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II Der Flaneur

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Der Schriftsteller, der den Markt einmal betreten hatte, sah sich dort um wie in einem Panorama. Eine eigene Literaturgattung hat seine ersten Orientierungsversuche aufbehalten. Es ist eine panoramatische Literatur. »Le livre des Cent-et-un«, »Les Français peints par eux-mêmes«, »Le diable à Paris«, »La grande ville« genossen nicht zufällig um die gleiche Zeit wie die Panoramen die Gunst der Hauptstadt. Diese Bücher bestehen aus einzelnen Skizzen, die mit ihrer anekdotischen Einkleidung den plastischen Vordergrund jener Panoramen und mit ihrem informatorischen Fundus deren weitgespannten Hintergrund gleichsam nachbilden. Zahlreiche Autoren leisteten Beisteuer zu ihnen. So sind diese Sammelwerke ein Niederschlag der gleichen belletristischen Kollektivarbeit, der Girardin im Feuilleton eine Stätte eröffnet hatte. Sie waren das Salongewand eines Schrifttums, das von Hause aus dem Straßenverschleiß bestimmt war. In diesem Schrifttum nahmen die unscheinbaren Hefte in Taschenformat, die sich ›physiologies‹ nannten, einen bevorzugten Platz ein. Sie gingen Typen nach, wie sie dem, der den Markt in Augenschein nimmt, begegnen. Vom fliegenden Straßenhändler der Boulevards bis zu den Elegants im Foyer der Oper gab es keine Figur des pariser Lebens, die der physiologue nicht umrissen hätte. Der große Augenblick der Gattung fällt in den Anfang der vierziger Jahre. Sie ist die hohe Schule des Feuilletons; Baudelaires Generation hat sie durchgemacht. Daß sie ihm selber wenig zu sagen hatte, zeigt, wie früh er den eigenen Weg ging.

Man zählte 1841 sechsundsiebenzig neue Physiologien942. Von diesem Jahre an sank die Gattung ab; mit dem Bürgerkönigtum war auch sie verschwunden. Sie war eine von Grund auf kleinbürgerliche. Monnier, der Meister des Genres, war ein mit ungewöhnlicher Fähigkeit zur Selbstbeobachtung ausgestatteter Spießer. Nirgends durchbrachen diese Physiologien den beschränktesten Horizont. Nachdem sie sich den Typen gewidmet hatten, kam die Reihe an die Physiologie der Stadt. Es erschienen »Paris la nuit«, »Paris à table«, »Paris dans l’eau«, »Paris à cheval«, »Paris pittoresque«, »Paris marié«. Als auch diese Ader erschöpft war, wagte man sich an eine ›Physiologie‹ der Völker. Man vergaß nicht die ›Physiologie‹ der Tiere, die sich seit jeher als harmloser Vorwurf empfohlen haben. Auf die Harmlosigkeit kam es an. In seinen Studien zur Geschichte der Karikatur macht Eduard Fuchs darauf aufmerksam, daß im Anfang der Physiologien die sogenannten Septembergesetze stehen – das sind die verschärften Zensurmaßnahmen von 1836. Durch sie wurde eine Mannschaft von fähigen und in der Satire geschulten Künstlern mit einem Schlage von der Politik abgedrängt. Wenn das in der Graphik gelang, so mußte das Regierungsmanöver erst recht in der Literatur glücken. Denn in ihr gab es keine politische Energie, die sich mit der eines Daumier hätte vergleichen lassen. Die Reaktion ist also die Voraussetzung, »aus der sich die kolossale Revue des bürgerlichen Lebens erklärt, die … in Frankreich einsetzte … Alles defilierte vorüber … Freudentage und Trauertage, Arbeit und Erholung, Eheliche Sitten und Junggesellengebräuche, Familie, Haus, Kind, Schule, Gesellschaft, Theater, Typen, Berufe.«943

Die Gemächlichkeit dieser Schildereien paßt zu dem Habitus des Flaneurs, der auf dem Asphalt botanisieren geht. Aber schon damals konnte man nicht überall in der Stadt umherschlendern. Breite Bürgersteige waren vor Haussmann selten; die schmalen boten wenig Schutz vor den Fuhrwerken. Die Flanerie hätte sich zu ihrer Bedeutung schwerlich ohne die Passagen entwickeln können. »Die Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus«, sagt ein illustrierter pariser Führer von 1852, »sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist.« In dieser Welt ist der Flaneur zuhause; er verhilft »dem Lieblingsaufenthalte der Spaziergänger und der Raucher, dem Tummelplatze aller möglichen kleinen Metiers«944 zu seinem Chronisten und seinem Philosophen. Sich selber aber verhilft er dort zu dem unfehlbaren Heilmittel gegen die Langeweile, wie sie unter dem Basiliskenblick einer saturierten Reaktion leicht gedeiht. »Wer imstande wäre«, so lautet ein durch Baudelaire überliefertes Wort von Guys, »sich in einer Menschenmenge zu langweilen, ist ein Dummkopf. Ein Dummkopf, wiederhole ich, und ein verächtlicher.«945 Die Passagen sind ein Mittelding zwischen Straße und Interieur. Will man von einem Kunstgriff der Physiologien reden, so ist es der bewährte des Feuilletons: nämlich den Boulevard zum Interieur zu machen. Die Straße wird zur Wohnung für den Flaneur, der zwischen Häuserfronten so wie der Bürger in seinen vier Wänden zuhause ist. Ihm sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde; Mauern sind das Schreibpult, gegen das er seinen Notizblock stemmt; Zeitungskioske sind seine Bibliotheken und die Caféterrassen Erker, von denen aus er nach getaner Arbeit auf sein Hauswesen heruntersieht. Daß das Leben in seiner ganzen Vielfalt, in seinem unerschöpflichen Reichtum an Variationen erst zwischen den grauen Pflastersteinen und vor dem grauen Hintergrunde der Despotie gedeiht – das war der politische Hintergedanke des Schrifttums, dem die Physiologien angehörten.

Dieses Schrifttum war auch gesellschaftlich nicht geheuer. Der langen Reihe von kauzigen oder simplen, gewinnenden oder strengen Charakterköpfen, die die Physiologien dem Leser vorstellen, ist eines gemeinsam: sie sind harmlos, von vollendeter Bonhomie. Eine solche Ansicht vom Nebenmenschen lag zu weit von der Erfahrung ab, um sich nicht von ungewöhnlich triftigen Ursachen herzuschreiben. Sie kam aus einer Beunruhigung von besonderer Art. Die Leute hatten mit einem neuen, ziemlich befremdenden Umstand sich abzufinden, der den Großstädten eigentümlich ist. In einer glücklichen Formulierung hat Simmel festgehalten, was hier in Frage steht. »Wer sieht, ohne zu hören, ist viel … beunruhigter als wer hört, ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die Soziologie der Großstadt Charakteristisches. Die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in den Großstädten … zeichnen sich durch ein ausgesprochenes Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs aus. Die Hauptursachen davon sind die öffentlichen Verkehrsmittel. Vor der Entwicklung der Omnibusse, der Eisenbahnen, der Tramways im neunzehnten Jahrhundert waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten.«946 Der neue Zustand war, wie Simmel erkennt, kein anheimelnder. Schon Bulwer instrumentierte seine Schilderung der großstädtischen Menschen im »Eugen Aram« mit dem Hinweis auf die Goethische Bemerkung, jeder Mensch, der beste wie der elendeste, trage ein Geheimnis mit sich herum, das ihn allen andern verhaßt machen würde, sollte es bekannt werden947. Ähnliche beunruhigende Vorstellungen als geringfügig beiseite zu schieben, waren die Physiologien gerade gut. Sie stellten, wenn man so sagen darf, die Scheuklappen des ›bornierten Stadttiers‹948 vor, von dem bei Marx einmal die Rede ist. Wie gründlich sie, wo es nottat, den Blick beschränkten, zeigt eine Schilderung des Proletariers in Foucauds »Physiologie de l’industrie française«: »Ruhiger Genuß ist für den Arbeiter geradezu erschöpfend. Sei das Haus, das er bewohnt, unter wolkenlosem Himmel noch so begrünt, von Blumen durchduftet und vom Gezwitscher der Vogel belebt – ist er müßig, so bleibt er den Reizen der Einsamkeit unzugänglich. Trifft aber zufällig ein scharfer Ton oder Pfiff aus einer entfernten Fabrik sein Ohr, hört er auch nur das einförmige Geklapper, das vom Mühlwerk einer Manufaktur herrührt, gleich heitert sich seine Stirne auf … Er spürt nicht mehr den erlesenen Blumenduft. Der Rauch aus dem hohen Fabrikschornstein, die dröhnenden Schläge vom Amboß her lassen ihn vor Freude erzittern. Er erinnert sich der seligen Tage seiner durch den Geist des Erfinders gelenkten Arbeit.«949 Der Unternehmer, der diese Beschreibung las, ging vielleicht gelassener als sonst zur Ruhe.

Das Nächstliegende war in der Tat, den Leuten voneinander ein freundliches Bild zu geben. Damit webten die Physiologien auf ihre Art an der Phantasmagorie des pariser Lebens. Aber ihr Verfahren konnte nicht sehr weit führen. Die Leute kannten einander als Schuldner und Gläubiger, als Verkäufer und Kunde, als Arbeitgeber und Angestellter – vor allem kannten sie einander als Konkurrenten. Ihnen von ihren Partnern die Vorstellung eines harmlosen Originals zu erwecken, erschien auf die Dauer nicht aussichtsreich. Daher bildete sich in diesem Schrifttum früh eine andere Ansicht der Sache aus, die sehr viel tonischer wirken konnte. Sie geht auf die Physiognomiker des achtzehnten Jahrhunderts zurück. Mit deren solideren Bemühungen hat sie allerdings wenig zu tun. Bei Lavater oder bei Gall war neben der Spekulation und Schwärmerei echte Empirie mit im Spiel. Die Physiologien zehrten von deren Kredit, ohne aus Eigenem dazuzugeben. Sie versicherten, jedermann sei, von Sachkenntnis ungetrübt, imstande, Beruf, Charakter, Herkunft und Lebensweise der Passanten abzulesen. Bei ihnen erscheint diese Gabe als eine Fähigkeit, die die Feen dem Großstädter in die Wiege legen. Mit solchen Gewißheiten war vor allen andern Balzac in seinem Element. Seine Vorliebe für uneingeschränkte Aussagen fuhr gut mit ihnen. »Das Genie«, schreibt er beispielsweise, »ist im Menschen so sichtbar, daß der Ungebildetste, wenn er sich in Paris ergeht und dabei einen großen Künstler kreuzt, sofort wissen wird, woran er ist.«950 Delvau, Baudelaires Freund und der interessanteste unter den kleinen Meistern des Feuilletons, will das Publikum von Paris nach seinen verschiedenen Schichten so leicht auseinanderhalten wie ein Geologe die Schichtungen im Gestein. Ließ sich dergleichen tun, dann war allerdings das Leben in der Großstadt nicht entfernt so beunruhigend, wie es den Menschen wahrscheinlich vorkam. Dann war es nur eine Floskel, wenn Baudelaire fragt, »was sind die Gefahren des Waldes und der Prärie mit den täglichen Chocks und Konflikten in der zivilisierten Welt verglichen? Ob der Mensch auf dem Boulevard sein Opfer unterfaßt oder in unbekannten Wäldern seine Beute durchbohrt – bleibt er nicht hier und dort das vollkommenste aller Raubtiere?«951

Baudelaire gebraucht für dieses Opfer den Audruck ›dupe‹; das Wort bezeichnet den Betrogenen, Genasführten; zu ihm steht der Menschenkenner im Gegensatz. Je weniger geheuer die Großstadt wird, desto mehr Menschenkenntnis, so dachte man, gehört dazu, in ihr zu operieren. In Wahrheit führt der verschärfte Konkurrenzkampf den Einzelnen vor allem dahin, seine Interessen gebieterisch anzumelden. Deren präzise Kenntnis wird, wenn es gilt, das Verhalten eines Menschen abzuschätzen, oft viel dienlicher als die seines Wesens sein. Die Gabe, deren der Flaneur sich so gerne rühmt, ist darum eher eines der Idole, die schon Baco auf dem Markte ansiedelt. Baudelaire hat diesem Idol kaum gehuldigt. Der Glaube an die Erbsünde feite ihn gegen den Glauben an Menschenkenntnis. Er hielt es mit de Maistre, der seinerseits das Studium des Dogmas mit dem des Baco vereinigt hatte.

Die beruhigenden Mittelchen, welche die Physiologisten feilhielten, waren bald abgetan. Der Literatur dagegen, die sich an die beunruhigenden und bedrohlichen Seiten des städtischen Lebens gehalten hat, sollte eine große Zukunft beschieden sein. Auch diese Literatur hat es mit der Masse zu tun. Sie verfährt aber anders als die Physiologien. Ihr liegt an der Bestimmung von Typen wenig; sie geht vielmehr den Funktionen nach, welche der Masse in der großen Stadt eigen sind. Unter ihnen drängte eine sich auf, die schon ein Polizeibericht um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts hervorhebt. »Es ist fast unmöglich«, schreibt ein pariser Geheimagent im Jahre 1798, »gute Lebensart in einer dicht massierten Bevölkerung aufrecht zu erhalten, wo jeder einzelne allen andern sozusagen unbekannt ist und daher vor niemandem zu erröten braucht.«952 Hier erscheint die Masse als das Asyl, das den Asozialen vor seinen Verfolgern schützt. Unter ihren bedrohlichen Seiten hat sich diese am zeitigsten angekündigt. Sie steht im Ursprung der Detektivgeschichte.

In Zeiten des Terrors, wo jedermann etwas vom Konspirateur an sich hat, wird auch jedermann in die Lage kommen, den Detektiv zu spielen. Die Flanerie gibt ihm darauf die beste Anwartschaft. »Der Beobachter«, sagt Baudelaire, »ist ein Fürst, der überall im Besitze seines Inkognitos ist.«953 Wenn der Flaneur dergestalt zu einem Detektiv wider Willen wird, so kommt ihm das gesellschaftlich sehr zupaß. Es legitimiert seinen Müßiggang. Seine Indolenz ist eine nur scheinbare. Hinter ihr verbirgt sich die Wachsamkeit eines Beobachters, der den Missetäter nicht aus den Augen läßt. So sieht der Detektiv ziemlich weite Gefilde seinem Selbstgefühl aufgetan. Er bildet Formen des Reagierens aus, wie sie dem Tempo der Großstadt anstehen. Er erhascht die Dinge im Flug; er kann sich damit in die Nähe des Künstlers träumen. Den geschwinden Stift des Zeichners lobt jedermann. Balzac will Künstlerschaft überhaupt an geschwindes Erfassen gebunden wissen954. – Kriminalistischer Spürsinn mit der gefälligen Nonchalance des Flaneurs vereinigt gibt den Aufriß von Dumas’ »Mohicans de Paris«. Ihr Held entschließt sich, auf Abenteuer auszuziehen, indem er einem Fetzen Papier nachgeht, den er den Winden zum Spiel überlassen hat. Welche Spur der Flaneur auch verfolgen mag, jede wird ihn auf ein Verbrechen führen. Damit ist angedeutet, wie auch die Detektivgeschichte, ihres nüchternen Kalküls ungeachtet, an der Phantasmagorie des pariser Lebens mitwirkt. Noch verklärt sie nicht den Verbrecher; aber sie verklärt seine Gegenspieler und vor allem die Jagdgründe, in denen sie ihn verfolgen. Messac hat gezeigt, wie man sich bemüht, dabei Reminiszenzen an Cooper heranzuziehen955. Das Interessante an Coopers Einfluß ist: man verbirgt ihn nicht, man stellt ihn vielmehr zur Schau. In den erwähnten »Mohicans de Paris« liegt die Schaustellung schon im Titel; der Autor macht dem Leser die Aussicht, ihm in Paris einen Urwald und eine Prärie zu öffnen. Das holzgeschnittene Frontispice zum dritten Band zeigt eine bebuschte, damals wenig begangene Straße; die Beschriftung der Ansicht lautet: »Der Urwald in der d’Enfer-Straße«. Der Verlagsprospekt dieses Werkes umreißt den Zusammenhang mit einer großartigen Floskel, in der man die Hand des von sich begeisterten Verfassers vermuten darf: »Paris – die Mohikaner … diese beiden Namen prallen aufeinander wie das Qui vive zweier gigantischer Unbekannter. Es trennt die beiden ein Abgrund; er ist von den Funken jenes elektrischen Lichtes durchzuckt, das seinen Herd in Alexandre Dumas hat.« Féval versetzte schon früher eine Rothaut in weltstädtische Abenteuer. Sie heißt Tovah und bringt es fertig, auf einer Ausfahrt in einem Fiaker ihre vier weißen Begleiter so zu skalpieren, daß der Kutscher nichts davon merkt. Die »Mystères de Paris« weisen gleich zu Beginn auf Cooper, um zu versprechen, daß ihre Helden aus der pariser Unterwelt »nicht minder der Zivilisation entrückt sind als die Wilden, die Cooper so trefflich darstellt«. Besonders ist aber Balzac nicht müde geworden, auf Cooper als auf sein Vorbild hinzuweisen. »Die Poesie des Schreckens, von der die amerikanischen Wälder, in denen feindliche Stämme auf dem Kriegspfad einander begegnen, voll sind – diese Poesie, die Cooper so zustatten gekommen ist, eignet genau so den kleinsten Details des pariser Lebens. Die Passanten, die Läden, die Mietkutschen oder ein Mann, der gegen ein Fenster lehnt, all das interessierte die Leute von Peyrades Leibwache ebenso brennend wie ein Baumstumpf, ein Biberbau, ein Felsen, eine Büffelhaut, ein unbewegliches Canoe oder ein treibendes Blatt den Leser eines Romans von Cooper.« Balzacs Intrige ist reich an Spielformen zwischen Indianer- und Detektivgeschichte. Früh hat man seine »Mohicaner im Spencer« und »Huronen im Gehrock« beanstandet956. Andererseits schreibt Hippolyte Babou, der Baudelaire nahestand, rückblickend im Jahre 1857: »Wenn Balzac … die Mauern durchbricht, um der Beobachtung freie Bahn zu geben …, so horcht man an den Türen …, man verhält sich mit einem Wort … wie unsre Nachbarn, die Engländer, in ihrer Prüderie sagen, als police détective.«957

Die Detektivgeschichte, deren Interesse in einer logischen Konstruktion liegt, die als solche der Kriminalnovelle nicht eignen muß, erscheint für Frankreich zum ersten Male mit den Übersetzungen der Poeschen Erzählungen: »Das Geheimnis der Marie Roget«, »Der Doppelmord in der rue Morgue«, »Der entwendete Brief«. Mit der Übertragung dieser Modelle hat Baudelaire die Gattung adoptiert. Poes Werk ging durchaus in sein eigenes ein; und Baudelaire betont diesen Sachverhalt, indem er sich solidarisch mit der Methode macht, in der die einzelnen Gattungen, denen Poe sich zuwandte, übereinkommen. Poe ist einer der größten Techniker der neueren Literatur gewesen. Er als erster hat es, wie Valéry bemerkt958, mit der wissenschaftlichen Erzählung, mit der modernen Kosmogonie, mit der Darstellung pathologischer Erscheinungen versucht. Diese Gattungen galten ihm als exakte Hervorbringungen einer Methode, für die er allgemeine Geltung beanspruchte. Genau darin trat ihm Baudelaire zur Seite und im Sinne von Poe schreibt er: »Die Zeit ist nicht fern, da man verstehen wird, daß eine Literatur, die sich weigert, brüderlich vereint mit der Wissenschaft und mit der Philosophie ihren Weg zu machen, eine mörderische und selbstmörderische Literatur ist.«959 Die Detektivgeschichte, die folgenreichste unter den technischen Errungenschaften von Poe, gehörte einem Schrifttum an, das dem Baudelaireschen Postulat Genüge tat. Ihre Analyse macht einen Teil der Analyse von Baudelaires eigenem Werk, unbeschadet der Tatsache, daß von ihm keine solchen Geschichten verfaßt worden sind. Als disiecta membra kennen die »Fleurs du mal« drei von ihren entscheidenden Elementen: das Opfer und den Tatort (»Une martyre«), den Mörder (»Le vin de l’assassin«), die Masse (»Le crépuscule du soir«). Es fehlt das vierte, das dem Verstand erlaubt diese affektschwangere Atmosphäre zu durchdringen. Baudelaire hat keine Detektivgeschichte verfaßt, weil die Identifikation mit dem Detektiv ihm nach seiner Triebstruktur unmöglich gewesen ist. Der Kalkül, das konstruktive Moment stand bei ihm auf der Seite des Asozialen. Es ist ganz und gar in die Grausamkeit eingebracht. Baudelaire ist ein zu guter Leser von Sade gewesen, um mit Poe konkurrieren zu können960.

Der ursprüngliche gesellschaftliche Inhalt der Detektivgeschichte ist die Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadtmenge. Eingehend widmet Poe sich diesem Motiv im »Geheimnis der Marie Roget«, der umfangreichsten von seinen Kriminalnovellen. Gleichzeitig ist diese Novelle der Prototyp der Verwertung journalistischer Informationen bei der Aufdeckung von Verbrechen. Poes Detektiv, der Chevalier Dupin arbeitet hier nicht auf Grund des Augenscheins sondern der Berichte der Tagespresse. Die kritische Analyse ihrer Berichte gibt das Gerüst der Erzählung ab. Unter anderm muß der Zeitpunkt des Verbrechens ermittelt werden. Ein Blatt, der »Commerciel«, vertritt die Ansicht, Marie Roget, die Ermordete, sei unmittelbar nachdem sie die mütterliche Wohnung verlassen habe, beseitigt worden. »›Es ist unmöglich – schreibt er –, daß eine junge Frau, die mehreren tausend Personen bekannt war, auch nur drei Straßenecken weit gekommen wäre, ohne auf einen Passanten zu stoßen, dem ihr Gesicht bekannt war …‹ Das ist nun die Vorstellungsweise eines Mannes, der im öffentlichen Leben steht und seit langem in Paris ansässig ist, der sich im übrigen in dieser Stadt fast immer in der Gegend der öffentlichen Verwaltungsgebäude bewegt. Sein Kommen und Gehen spielt sich in regelmäßigen Fristen in einem beschränkten Sektor ab und in ihm bewegen sich Leute, die Beschäftigungen nachgehen, welche der seinen ähneln; diese Leute interessieren sich daher für ihn, und sie nehmen von seiner Person Notiz. Demgegenüber darf man sich die Wege, wie sie gewöhnlich von Marie in der Stadt beschrieben wurden als unregelmäßig vorstellen. In dem besondern Falle, mit dem wir es zu tun haben, muß für wahrscheinlich gelten, daß ihr Weg von dem üblicherweise von ihr beschriebenen abwich. Die Parallele, von der der ›Commercie‹ offenbar ausging, wäre nur dann statthaft, wenn die beiden in Frage stehenden Personen den Weg durch die ganze Stadt gemacht hätten. Für diesen Fall wären unter der Voraussetzung, daß sie gleich viel Bekannte hätten, die Chancen, auf die gleiche Menge von Bekannten zu stoßen, für sie die gleichen. Ich meinesteils halte es nicht nur für möglich sondern für unendlich wahrscheinlich, daß Marie zu jeder beliebigen Zeit von ihrer Wohnung zu der ihrer Tante einen beliebigen Weg einschlagen konnte, ohne auf einen einzigen Passanten zu stoßen, den sie gekannt hätte oder dem sie bekannt gewesen wäre. Um in dieser Frage zu einem richtigen Urteil zu kommen und sie sachgerecht zu beantworten, muß man sich das ungeheure Mißverhältnis vor Augen halten, das zwischen der Anzahl von Bekannten selbst des überlaufensten Individuums und der Gesamtbevölkerung von Paris besteht.«961 Läßt man den Zusammenhang außer acht, der diese Reflexionen bei Poe heraufführt, so verliert der Detektiv seine Kompetenz, aber nicht das Problem seine Gültigkeit. Es liegt abgewandelt einem von den berühmtesten Gedichten der »Fleurs du mal«, dem Sonett »A une passante« zugrunde.

La rue assourdissante autour de moi hurlait.

Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,

Une femme passa, d’une main fastueuse

Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;

Agile et noble, avec sa jambe de statue.

Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,

Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,

La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

Un éclair … puis la nuit! – Fugitive beauté

Dont le regard m’a fait soudainement renaître,

Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!

Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,

O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais! 962

Das Sonett »A une passante« stellt die Menge nicht als das Asyl des Verbrechers sondern als das der den Dichter fliehenden Liebe dar. Man darf sagen, es handelt von der Funktion der Menge nicht im Dasein des Bürgers sondern in dem des Erotikers. Auf den ersten Blick scheint diese Funktion negativ; aber sie ist es nicht. Die Erscheinung, welche ihn fasziniert – weit entfernt, sich dem Erotiker in der Menge nur zu entziehen, wird ihm durch diese Menge erst zugetragen. Die Entzückung des Städters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick. Das »jamais« ist der Höhepunkt der Begegnung, an dem die Leidenschaft, scheinbar vereitelt, in Wahrheit erst als Flamme aus dem Poeten schlägt. In ihr verbrennt er; doch aus ihr steigt kein Phönix. Die Neugeburt der ersten Terzine eröffnet eine Ansicht von dem Geschehen, die im Lichte der vorangehenden Strophe sehr problematisch erscheint. Was den Körper im Krampf zusammenzieht, das ist nicht die Betroffenheit dessen, von dem ein Bild in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von dem Chock, mit dem ein gebieterisches Gelüst unvermittelt den Einsamen überkommt. Der Zusatz »comme un extravagant« spricht das beinahe aus; der Ton, der vom Dichter darauf gelegt wird, daß die Frauenerscheinung in Trauer ist, ist nicht danach angetan, es geheim zu halten. Es besteht in Wahrheit ein tiefer Bruch zwischen den Vierzeilern, die den Vorgang dartun, und den Terzinen, die ihn verklären. Wenn Thibaudet von diesen Versen gesagt hat, »daß sie nur in einer Großstadt entstehen konnten«963, so bleibt er an ihrer Oberfläche. Ihre innere Figur prägt sich darin aus, daß in ihnen die Liebe selbst von der Großstadt stigmatisiert erkannt wird964.

Seit Louis Philippe findet man im Bürgertum das Bestreben, sich für die Spurlosigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen. Das versucht es innerhalb seiner vier Wände. Es ist als habe es seine Ehre darein gesetzt, die Spur, wenn schon nicht seiner Erdentage so doch seiner Gebrauchsartikel und Requisiten in Äonen nicht untergehen zu lassen. Unverdrossen nimmt es den Abdruck von einer Fülle von Gegenständen; für Pantoffeln und Taschenuhren, für Thermometer und Eierbecher, für Bestecke und Regenschirme bemüht es sich um Futterale und Etuis. Es bevorzugt Sammet- und Plüschbezüge, die den Abdruck jeder Berührung aufbewahren. Dem Makartstil – dem Stil des ausgehenden Second Empire – wird die Wohnung zu einer Art Gehäuse. Er begreift sie als Futteral des Menschen und bettet ihn mit all seinem Zubehör in sie ein, seine Spur so betreuend wie im Granit die Natur eine tote Fauna. Es braucht dabei nicht verkannt zu werden, daß der Vorgang seine zwei Seiten hat. Der reale oder sentimentale Wert der derart aufbewahrten Gegenstände wird unterstrichen. Sie werden dem profanen Blick des Nichteigentümers entzogen, und insbesondere wird ihr Umriß auf bezeichnende Art verwischt. Es hat nichts Befremdendes, daß die Abwehr der Kontrolle, wie sie den Asozialen zur zweiten Natur wird, im besitzenden Bürgertum wiederkehrt. – Man kann in diesen Gepflogenheiten die dialektische Illustration eines Textes erblicken, der im »Journal officiel« in vielen Fortsetzungen erschienen ist. Bereits 1836 hatte Balzac in der »Modeste Mignon« geschrieben: »Arme Frauen Frankreichs! ihr möchtet wohl gerne unbekannt bleiben, um euren kleinen Liebesroman zu spinnen. Aber wie soll euch das in einer Zivilisation glücken, die auf den öffentlichen Plätzen Abgang und Ankunft der Kutschen verzeichnen läßt, die die Briefe zählt und sie bei der Aufgabe einmal und bei der Auslieferung nochmals abstempelt, die die Häuser mit Nummern versieht und bald das ganze Land bis auf die kleinste Parzelle … in ihren Katastern wird stehen haben.«965 Ein ausgedehntes Kontrollnetz hatte seit der französischen Revolution das bürgerliche Leben immer fester in seine Maschen eingeschnürt. Für das Fortschreiten der Normierung gibt in der Großstadt die Häuserzählung einen brauchbaren Anhalt ab. Die Verwaltung Napoleons hatte sie 1805 für Paris verbindlich gemacht. In proletarischen Vierteln war diese einfache Polizeimaßnahme allerdings auf Widerstände gestoßen; von dem Quartier der Schreiner, Saint-Antoine, heißt es noch 1864: »Wenn man einen der Bewohner dieser Vorstadt nach seiner Adresse fragt, wird er stets den Namen geben, den sein Haus trägt, und nicht die kalte, officielle Nummer.«966 Solche Widerstände vermochten natürlich auf die Dauer nichts gegen das Bestreben, durch ein vielfältiges Gewebe von Registrierungen den Ausfall von Spuren zu kompensieren, den das Verschwinden der Menschen in den Massen der großen Städte mit sich bringt. Baudelaire fand sich durch dieses Bestreben ebenso beeinträchtigt wie irgendein Krimineller. Auf der Flucht vor den Gläubigern schlug er sich in Cafés oder in Lesezirkel. Es traf sich, daß er zwei Domizile zugleich bewohnte – aber an Tagen, an denen die Miete fällig wurde, nächtigte er oft bei Freunden in einem dritten. So trieb er sich in der Stadt herum, welche dem Flaneur längst nicht mehr Heimat war. Jedes Bett, in das er sich legte, war für ihn zu einem »lit hasardeux«967 geworden. Crépet zählt zwischen 1842 und 1858 vierzehn pariser Adressen von Baudelaire.

Technische Maßnahmen mußten dem administrativen Kontrollprozeß zu Hilfe kommen. Am Anfang des Identifikationsverfahrens, dessen derzeitiger Standard durch die Bertillonsche Methode gegeben ist, steht die Personalbestimmung durch Unterschrift. In der Geschichte dieses Verfahrens stellt die Erfindung der Photographie einen Einschnitt dar. Sie bedeutet für die Kriminalistik nicht weniger als die des Buchdrucks für das Schrifttum bedeutet hat. Die Photographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren von einem Menschen festzuhalten. Die Detektivgeschichte entsteht in dem Augenblick, da diese einschneidendste aller Eroberungen über das Inkognito des Menschen gesichert war. Seither ist kein Ende der Bemühungen abzusehen, ihn dingfest im Reden und Tun zu machen.

Poes berühmte Novelle »Der Mann der Menge« ist etwas wie das Röntgenbild einer Detektivgeschichte. Der umkleidende Stoff, den das Verbrechen darstellt, ist in ihr weggefallen. Die bloße Armatur ist geblieben: der Verfolger, die Menge, ein Unbekannter, der seinen Weg durch London so einrichtet, daß er immer in deren Mitte bleibt. Dieser Unbekannte ist der Flaneur. So ist er von Baudelaire auch verstanden worden, als er in seinem Guys-Essay den Flaneur »l’homme des foules« genannt hat. Aber Poes Beschreibung dieser Figur ist frei von der Konnivenz, die Baudelaire ihr entgegenbrachte. Der Flaneur ist für Poe vor allem einer, dem es in seiner eigenen Gesellschaft nicht geheuer ist. Darum sucht er die Menge; nicht weit davon wird der Grund, aus dem er sich in ihr verbirgt, zu suchen sein. Den Unterschied zwischen dem Asozialen und dem Flaneur verwischt Poe vorsätzlich. Ein Mann wird in dem Maße verdächtiger als er schwerer aufzutreiben ist. Von längerer Verfolgung abstehend, faßt im stillen der Erzähler seine Erkenntnis so zusammen: »›Dieser alte Mann ist die Verkörperung, ist der Geist des Verbrechens‹, sagte ich zu mir. ›Er kann nicht allein sein; er ist der Mann der Menge.‹«968

Das Interesse des Lesers wird vom Verfasser nicht für diesen Mann allein beansprucht; es wird sich mindestens gleich sehr an die Schilderung der Menge heften. Dies aus dokumentarischen Gründen ebenso wie aus künstlerischen. In beiden Hinsichten ragt sie hervor. Was zuerst frappiert, ist, wie hingerissen der Erzähler dem Schauspiel der Menge folgt. Dem folgt auch, in einer bekannten Erzählung E. T. A. Hoffmanns, der Vetter an seinem Eckfenster. Aber wie befangen geht der Blick dessen über die Menge hin, der in seinem Hauswesen installiert ist. Und wie durchdringend ist der des Mannes, der durch die Scheiben des Kaffeehauses starrt. In dem Unterschied der Beobachtungsposten steckt der Unterschied zwischen Berlin und London. Auf der einen Seite der Privatier; er sitzt im Erker wie in einer Rangloge; wenn er auf dem Markt sich deutlicher umsehen will, so hat er einen Operngucker zur Hand. Auf der andern Seite der Konsument, der namenlose, der ins Kaffeehaus eintritt und es in kurzem, angezogen von dem Magneten der Masse, von dem er unablässig bestrichen wird, wieder verlassen wird. Auf der einen Seite ein Vielerlei kleiner Genrebilder, die insgesamt ein Album von kolorierten Stichen bilden; auf der andern Seite ein Aufriß, der einen großen Radierer zu inspirieren imstande wäre; eine unabsehbare Menge, in welcher keiner dem andern ganz deutlich und keiner dem andern ganz undurchschaubar ist. Dem deutschen Kleinbürger sind seine Grenzen eng gesteckt. Und doch war Hoffmann nach seiner Veranlagung von der Familie der Poe und der Baudelaire. In den biographischen Bemerkungen zu der Originalausgabe seiner letzten Schriften wird angemerkt: »Von der freien Natur war Hoffmann nie ein besonderer Freund. Der Mensch, Mittheilung mit, Beobachtungen über, das blose Sehen von Menschen, galt ihm mehr als Alles. Ging er im Sommer spazieren, was bei schönem Wetter täglich gegen Abend geschah, so … fand sich nicht leicht ein Weinhaus, ein Conditorladen, wo er nicht eingesprochen, um zu sehen, ob und welche Menschen da seyen.«969 Später klagte ein Dickens, wenn er auf Reisen war, immer wieder über den Mangel an Straßenlärm, der ihm für seine Produktion unerläßlich sei. »Ich kann nicht sagen, wie sehr die Straßen mir fehlen«, schrieb er 1846 aus Lausanne, in der Arbeit an »Dombey und Sohn« begriffen. »Es ist, als ob sie meinem Gehirn etwas gäben, dessen es, wenn es arbeiten soll, nicht entbehren kann. Eine Woche, vierzehn Tage kann ich wunderbar schreiben an einem entlegenen Orte; ein Tag in London genügt dann, mich wieder aufzuziehen … Aber die Mühe und Arbeit, zu schreiben, Tag für Tag, ohne diese magische Laterne, ist ungeheuer … Meine Figuren scheinen stillstehen zu wollen, wenn sie keine Menge um sich haben.«970 Unter dem vielen, was Baudelaire an dem verhaßten Brüssel aussetzt, erfüllt eines ihn mit besonderem Groll: »Keine Schaufenster. Die Flanerie, die von Völkern mit Phantasie geliebt wird, ist in Brüssel nicht möglich. Es gibt nichts zu sehen, und die Straßen sind unbenutzbar.«971 Baudelaire liebte die Einsamkeit; aber er wollte sie in der Menge.

Im Verlaufe seiner Erzählung läßt Poe es dunkel werden. Er verweilt bei der Stadt im Gaslicht. Die Erscheinung der Straße als Interieur, in der die Phantasmagorie des Flaneurs sich zusammenfaßt, ist von der Gasbeleuchtung nur schwer zu trennen. Das erste Gaslicht brannte in den Passagen. In Baudelaires Kindheit fällt der Versuch, unter freiem Himmel es zu verwerten; man stellte auf der Place Vendôme Kandelaber auf. Unter Napoleon III. wächst die Zahl der pariser Gaslaternen in schneller Folge972. Das erhöhte die Sicherheit in der Stadt; es machte die Menge auf offener Straße auch des Nachts bei sich selber heimisch; es verdrängte den Sternenhimmel aus dem Bilde der großen Stadt zuverlässiger als das durch ihre hohen Häuser geschah. »Ich ziehe den Vorhang hinter der Sonne zu; nun ist sie zu Bett gebracht wie es sich gehört; ich sehe fortan kein anderes Licht als das der Gasflamme.«973974 Mond und Sterne sind nicht mehr erwähnenswert.

In der Blütezeit des Second Empire schlossen die Läden in den Hauptstraßen nicht vor zehn Uhr abends. Es war die große Zeit des noctambulisme. »Der Mensch«, schrieb damals Delvau in dem der zweiten Stunde nach Mitternacht gewidmeten Kapitel seiner »Heures parisiennes«, »darf sich von Zeit zu Zeit ausruhen; Haltepunkte und Stationen sind ihm erlaubt; aber er hat nicht das Recht zu schlafen.«975 Am genfer See gedenkt Dickens wehmütig Genuas, wo er zwei Meilen Straße hatte, in deren Beleuchtung er in den Nächten herumirren konnte. Später als mit dem Aussterben der Passagen die Flanerie aus der Mode kam und auch Gaslicht nicht mehr für vornehm galt, schien einem letzten Flaneur, der traurig durch die leere Passage Colbert schlenderte, das Flackern der Kandelaber nur noch die Angst ihrer Flamme zur Schau zu tragen, am Monatsende nicht mehr bezahlt zu werden976. Damals schrieb Stevenson seine Klage auf das Verschwinden der Gaslaternen. Sie hängt vor allem dem Rhythmus nach, in dem Laternenanzünder durch die Straßen hin eine nach der andern die Laternen entzünden. Erst hebt sich dieser Rhythmus vom Gleichmaß der Dämmerung ab, nun aber von einem brutalen Chock, mit dem ganze Städte auf einen Schlag im Schein des elektrischen Lichts daliegen. »Dieses Licht sollte nur auf Mörder oder auf Staatsverbrecher fallen oder in Irrenanstalten den Gang erleuchten – Grauen, Grauen zu steigern angetan.«977 Manches spricht dafür, daß Gaslicht erst spät so idyllisch empfunden wurde wie von Stevenson, der ihm den Nachruf schreibt. Vor allem bezeugt das der fragliche Poesche Text. Unheimlicher ist die Wirkung dieses Lichts kaum zu schildern: »Die Strahlen der Gaslaternen waren zuerst schwach gewesen als sie noch mit der Abenddämmerung in Streit gelegen hatten. Nun hatten sie gesiegt und warfen ein flackerndes und grelles Licht ringsumher. Alles sah schwarz aus, funkelte aber wie das Ebenholz, mit dem man den Stil Tertullians verglichen hat.«978 »Im Innern des Hauses«, heißt es bei Poe an anderer Stelle, »ist Gas durchaus unstatthaft. Sein flackerndes, hartes Licht beleidigt das Auge.«979

Düster und zerfahren wie das Licht, in welchem sie sich bewegt, erscheint die londoner Menge selbst. Das gilt nicht nur von dem Gesindel, das mit der Nacht »aus den Höhlen«980 kriecht. Die Klasse der höheren Angestellten wird von Poe folgendermaßen beschrieben: »Ihr Haar war zumeist bereits ziemlich gelichtet, ihr rechtes Ohr stand infolge seiner Verwendung als Träger des Federhalters gewöhnlich etwas vom Kopfe ab. Alle rückten gewohnheitsmäßig mit beiden Händen an ihren Hüten und alle trugen kurze goldene Uhrketten von altmodischer Form.«981 Auf den unmittelbaren Augenschein ist Poe in seiner Schilderung nicht aus gewesen. Die Gleichförmigkeiten, denen die Kleinbürger durch ihr Dasein in der Menge unterworfen werden, sind übertrieben; ihr Aufzug ist nicht weit davon entfernt, uniform zu sein. Noch erstaunlicher ist die Beschreibung der Menge nach der Art, wie sie sich bewegt. »Die meisten, die vorbeikamen, sahen aus wie Leute, die mit sich zufrieden sind und mit beiden Füßen im Leben stehen. Sie schienen nur daran zu denken, sich durch die Menge ihren Weg zu bahnen. Sie runzelten die Brauen und warfen Blicke nach allen Seiten. Wenn sie von benachbarten Passanten einen Stoß bekamen, zeigten sie sich nicht weiter ungehalten; sie brachten ihre Kleider wieder in Ordnung und hasteten weiter. Andere, und auch diese Gruppe war groß, hatten ungeordnete Bewegungen, ein rot angelaufenes Gesicht, sprachen mit sich selbst und gestikulierten, so als ob sie sich gerade infolge der unzähligen Menge, von der sie umgeben waren, allein vorgekommen wären. Wenn sie unterwegs innehalten mußten, dann hörten diese Leute plötzlich auf zu murmeln; aber ihre Gestikulation wurde heftiger und sie warteten mit abwesendem, forciertem Lächeln bis die Leute, die ihnen im Wege standen, vorbeiwaren. Wenn man sie anstieß, so grüßten sie diejenigen tief, von denen sie ihren Stoß bekommen hatten, und sie schienen dann höchst befangen.«982983 Man sollte denken, die Rede sei von halbtrunkenen, verelendeten Individuen. In Wahrheit handelt es sich um »Leute von gutem Stande, Kaufleute, Advokaten und Börsenspekulanten«984. Anderes als eine Psychologie der Klassen ist hier im Spiel985.

Es gibt eine Lithographie von Senefelder, die einen Spielklub darstellt. Nicht einer der auf ihr Abgebildeten geht in der üblichen Weise dem Spiele nach. Jeder ist von seinem Affekt besessen; einer von ausgelassener Freude, ein anderer von Mißtrauen gegen den Partner, ein dritter von dumpfer Verzweiflung, ein vierter von Streitsucht; einer macht Anstalten, um aus der Welt zu gehen. Dies Blatt erinnert in seiner Extravaganz an Poe. Allerdings ist Poes Vorwurf größer, und dem entsprechen auch seine Mittel. Sein Meisterzug in dieser Schilderung besteht darin, daß er die hoffnungslose Isoliertheit der Menschen in ihrem Privatinteresse nicht, wie Senefelder, in der Verschiedenheit ihres Gebarens sondern in ungereimten Gleichförmigkeiten, sei es ihrer Kleidung, sei es ihres Benehmens zum Ausdruck bringt. Die Servilität, mit der sich die die Püffe einstecken, obendrein noch entschuldigen, läßt erkennen, woher die Mittel, welche Poe an dieser Stelle einsetzt, stammen. Sie stammen aus dem Repertoire der Klowns. Und er verwendet sie ähnlich wie das später durch die Exzentriks geschehen ist. Bei den Leistungen des Exzentriks ist eine Beziehung auf die Ökonomie offenkundig. In seinen abrupten Bewegungen imitiert er ebensogut die Maschinerie, welche der Materie, wie die Konjunktur, welche der Ware ihre Stöße versetzt. Eine ähnliche Mimesis der »fieberhaften … Bewegung der materiellen Produktion« nebst der ihr zugehörigen Geschäftsformen vollziehen die Teilchen der bei Poe geschilderten Menge. Was der Luna-Park, der den kleinen Mann zum Exzentrik macht, später in seinen Wackeltöpfen und verwandten Amüsements zustande brachte, das ist in der Beschreibung von Poe vorgebildet. Die Leute verhalten sich bei ihm so als wenn sie nur noch reflektorisch sich äußern könnten. Dies Treiben wirkt noch entmenschter dadurch, daß bei Poe nur Menschen in Rede stehen. Wenn die Menge sich staut, so ist es nicht, weil der Wagenverkehr sie aufhält – er ist nirgends mit einem Wort erwähnt – sondern weil sie durch andere Mengen blockiert wird. In einer Masse von solcher Beschaffenheit konnte die Flanerie keine Blüten treiben.

In Baudelaires Paris war es noch nicht an dem. Noch gab es Fähren, die dort wo später Brücken sich befanden, die Seine querten. Noch konnte, in Baudelaires Todesjahr, ein Unternehmer auf den Gedanken kommen, zur Bequemlichkeit bemittelter Einwohner fünfhundert Sänften zirkulieren zu lassen. Noch waren die Passagen beliebt, in denen der Flaneur dem Anblick des Fuhrwerks enthoben war, das den Fußgänger als Konkurrenten nicht gelten läßt. Es gab den Passanten, welcher sich in die Menge einkeilt; doch gab es auch noch den Flaneur, welcher Spielraum braucht und sein Privatisieren nicht missen will. Müßig geht er als eine Persönlichkeit; so protestiert er gegen die Arbeitsteilung, die die Leute zu Spezialisten macht. Ebenso protestiert er gegen deren Betriebsamkeit. Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte der Fortschritt diesen pas lernen müssen. Aber nicht er behielt das letzte Wort sondern Taylor, der das ›Nieder mit der Flanerie‹ zur Parole machte986. Mancher suchte sich beizeiten ein Bild von dem zu machen, was kommen sollte. »Der Flaneur«, schreibt Rattier 1857 in seiner Utopie »Paris n’existe pas«, »den man auf dem Pflaster und vor den Auslagen angetroffen hat, dieser nichtige, unbedeutende, ewig schaulustige Typ, der immer auf Sechser-Emotionen aus war und von nichts wußte als von Steinen, Fiakern und Gaslaternen … der ist nun Ackerbauer, Winzer, Leinenfabrikant, Zuckerraffineur, Eisenindustrieller geworden.«987

Auf seinen Irrfahrten landet der Mann der Menge spät in einem noch viel besuchten Kaufhaus. Er bewegt sich darin wie ein Kundiger. Gab es vielstöckige Warenhäuser zur Zeit von Poe? Wie dem auch sei, Poe läßt den Ruhelosen »etwa anderthalb Stunden« in diesem Kaufhause zubringen. »Er ging von einem Rayon zum andern, ohne etwas zu kaufen noch auch zu sprechen; wie abwesend starrte er auf die Waren.«988 Wenn die Passage die klassische Form des Interieurs ist, als das die Straße sich dem Flaneur darstellt, so ist dessen Verfallsform das Warenhaus. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs. War ihm anfangs die Straße zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Straße, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische. Es ist ein großartiger Zug in Poes Erzählung, daß sie der frühesten Schilderung des Flaneurs die Figur seines Endes einbeschreibt.

Jules Laforgue hat von Baudelaire gesagt, als erster habe von Paris er »als ein tagtäglich zur hauptstädtischen Existenz Verdammter«989 gesprochen. Er hätte sagen können, als erster er habe auch von dem Opiat gesprochen, das diesen – und nur diesen – Verdammten zur Erleichterung gegeben ist. Die Menge ist nicht nur das neueste Asyl des Geächteten; sie ist auch das neueste Rauschmittel des Preisgegebenen. Der Flaneur ist ein Preisgegebener in der Menge. Damit teilt er die Situation der Ware. Diese Besonderheit ist ihm nicht bewußt. Sie wirkt aber darum auf ihn nicht weniger. Sie durchdringt ihn beseligend wie ein Rauschgift, das ihn für viele Demütigungen entschädigen kann. Der Rausch, dem sich der Flanierende überläßt, ist der der vom Strom der Kunden umbrausten Ware.

Gäbe es jene Warenseele, von welcher Marx gelegentlich im Scherz spricht990, so wäre sie die einfühlsamste, die im Seelenreiche je begegnet ist. Denn sie müßte in jedem den Käufer sehen, in dessen Hand und Haus sie sich schmiegen will. Einfühlung ist aber die Natur des Rausches, dem der Flaneur in der Menge sich überläßt. »Der Dichter genießt das unvergleichliche Privileg, daß er nach Gutdünken er selbst und ein anderer sein kann. Wie irrende Seelen, die einen Körper suchen, so tritt er, wann er will, in die Person eines anderen ein. Ihm steht die eines jeglichen frei und offen; wenn ihm gewisse Plätze verschlossen scheinen, so ist es, weil sie in seinen Augen der Mühe wert nicht sind, inspiziert zu werden.«991 Was hier spricht, ist die Ware selbst. Ja, die letzten Worte geben einen ziemlich genauen Begriff von dem, was sie dem armen Schlucker zumurmelt, der an einer Auslage mit schönen und teuren Sachen vorbeikommt. Sie wollen nichts von ihm wissen; in ihn fühlen sie sich nicht ein. In den Sätzen des bedeutsamen Stücks »Les foules« spricht mit andern Worten der Fetisch selbst, mit dem Baudelaires sensitive Anlage so gewaltig mitschwingt, daß die Einfühlung in das Anorganische eine der Quellen seiner Inspiration gewesen ist992.

Baudelaire war ein Kenner der Rauschmittel. Dennoch ist ihm eine ihrer sozial erheblichsten Wirkungen wohl entgangen. Sie besteht in dem Charme, den die Süchtigen unterm Einfluß der Droge an den Tag legen. Den gleichen Effekt gewinnt ihrerseits die Ware der sie berauschenden, sie umrauschenden Menge ab. Die Massierung der Kunden, die den Markt, der die Ware zur Ware macht, eigentlich bildet, steigert deren Charme für den Durchschnittskäufer. Wenn Baudelaire von einem »religiösen Rauschzustand der Großstädte«993 spricht, so dürfte dessen ungenannt gebliebenes Subjekt die Ware sein. Und die »heilige Prostitution der Seele«, mit der verglichen »das, was die Menschen Liebe nennen, recht klein, recht beschränkt und recht schwächlich«994 sein soll, kann, wenn die Konfrontation mit der Liebe ihren Sinn behält, wirklich nichts anderes sein als die Prostitution der Warenseele. »Cette sainte prostitution de l’âme qui se donne tout entière, poésie et charité, à l’imprévu qui se montre, à l’inconnu qui passe«995, sagt Baudelaire. Genau diese poésie und genau diese charité ist es, welche die Prostituierten für sich in Anspruch nehmen. Sie hatten die Geheimnisse des offenen Markts ausprobiert; die Ware hatte da nichts vor ihnen voraus. Auf dem Markte beruhten einige ihrer Reize, und es wurden ebenso viele Machtmittel. Als solche registriert Baudelaire sie im »Crépuscule du Soir«:

A travers les lueurs que tourmente le vent

La Prostitution s’allume dans les rues;

Comme une fourmilière elle ouvre ses issues;

Partout elle se fraye un occulte chemin,

Ainsi que l’ennemi qui tente un coup de main;

Elle remue au sein de la cité de fange

Comme un ver qui dérobe à l’Homme ce qu’il mange. 996

Erst die Masse der Einwohner erlaubt der Prostitution diese Streuung über weite Teile der Stadt. Und erst die Masse macht es dem Sexualobjekt möglich, sich an den hundert Reizwirkungen zu berauschen, die es zugleich ausübt.

Nicht auf jeden wirkte das Schauspiel berauschend, das das Straßenpublikum einer Großstadt bot. Lange ehe Baudelaire sein Prosagedicht »Les foules« verfaßte, hatte Friedrich Engels es unternommen, das Treiben in den londoner Straßen abzuschildern. »So eine Stadt wie London, wo man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang des Endes zu kommen, ohne dem geringsten Zeichen zu begegnen, das auf die Nähe des platten Landes schließen ließe, ist doch ein eigen Ding. Diese kolossale Centralisation, diese Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf Einem Punkt hat die Kraft dieser dritthalb Millionen verhundertfacht … Aber die Opfer, die — das gekostet hat, entdeckt man erst später. Wenn man sich ein paar Tage lang auf dem Pflaster der Hauptstraßen herumgetrieben … hat, dann merkt man erst, daß diese Londoner das beste Theil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Civilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt, daß hundert Kräfte, die in ihnen schlummerten, unthätig blieben und unterdrückt wurden … Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da aneinander vorbeidrängen, sind sie nicht Alle Menschen, mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? … Und doch rennen sie an einander vorüber, als ob sie gar Nichts gemein, gar Nichts mit einander zu thün hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, daß Jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden an einander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt es Keinem ein, die Andern auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolirung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen tritt um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr dieser Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.«997

Diese ›gefühllose Isolierung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen‹ durchbricht der Flaneur nur scheinbar, indem er den Hohlraum, welchen die seinige in ihm geschaffen hat, mit den erborgten, zudem erdichteten von Fremden ausfüllt. Es klingt neben der klaren Beschreibung, die Engels gibt, dunkel, wenn Baudelaire schreibt: »Das Vergnügen, in einer Menge sich zu befinden, ist ein geheimnisvoller Ausdruck für den Genuß an der Vervielfältigung der Zahl«998; aber der Satz klärt sich, wenn man ihn nicht sowohl vom Standpunkt des Menschen als der Ware gesprochen denkt. Sofern der Mensch, als Arbeitskraft, Ware ist, hat er es allerdings nicht nötig, eigens in die Ware sich zu versetzen. Je mehr diese Seinsweise seiner selbst als die von der Produktionsordnung über ihn verhängte ihm zum Bewußtsein kommt – je mehr er sich proletarisiert –, desto mehr durchdringt ihn der Frosthauch der Warenwirtschaft, desto weniger wird es sein Fall sein, in die Ware sich einzufühlen. Aber so weit war es mit der Klasse der kleinen Bürger, der Baudelaire angehörte, noch nicht gekommen. Auf der Stufenleiter, von der hier die Rede ist, befand sie sich erst im Beginn des Abstiegs. Unausweichlich mußte vielen in ihr die Warennatur ihrer Arbeitskraft eines Tages aufstoßen. Aber dieser Tag war noch nicht gekommen. Bis zu ihm durften sie, wenn man so sagen darf, ihre Zeit hinbringen. Daß unterdessen ihr Teil im besten Fall der Genuß sein konnte, doch nie die Herrschaft, das eben machte die Frist, die ihr von der Geschichte gegeben war, zu einem Gegenstande des Zeitvertreibs. Wer auf Zeitvertreib ausgeht, der sucht Genuß. Es verstand sich jedoch von selber, daß dem Genuß dieser Klasse um so engere Grenzen gezogen waren, je mehr sie ihm in dieser Gesellschaft frönen wollte. Weniger beschränkt ließ dieser Genuß sich an, sofern sie ihn an ihr zu finden imstande war. Wollte sie es in dieser Art zu genießen bis zur Virtuosität bringen, so durfte sie die Einfühlung in die Ware nicht verschmähen. Sie mußte diese Einfühlung mit der Lust und der Bangigkeit auskosten, die ihr aus dem Vorgefühl von ihrer eigenen Bestimmung als Klasse kam. Sie mußte ihr schließlich ein Sensorium entgegenbringen, das auch Bestoßenem und Faulendem noch die Reize abmerkt. Baudelaire, der im Gedicht an eine Kurtisane »ihr Herz, bestoßen wie einen Pfirsich, reif für weises Lieben« nennt »wie ihren Leib«, besaß dieses Sensorium. Ihm verdankte er den Genuß an dieser Gesellschaft als ein halb bereits von ihr Ausgeschiedener.

In der Haltung des so Genießenden ließ er das Schauspiel der Menge auf sich einwirken. Dessen tiefste Faszination lag aber darin, ihm im Rausch, in welchen es ihn versetzte, die schreckliche gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zu entrücken. Er hielt sie sich bewußt; so zwar wie Berauschte wirklicher Umstände ›noch‹ bewußt bleiben. Darum kommt die Großstadt bei Baudelaire beinahe nie in der unmittelbaren Darstellung ihrer Bewohner zum Ausdruck. Die Direktheit und Härte, mit der ein Shelley London im Bild seiner Menschen festhielt, konnte dem Paris von Baudelaire nicht zugute kommen.

Die Hölle ist eine Stadt, sehr ähnlich London –

Eine volkreiche und eine rauchige Stadt.

Dort gibt es alle Arten von ruinierten Leuten

Und dort ist wenig oder gar kein Spaß

Wenig Gerechtigkeit und noch weniger Mitleid.999

Dem Flaneur liegt ein Schleier auf diesem Bild. Die Masse ist dieser Schleier; sie wogt in »den faltigen Mäandern der alten Metropolen«1000. Sie macht, daß das Grauenhafte auf ihn bezaubernd wirkt1001. Erst wenn dieser Schleier zerreißt und dem Blick des Flaneurs »einen der volkreichen Plätze« freigibt, »die im Straßenkampfe menschenleer daliegen«1002, sieht auch er die große Stadt unverstellt.

Bedürfte es eines Zeugnisses für die Gewalt, mit der die Erfahrung der Menge Baudelaire bewegt hat, so wäre es die Tatsache, daß er es unternahm, im Zeichen dieser Erfahrung mit Hugo zu wetteifern. Daß in ihr wenn irgendwo Hugos Stärke lag, war für Baudelaire offenkundig. Er rühmt einen »caractère poétique …, interrogatif«1003 an Hugo und sagt ihm nach, er verstehe nicht nur das Klare scharf und klar wiederzugeben, sondern gebe auch mit der unerläßlichen Dunkelheit wieder, was nur dunkel und undeutlich sei offenbart worden. Von den drei Gedichten der »Tableaux parisiens«, die Hugo gewidmet sind, beginnt eines mit einer Anrufung der menschenerfüllten Stadt – »Wimmelnde Stadt, Stadt, von Träumen erfüllte«1004 – ein anderes verfolgt im »wimmelnden Tableau«1005 der Stadt, durch die Menge hindurch, alte Frauen1006. Die Menge ist in der Lyrik ein neuer Gegenstand. Noch dem Neuerer Sainte-Beuve rühmte man es, als dem Dichter geziemend und angemessen, nach, daß »die Menge ihm unerträglich«1007 sei. Hugo hat während seines Exils in Jersey diesen Gegenstand der Poesie erschlossen. In seinen einsamen Spaziergängen an der Küste gliederte er sich ihm dank einer von den riesigen Antithesen, die seiner Inspiration unerläßlich waren. Die Menge tritt bei Hugo als ein Gegenstand der Kontemplation in die Dichtung ein. Der brandende Ozean ist ihr Modell und der Denker, der diesem ewigen Schauspiel nachsinnt, ist der wahre Ergründer der Menge, in die er sich verliert wie ins Meeresrauschen. »Wie er von der einsamen Klippe hinüberblickt, der Verbannte, nach den großen schicksalvollen Ländern, so blickt er hinab in die Vergangenheiten der Völker … Er trägt sich und seine Geschicke hinein in die Fülle der Geschehnisse und sie werden ihm lebendig und verfließen mit dem Dasein der natürlichen Mächte, mit dem Meere, den verwitternden Felsen, den treibenden Wolken und den anderen Erhabenheiten, die ein einsames und ruhiges Leben im Verkehr mit der Natur enthält.«1008 »L’océan même s’est ennuyé de lui«, hat Baudelaire von Hugo gesagt, mit dem Lichtbündel seiner Ironie den brütend auf den Klippen Postierten streifend. Dem Schauspiel der Natur nachzuhängen, fühlte sich Baudelaire nicht bewogen. Seine Erfahrung der Menge trug die Spuren ›der Unbill und der tausend Stöße‹, die der Passant im Gewühl einer Stadt erleidet und die sein Ichbewußtsein nur um so wacher halten. (Es ist im Grunde eben dies Ichbewußtsein, das er der flanierenden Ware leiht.) Ein Anreiz, das Senkblei des Gedankens in die Tiefe der Welt auszuwerfen, ist die Menge für Baudelaire nie gewesen. Hugo dagegen schreibt: ›les profondeurs sont des multitudes‹1009 und gibt damit seinem Sinnen einen unermeßlichen Spielraum frei. Das Natürlich-Übernatürliche, von dem Hugo als von der Menge betroffen wurde, stellt sich ebensogut im Walde wie im Tierreich wie in der Brandung dar; in jedem von ihnen kann für Augenblicke die Physiognomie einer großen Stadt aufblitzen. Die »Pente de la rêverie« gibt von der zwischen der Vielzahl alles Lebendigen waltenden Promiskuität einen großartigen Begriff.

La nuit avec la foule, en ce rêve hideux,

Venait, s’épaississant ensemble toutes deux,

Et, dans ces régions que nul regard ne sonde,

Plus l’homme était nombreux, plus l’ombre était profonde.1010

Und

Foule sans nom! chaos! des voix, des yeux, des pas.

Ceux qu’on n’a jamais vus, ceux qu’on ne connaît pas.

Tous les vivants! – cités bourdonnant aux oreilles

Plus qu’un bois d’Amérique ou des ruches d’abeilles. 1011

Mit der Menge übt die Natur ihr elementares Recht an der Stadt. Aber es ist nicht die Natur allein, die so ihre Rechte wahrnimmt. Es gibt eine erstaunliche Stelle in den »Misérables«, an der das Waldweben als Archetypus des Massendaseins erscheint. »Was in dieser Straße vor sich gegangen war, hätte einen Wald nicht erstaunt; die Schäfte und das Unterholz, die Kräuter, die unentwirrbar ineinander verschlungenen Zweige und die hohen Gräser führen ein Dasein von dunkler Art; durchs unabsehbare Gewimmel huscht Unsichtbares; was unter dem Menschen steht, nimmt durch Nebel das wahr, was über dem Menschen steht.« In diese Darstellung ist eingesenkt, was Hugos Erfahrung mit der Menge eigentümlich gewesen ist. In der Menge tritt, was unter dem Menschen steht, in Verkehr mit dem, was über ihm waltet. Diese Promiskuität ist es, die alle andern einschließt. Die Menge erscheint bei Hugo als Zwitterbalg, den ungestalte, übermenschliche Mächte denen ausgebären, die unter dem Menschen sind. Im visionären Einschlag, der in Hugos Konzept von der Menge vorliegt, kommt das gesellschaftliche Sein besser zu seinem Recht als in der ›realistischen‹ Behandlung, die er ihr in der Politik angedeihen ließ. Denn die Menge ist in der Tat ein Naturspiel, wenn man den Ausdruck auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen darf. Eine Straße, eine Feuersbrunst, ein Verkehrsunglück versammeln Leute, die als solche von klassenmäßiger Bestimmtheit frei sind. Sie präsentieren sich als konkrete Ansammlungen; aber gesellschaftlich verbleiben sie doch abstrakt, nämlich in ihren isolierten Privatinteressen. Ihr Modell sind die Kunden, die sich – jeder in seinem Privatinteresse – auf dem Markte um ›die gemeinsame Sache‹ sammeln. Diese Ansammlungen haben vielfach nur statistische Existenz. In ihr bleibt verhüllt, was an ihnen das eigentlich Monströse ausmacht: nämlich die Massierung privater Personen als solcher durch den Zufall ihrer Privatinteressen. Fallen diese Ansammlungen jedoch ins Auge – und dafür sorgen die totalitären Staaten, indem sie die Massierung ihrer Klienten permanent und verbindlich für alle Vorhaben machen –, so tritt ihr Zwittercharakter klar zu Tage. Er tut das vor allem für die Betroffenen selbst. Sie rationalisieren den Zufall der Marktwirtschaft, der sie derart zusammenführt, als ›Schicksal‹, in dem sich ›die Rasse‹ wiederfindet. Sie geben damit zugleich dem Herdentrieb und dem reflektorischen Handeln freies Spiel. Die Völker, die im Vordergrunde der westeuropäischen Bühne stehen, machen Bekanntschaft mit dem Übernatürlichen, das Hugo in der Menge entgegentrat. Das historische Vorzeichen dieser Größe hat Hugo allerdings nicht lesen können. Doch hat es sich in seinem Werk als eine sonderbare Entstellung abgedrückt: in Gestalt der spiritistischen Protokolle.

Der Kontakt mit der Geisterwelt, der bekanntlich in Jersey gleich tief auf sein Dasein wie auf seine Produktion wirkte, war, so befremdend das erscheinen mag, vor allem ein Kontakt mit den Massen, wie er dem Dichter in der Verbannung von Hause aus abging. Denn die Menge ist die Daseinsweise der Geisterwelt. So sah Hugo zuvörderst sich selbst als Genius in einer großen Versammlung der Genien, die seine Ahnen waren. Der »William Shakespeare« geht seitenweise, in großen Rhapsodien die Reihe dieser Geistesfürsten durch, die mit Moses beginnt und mit Hugo endet. Sie macht aber nur eine kleine Schar in der gewaltigen Menge der Abgeschiedenen. Das ad plures ire der Römer war Hugos chthonischem Ingenium kein leeres Wort. – Die Spirits der Toten kamen spät, als Boten der Nacht, in der letzten Sitzung. Die Aufzeichnungen von Jersey haben ihre Botschaften aufbewahrt: »Jeder Große wirkt an zwei Werken. An dem Werk, das er als Lebender schafft, und an seinem Geister-Werke … Der Lebende weiht sich dem ersten Werke. Des Nachts jedoch in der tiefen Stille erwacht, oh Schrecken! der Geister-Schöpfer in diesem Lebenden. Wie? ruft die Kreatur, ist das nicht alles? – Nein, erwidert der Geist, auf und erhebe dich; der Sturm ist los, die Hunde und Füchse heulen, Finsternis allerorten, die Natur schauert; unter der Peitsche Gottes zuckt sie zusammen … Der Geister-Schöpfer sieht die Phantom-Idee. Die Worte sträuben sich und der Satz erschauert …, fahl läuft die Scheibe an, Furcht packt die Lampe … Hüte dich, Lebender, hüte dich, Mensch eines Säkulums, du Vasall eines Gedankens, der von der Erde stammt. Denn das hier ist der Wahnsinn, das hier ist das Grab, das hier ist das Unendliche, das hier ist eine Phantom-Idee.«1012 Der kosmische Schauer im Erlebnis des Unsichtbaren, welchen Hugo an dieser Stelle festhält, hat keine Ähnlichkeit mit dem nackten Schrecken, von dem Baudelaire im spleen überwältigt wurde. Auch brachte Baudelaire für das Hugosche Unternehmen nur wenig Verständnis auf. »Die wahre Zivilisation«, sagte er, »liegt nicht im Tischrücken.« Hugo ging es aber nicht um die Zivilisation. Er fühlte sich in der Geisterwelt eigentlich heimisch. Sie war, könnte man sagen, das kosmische Komplement eines Hauswesens, in dem es auch nicht ohne Grauen abging. Seine Intimität mit den Erscheinungen nimmt ihnen viel von ihrem Erschreckenden. Sie ist auch nicht frei von Betriebsamkeit und verrät an ihnen das Fadenscheinige. Das Pendant zu den Nachtgespenstern sind nichtssagende Abstraktionen, mehr oder minder sinnige Verkörperungen, wie sie auf Denkmälern damals zu Hause waren. ›Das Drama‹, ›die Lyrik‹, ›die Poesie‹, ›der Gedanke‹ und viele ähnliche lassen sich in den jerseyer Protokollen unbefangen neben den Stimmen des Chaos hören.

Die unübersehbaren Scharen der Geisterwelt – das dürfte das Rätsel der Lösung näherbringen – sind für Hugo vor allem Publikum. Es ist weniger sonderbar, daß sein Werk Motive des redenden Tisches aufnimmt als daß er es vor ihm zu produzieren pflegte. Der Beifall, mit dem das Jenseits ihm nicht gekargt hat, gab ihm im Exil einen Vorbegriff von dem unermeßlichen, welcher ihn im Alter, in der Heimat erwarten sollte. Als an seinem siebenzigsten Geburtstag das Volk der Hauptstadt gegen sein Haus in der Avenue d’Eylau drängte, war das Bild der Woge, die an die Klippe brandet, aber auch die Botschaft der Geisterwelt eingelöst.

Das unergründliche Dunkel des Massendaseins ist zuletzt auch die Quelle von Victor Hugos revolutionären Spekulationen gewesen. In den »Châtiments« ist der befreiende Tag umschrieben als

Le jour où nos pillards, où nos tyrans sans nombre

Comprendront que quelqu’un remue au fond de l’ombre. 1013

Konnte der im Zeichen der Menge stehenden Vorstellung von der unterdrückten Masse ein zuverlässiges revolutionäres Urteil entsprechen? War sie nicht vielmehr die deutliche Form für dessen wo immer sich herschreibende Beschränktheit? In der Kammerdebatte vom 25. November 1848 hatte Hugo gegen Cavaignacs barbarische Unterdrückung der Junirevolte geschimpft. Aber am 20. Juni hatte er in der Verhandlung über die ateliers nationaux das Wort geprägt: »Die Monarchie hatte ihre Müßiggänger, die Republik hat ihre Tagediebe.«1014 Der Reflex im Sinne der oberflächlichen Ansicht des Tages und der vertrauensseligsten von der Zukunft wird bei Hugo neben der tiefen Ahnung des im Schoße der Natur und des Volkes sich bildenden Lebens angetroffen. Eine Vermittlung ist Hugo nie gelungen; daß er ihre Notwendigkeit nicht empfunden hat, war die Bedingung des gewaltigen Anspruchs, des gewaltigen Umfangs und wohl auch der gewaltigen Wirkung seines Lebenswerkes bei den Zeitgenossen. In dem »L’argot« überschriebenen Kapitel der »Misérables« treten die beiden widerstreitenden Seiten seiner Natur mit imponierender Schroffheit einander gegenüber. Nach kühnen Blicken in die sprachliche Werkstatt des niederen Volkes schließt der Dichter: »Seit 89 entfaltet sich das gesamte Volk im geläuterten Individuum: es gibt keinen Armen, er hätte denn sein Recht und damit auch den Strahl, der auf ihn fällt; der arme Schlucker trägt in seinem Innern die Ehre Frankreichs; die Würde des Staatsbürgers ist eine innere Wehr; wer frei ist, der ist gewissenhaft; und wer Stimmrecht hat, der regiert.«1015 Victor Hugo sah die Dinge, wie die Erfahrungen der erfolgreichsten literarischen und einer glänzenden politischen Laufbahn sie vor ihn hinstellten. Er war der erste große Schriftsteller, der Kollektivtitel in seinem Werke hat – »Les misérables«, »Les travailleurs de la mer«. Menge hieß ihm, fast im antiken Sinne, die Menge der Klienten – das war seiner Leser- und seiner Wählermassen. Hugo war, mit einem Wort, kein Flaneur.

Für die Menge, die mit Hugo und mit der er ging, gab es keinen Baudelaire. Wohl aber existierte sie, diese Menge, für ihn. Ihr Anblick veranlaßte ihn tagtäglich, die Tiefe seines Mißerfolgs auszuloten. Und das war unter den Gründen, aus denen er diesen Anblick suchte, wohl nicht der letzte. Den verzweifelten Hochmut, der ihn so, gewissermaßen in Schüben, heimsuchte, nährte er am Ruhme von Victor Hugo. Noch heftiger stachelte ihn wahrscheinlich dessen politisches Glaubensbekenntnis an. Es war das Glaubensbekenntnis des citoyen. Die Masse der großen Stadt konnte ihn nicht beirren. Er erkannte die Volksmenge in ihr wieder. Er wollte Stoff sein von ihrem Stoff. Laizismus, Fortschritt und Demokratie waren das Banner, das er über den Häuptern schwang. Dieses Banner verklärte das Massendasein. Es verschattete eine Schwelle, die den Einzelnen von der Menge trennt. Diese Schwelle hütete Baudelaire; das unterschied ihn von Victor Hugo. Er ähnelte ihm jedoch darin, daß auch er den gesellschaftlichen Schein nicht durchschaute, welcher sich in der Menge niederschlägt. Er setzte ihr darum ein Leitbild entgegen, so unkritisch wie die Hugosche Konzeption von ihr. Der Heros ist dieses Leitbild. Im Augenblick, da Victor Hugo die Masse als den Helden in einem modernen Epos feiert, hält Baudelaire nach einem Zufluchtsort des Helden in der Masse der Großstadt Ausschau. Als citoyen versetzt Hugo sich in die Menge, als Heros sondert sich Baudelaire von ihr ab.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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