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IV

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Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses. Vielleicht kann man die eigentümliche Leistung der Chockabwehr zuletzt darin sehen: dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewußtsein anzuweisen. Das wäre eine Spitzenleistung der Reflexion. Sie würde den Vorfall zu einem Erlebnis machen. Fällt sie aus, so würde sich grundsätzlich der freudige oder (meist) unlustbetonte Schreck einstellen, der nach Freud den Ausfall der Chockabwehr sanktioniert. Diesen Befund hat Baudelaire in einem grellen Bild festgehalten. Er spricht von einem Duell, in dem der Künstler, ehe er besiegt wird, vor Schrecken aufschreit1133. Dieses Duell ist der Vorgang des Schaffens selbst. Baudelaire hat also die Chockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit hineingestellt. Diesem Selbstzeugnis kommt große Bedeutung zu. Äußerungen mehrerer Zeitgenossen stützen es. Dem Schrecken preisgegeben, ist es Baudelaire nicht fremd, selber Schrecken hervorzurufen. Vallès überliefert sein exzentrisches Mienenspiel1134; Pontmartin stellt nach einem Porträt von Nargeot Baudelaires konfiszierte Visage fest; Cladel verweilt bei dem schneidenden Tonfall, der ihm im Gespräch zur Verfügung stand; Gautier spricht von den ›Sperrungen‹, wie Baudelaire sie beim Deklamieren liebte1135; Nadar beschreibt seinen abrupten Schritt1136.

Die Psychiatrie kennt traumatophile Typen. Baudelaire hat es zu seiner Sache gemacht, die Chocks mit seiner geistigen und physischen Person zu parieren, woher sie kommen mochten. Das Gefecht stellt das Bild dieser Chockabwehr. Wenn er seinen Freund Constantin Guys beschreibt, so sucht er ihn um die Zeit, da Paris im Schlaf liegt, auf, »wie er dasteht, über den Tisch gebeugt, mit der gleichen Schärfe das Blatt visierend wie am Tag die Dinge um ihn herum; wie er mit seinem Stift, seiner Feder, dem Pinsel ficht; Wasser aus seinem Glas zur Decke spritzen und die Feder an seinem Hemd sich versuchen läßt; wie er geschwind und heftig hinter der Arbeit her ist, als fürchte er, die Bilder entwischten ihm; so ist er streitbar, wenn auch allein, und pariert seine eigenen Stöße«1137. In solch phantastischem Gefecht begriffen, hat Baudelaire sich selbst in der Anfangsstrophe des Gedichts »Le soleil« porträtiert; und das ist wohl die einzige Stelle der »Fleurs du mal«, die ihn bei der poetischen Arbeit zeigt.

Le long du vieux faubourg, où pendent aux masures

Les persiennes, abri des secrètes luxures,

Quand le soleil cruel frappe à traits redoublés

Sur la ville et les champs, sur les toits et les blés,

Je vais m’exercer seul à ma fantasque escrime,

Flairant dans tous les coins les hasards de la rime,

Trébuchant sur les mots comme sur les pavés,

Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés. 1138

Die Erfahrung des Chocks gehört zu denen, die für Baudelaires Faktur bestimmend geworden sind. Gide handelt von den Intermittenzen zwischen Bild und Idee, Wort und Sache, in denen die poetische Erregung bei Baudelaire ihren eigentlichen Sitz vorfinde1139. Rivière hat auf die unterirdischen Stöße hingewiesen, von denen der Baudelairesche Vers erschüttert wird. Es ist dann, als stürze ein Wort in sich zusammen. Rivière hat solche hinfälligen Worte aufgezeigt1140:

Et qui sait si les fleurs nouvelles que je rêve

Trouveront dans ce sol lavé comme une grève

Le mystique aliment qui ferait leur vigueur?1141

Oder auch

Cybèle, qui les aime, augmente ses verdures.1142

Hierher gehört weiter der berühmte Gedichtanfang

La servante au grand cœur dont vous étiez jalouse.1143

Diesen verborgenen Gesetzlichkeiten auch außerhalb des Verses ihr Recht werden zu lassen, war die Absicht, der Baudelaire im »Spleen de Paris« – seinen Gedichten in Prosa – nachgegangen ist. In seiner Widmung der Sammlung an den Chefredakteur der »Presse«, Arsène Houssaye, heißt es: »Wer unter uns hätte nicht schon in den Tagen des Ehrgeizes das Wunderwerk einer poetischen Prosa erträumt? sie müßte musikalisch ohne Rhythmus und Reim sein, sie müßte geschmeidig und spröde genug sein, um sich den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Chocks des Bewußtseins anzupassen. Dieses Ideal, das zur fixen Idee werden kann, wird vor allem von dem Besitz ergreifen, der in den Riesenstädten mit dem Geflecht ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehungen zu Hause ist.«1144

Die Stelle legt eine doppelte Konstatierung nahe. Sie unterrichtet einmal über den innigen Zusammenhang, der bei Baudelaire zwischen der Figur des Chocks und der Berührung mit den großstädtischen Massen besteht. Sie unterrichtet weiter darüber, was unter diesen Massen eigentlich zu denken ist. Von keiner Klasse, von keinem irgendwie strukturierten Kollektivum kann die Rede sein. Es handelt sich um nichts anderes als um die amorphe Menge der Passanten, um Straßenpublikum1145. Diese Menge, deren Dasein Baudelaire nie vergißt, hat ihm zu keinem seiner Werke Modell gestanden. Sie ist aber seinem Schaffen als verborgene Figur eingeprägt, wie sie auch die verborgene Figur des oben zitierten Fragments darstellt. Das Bild des Fechters läßt sich aus ihr entziffern: die Stöße, welche er austeilt, sind bestimmt, ihm durch die Menge den Weg zu bahnen. Freilich sind die faubourgs, durch die der Dichter des »Soleil« sich hindurchschlägt, menschenleer. Aber die geheime Konstellation (in ihr wird die Schönheit der Strophe bis auf den Grund durchsichtig) ist wohl so zu fassen: es ist die Geistermenge der Worte, der Fragmente, der Versanfänge, mit denen der Dichter in den verlassenen Straßenzügen den Kampf um die poetische Beute ausficht.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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