Plan, die das eine gemeinsam haben, eine vielgliedrige Ablaufsreihe mit einem abrupten Handgriff auszulösen. Die Entwicklung geht in vielen Bereichen vor sich; sie wird unter anderm am Telefon anschaulich, bei dem an die Stelle der stetigen Bewegung, mit der die Kurbel der älteren Apparate bedient sein wollte, das Abheben eines Hörers getreten ist. Unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens usf. wurde das ›Knipsen‹ des Photographen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock. Haptischen Erfahrungen dieser Art traten optische an die Seite, wie der Inseratenteil einer Zeitung sie mit sich bringt, aber auch der Verkehr in der großen Stadt. Durch ihn sich zu bewegen, bedingt für den einzelnen eine Folge von Chocks und von Kollisionen. An den gefährlichen Kreuzungspunkten durchzucken ihn, gleich Stößen einer Batterie, Innervationen in rascher Folge. Baudelaire spricht von dem Mann, der in die Menge eintaucht wie in ein Reservoir elektrischer Energie. Er nennt ihn bald darauf, die Erfahrung des Chocks umschreibend, »ein Kaleidoskop, das mit Bewußtsein versehen ist«1170. Wenn Poes Passanten noch scheinbar grundlos Blicke nach allen Seiten werfen, so müssen die heutigen das tun, um sich über die Verkehrssignale zu orientieren. So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde.

Nicht umsonst betont Marx, wie sehr beim Handwerk der Zusammenhang der Arbeitsmomente ein flüssiger ist. Dieser Zusammenhang tritt am Fließband dem Fabrikarbeiter verselbständigt als ein dinglicher gegenüber. Unabhängig vom Willen des Arbeiters gelangt das Werkstück in dessen Aktionsradius. Und es entzieht sich ihm ebenso eigenwillig. »Aller kapitalistischen Produktion …«, schreibt Marx, »ist es gemeinsam, daß nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit.«1171 Im Umgang mit der Maschine lernen die Arbeiter, ihre »eigne Bewegung der gleichförmig stetigen Bewegung eines Automaten«1172 zu koordinieren. Mit diesen Worten fällt ein eigenes Licht auf die Gleichförmigkeiten absurder Art, mit denen Poe die Menge behaften will. Gleichförmigkeiten der Kleidung und des Benehmens, nicht zuletzt Gleichförmigkeiten des Mienenspiels. Das Lächeln gibt zu denken. Es ist vermutlich das heute im keep smiling geläufige und figuriert dort als mimischer Stoßdämpfer. – »Alle Arbeit an der Maschine erfordert«, heißt es im oben berührten Zusammenhang, »frühzeitige Dressur des Arbeiters.«1173 Von Übung muß diese Dressur unterschieden werden. Übung, im Handwerk allein bestimmend, hatte in der Manufaktur noch Raum. Auf deren Grundlage »findet jeder besondere Produktionszweig in der Erfahrung die ihm entsprechende technische Gestalt; er vervollkommnet sie langsam.« Er kristallisiert sie freilich rasch, »sobald ein gewisser Reifegrad erreicht ist«1174. Aber dieselbe Manufaktur erzeugt andrerseits »in jedem Handwerk, das sie ergreift, eine Klasse sogenannter ungelernter Arbeiter, die der Handwerksbetrieb streng ausschloß. Wenn sie die durchaus vereinseitigte Spezialität auf Kosten des ganzen Arbeitsvermögens zur Virtuosität entwickelt, beginnt sie auch schon den Mangel aller Entwicklung zu einer Spezialität zu machen. Neben die Rangordnung tritt die einfache Scheidung der Arbeiter in gelernte und ungelernte.«1175 Der ungelernte Arbeiter ist der durch die Dressur der Maschine am tiefsten Entwürdigte. Seine Arbeit ist gegen Erfahrung abgedichtet. An ihr hat die Übung ihr Recht verloren1176. Was der Lunapark in seinen Wackeltöpfen und verwandten Amüsements zustande bringt, ist nichts als eine Kostprobe der Dressur, der der ungelernte Arbeiter in der Fabrik unterworfen wird (eine Kostprobe, die ihm zeitweise für das gesamte Programm zu stehen hatte; denn die Kunst des Exzentriks, in der sich der kleine Mann in den Lunaparks konnte schulen lassen, stand zugleich mit der Arbeitslosigkeit hoch im Flor). Poes Text macht den wahren Zusammenhang zwischen Wildheit und Disziplin einsichtig. Seine Passanten benehmen sich so, als wenn sie, angepaßt an die Automaten, nur noch automatisch sich äußern könnten. Ihr Verhalten ist eine Reaktion auf Chocks. »Wenn man sie anstieß, so grüßten sie diejenigen tief, von denen sie ihren Stoß bekommen hatten.«

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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