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IX

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Dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht das ›Erlebnis‹ des Arbeiters an der Maschinerie. Das erlaubt noch nicht anzunehmen, daß Poe von dem industriellen Arbeitsvorgang einen Begriff besessen hat. Auf alle Fälle ist Baudelaire von einem solchen Begriff weit entfernt gewesen. Er ist aber von einem Vorgang gefesselt worden, in dem der reflektorische Mechanismus, den die Maschine am Arbeiter in Bewegung setzt, am Müßiggänger wie in einem Spiegel sich näher studieren läßt. Diesen Vorgang stellt das Hasardspiel dar. Die Behauptung muß paradox erscheinen. Wo wäre ein Gegensatz glaubhafter etabliert als der zwischen der Arbeit und dem Hasard? Alain schreibt einleuchtend: »Der Begriff … des Spiels … beinhaltet …, daß keine Partie von der vorhergehenden abhängt … Das Spiel will von keiner gesicherten Position wissen … Verdienste, die vorher erworben sind, stellt es nicht in Rechnung, und darin unterscheidet es sich von der Arbeit. Das Spiel macht … mit der gewichtigen Vergangenheit, auf die sich die Arbeit stützt, kurzen Prozeß.«1177 Die Arbeit, die Alain bei diesen Worten im Sinne hat, ist die hochdifferenzierte (die, wie die geistige, gewisse Züge vom Handwerk bewahren dürfte); es ist nicht die der meisten Fabrikarbeiter, am wenigsten die der ungelernten. Zwar fehlt der letzteren der Einschlag des Abenteuers, die Fata Morgana, welche den Spieler lockt. Aber was ihr durchaus nicht abgeht, das ist die Vergeblichkeit, die Leere, das Nicht-vollenden-dürfen, welches vielmehr der Tätigkeit des Lohnarbeiters in der Fabrik innewohnt. Auch dessen vom automatischen Arbeitsgang ausgelöste Gebärde erscheint im Spiel, das nicht ohne den geschwinden Handgriff zustande kommt, welcher den Einsatz macht oder die Karte aufnimmt. Was der Ruck in der Bewegung der Maschinerie, ist im Hasardspiel der sogenannte coup. Der Handgriff des Arbeiters an der Maschine ist gerade dadurch mit dem vorhergehenden ohne Zusammenhang, daß er dessen strikte Wiederholung darstellt. Indem jeder Handgriff an der Maschine gegen den ihm vorauf gegangenen ebenso abgedichtet ist, wie ein coup der Hasardpartie gegen den jeweils letzten, stellt die Fron des Lohnarbeiters auf ihre Weise ein Pendant zu der Fron des Spielers. Beider Arbeit ist von Inhalt gleich sehr befreit.

Es gibt eine Lithographie von Senefelder, die einen Spielklub darstellt. Nicht einer der auf ihr Abgebildeten geht in der üblichen Weise dem Spiel nach. Jeder ist von seinem Affekt besessen; einer von ausgelassener Freude, ein anderer von Mißtrauen gegen den Partner, ein dritter von dumpfer Verzweiflung, ein vierter von Streitsucht; einer macht Anstalten, um aus der Welt zu gehen. In den mannigfachen Gebarungen ist etwas verborgen Gemeinsames: die aufgebotenen Figuren zeigen, wie der Mechanismus, dem die Spieler im Hasardspiel sich anvertrauen, an Leib und Seele von ihnen Besitz ergreift, so daß sie auch in ihrer privaten Sphäre, wie leidenschaftlich sie immer bewegt sein mögen, nicht mehr anders als reflektorisch fungieren können. Sie benehmen sich wie die Passanten im Poeschen Text. Sie leben ihr Dasein als Automaten und ähneln den fiktiven Figuren Bergsons, die ihr Gedächtnis vollkommen liquidiert haben.

Es scheint nicht, daß Baudelaire dem Spiel ergeben gewesen ist, wiewohl er für die, die ihm verfallen sind, Worte der Sympathie, ja der Huldigung gefunden hat1178. Das Motiv, das er in dem Nachtstück »Le jeu« behandelt hat, war in seiner Ansicht von der Moderne vorgesehen. Es zu schreiben, bildete einen Teil seiner Aufgabe. Das Bild des Spielers wurde bei Baudelaire das eigentlich moderne Komplement zum archaischen Bild des Fechters. Der eine ist ihm eine heroische Figur wie der andere. Mit Baudelaires Augen hat Börne gesehen, als er geschrieben hat: »Wenn man alle die Kraft und Leidenschaft …, die jährlich in Europa an Spieltischen vergeudet werden … zusammensparte – würde es ausreichen, ein römisches Volk und eine römische Geschichte daraus zu bilden? Aber das ist es eben! Weil jeder Mensch als Römer geboren wird, sucht ihn die bürgerliche Gesellschaft zu entrömern, und darum sind Hasard- und Gesellschaftsspiele, Romane, italienische Opern und elegante Zeitungen … eingeführt.«1179 Im Bürgertum ist das Hasardspiel erst mit dem neunzehnten Jahrhundert heimisch geworden; im achtzehnten spielte nur der Adel. Es war durch die napoleonischen Heere verbreitet worden und gehörte nun »zum Schauspiele des mondänen Lebens und der Tausende ungeregelter Existenzen, die in den Souterrains einer großen Stadt zuhause sind« – dem Schauspiel, in dem Baudelaire das Heroische sehen wollte, »wie es unsere Epoche zu eigen hat«1180.

Will man den Hasard nicht sowohl in technischer als in psychologischer Hinsicht ins Auge fassen, so erscheint Baudelaires Konzeption noch bedeutungsvoller. Der Spieler geht auf Gewinn aus, das ist einsichtig. Doch wird man sein Bestreben, zu gewinnen und Geld zu machen, nicht einen Wunsch im eigentlichen Sinne des Wortes nennen wollen. Vielleicht erfüllt ihn im Inneren Gier, vielleicht eine finstere Entschlossenheit. Jedenfalls ist er in einer Verfassung, in der er nicht viel Aufhebens von der Erfahrung machen kann1181. Der Wunsch seinerseits gehört dagegen den Ordnungen der Erfahrung an. »Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter in Fülle«, heißt es bei Goethe. Je früher im Leben man einen Wunsch tut, desto größere Aussicht hat er, erfüllt zu werden. Je weiter ein Wunsch in die Ferne der Zeit ausgreift, desto mehr läßt sich für seine Erfüllung hoffen. Was aber in die Ferne der Zeit zurückgeleitet, ist die Erfahrung, die sie erfüllt und gliedert. Darum ist der erfüllte Wunsch die Krone, welche der Erfahrung beschieden ist. In der Symbolik der Völker kann die Ferne des Raumes für die Ferne der Zeiten eintreten; daher die Sternschnuppe, welche in die unendliche Ferne des Raumes stürzt, zum Symbol des erfüllten Wunsches geworden ist. Die Elfenbeinkugel, die da ins nächste Fach rollt, die nächste Karte, die da zuoberst liegt, sind der wahre Gegensatz zu der Sternschnuppe. Die Zeit, die in dem Augenblick enthalten ist, da das Licht der Sternschnuppe für einen Menschen aufblitzt, ist vom Stoffe derer, die von Joubert mit der ihm eigenen Sicherheit umrissen worden ist. »Zeit«, sagt er, »wird auch in der Ewigkeit vorgefunden; aber es ist nicht die irdische Zeit, die weltliche … Diese Zeit zerstört nicht, sie vollendet nur.«1182 Sie ist das Gegenstück zu der höllischen, in der sich die Existenz derer abspielt, die nichts, was sie in Angriff genommen haben, vollenden dürfen. Die Verrufenheit des Hasardspiels hängt in der Tat daran, daß der Spieler selbst Hand ans Werk legt. (Ein unverbesserlicher Klient der Lotterie wird nicht derselben Ächtung verfallen wie der Hasardspieler in einem engeren Sinn.)

Das Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels (wie der Lohnarbeit). Es hat daher seinen genauen Sinn, wenn bei Baudelaire der Sekundenzeiger – la Seconde – als Partner des Spielers auftritt.

Souviens-toi que le Temps est un joueur avide

Qui gagne sans tricher, à tout coup! c’est la loi. 1183

In einem andern Text vertritt die Stelle der hier gedachten Sekunde der Satan selbst1184. Seinem Revier gehört ohne Zweifel auch die schweigsame Höhle an, in welche das Gedicht »Le jeu« die verweist, die dem Hasardspiel verfallen sind.

Voilà le noir tableau qu’en un rêve nocturne

Je vis se dérouler sous mon œil clairvoyant.

Moi-même, dans un coin de l’antre taciturne,

Je me vis accoudé, froid, muet, enviant,

Enviant de ces gens la passion tenace. 1185

Der Dichter nimmt nicht am Spiele teil. Er steht in seiner Ecke; nicht glücklicher als sie, die Spielenden. Er ist auch ein um seine Erfahrung betrogener Mann, ein Moderner. Nur schlägt er das Rauschgift aus, mit dem die Spielenden das Bewußtsein zu übertäuben suchen, das sie dem Gang des Sekundenzeigers ausgeliefert hat1186.

Et mon cœur s’effraya d’envier maint pauvre homme

Courant avec ferveur à l’abîme béant,

Et qui, soûl de son sang, préférerait en somme

La douleur à la mort et l’enfer au néant! 1187

Baudelaire macht in diesen letzten Versen die Ungeduld zum Substrat der Spielwut. Er hat es in reinster Beschaffenheit in sich vorgefunden. Sein Jähzorn besaß die Ausdruckskraft der Iracundia des Giotto in Padua.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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