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III

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Auf der Suche nach einer gehaltvolleren Bestimmung dessen, was als Abfallprodukt der Bergsonschen Theorie in Prousts memoire de l’intelligence erscheint, ist es geraten, auf Freud zurückzugehen. Im Jahre 1921 erschien der Essai »Jenseits des Lustprinzips«, der eine Korrelation zwischen dem Gedächtnis (im Sinne der memoire involontaire) und dem Bewußtsein aufstellt. Sie hat die Gestalt einer Hypothese. Die Überlegungen, die sich im folgenden an sie anschließen, werden nicht die Aufgabe haben, sie zu beweisen. Sie werden sich begnügen müssen, die Fruchtbarkeit derselben für Sachverhalte zu überprüfen, die weit von denen abliegen, die Freud bei seiner Konzeption gegenwärtig gewesen sind. Schüler von Freud dürften vielleicht eher auf solche Sachverhalte gestoßen sein. Die Ausführungen, in denen Reik seine Theorie des Gedächtnisses entwickelt, bewegen sich zum Teil ganz auf der Linie von Prousts Unterscheidung zwischen dem unwillkürlichen und dem willkürlichen Eingedenken. »Die Funktion des Gedächtnisses«, heißt es bei Reik, »ist der Schutz der Eindrücke; die Erinnerung zielt auf ihre Zersetzung. Das Gedächtnis ist im Wesentlichen konservativ, die Erinnerung ist destruktiv.«1120 Den fundamentalen Satz von Freud, welcher diesen Ausführungen zugrunde liegt, formuliert die Annahme, »das Bewußtsein entstehe an der Stelle der Erinnerungsspur«11211122. Es »wäre also durch die Besonderheit ausgezeichnet, daß der Erregungsvorgang in ihm nicht wie in allen anderen psychischen Systemen eine dauernde Veränderung seiner Elemente hinterläßt, sondern gleichsam im Phänomen des Bewußtwerdens verpufft«1123. Die Grundformel dieser Hypothese ist, »daß Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind«1124. Erinnerungsreste sind vielmehr »oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist«1125. Übertragen in Prousts Redeweise: Bestandteil der memoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist. »Dauerspuren als Grundlage des Gedächtnisses« an Erregungsvorgänge zu thesaurieren, ist nach Freud ›andern Systemen‹ vorbehalten, die vom Bewußtsein verschieden zu denken sind1126. Nach Freud nähme das Bewußtsein als solches überhaupt keine Gedächtnisspuren auf. Dagegen hätte es eine andere Funktion, die von Bedeutung ist. Es hätte als Reizschutz aufzutreten. »Für den lebenden Organismus ist der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme; er ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und muß vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden, also zerstörenden Einfluß der übergroßen, draußen arbeitenden Energien zu bewahren.«1127 Die Bedrohung durch diese Energien ist die durch Chocks. Je geläufiger ihre Registrierung dem Bewußtsein wird, desto weniger muß mit einer traumatischen Wirkung dieser Chocks gerechnet werden. Die psychoanalytische Theorie sucht, das Wesen des traumatischen Chocks »aus der Durchbrechung des Reizschutzes … zu verstehen«. Nach ihr hat der Schreck »seine Bedeutung« im »Fehlen der Angstbereitschaft«1128.

Die Untersuchung von Freud hatte ihren Anlaß in einem bei Unfallneurotikern typischen Traum. Er reproduziert die Katastrophe, von der sie betroffen wurden. Träume von solcher Art »suchen« nach Freud »die Reizbewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren Unterlassung die Ursache der traumatischen Neurose geworden ist«1129. Etwas Ähnliches scheint Valéry im Sinn zu haben. Und die Koinzidenz lohnt vermerkt zu werden, weil Valéry zu denen gehört, die sich für die besondere Funktionsweise der psychischen Mechanismen unter den heutigen Existenzbedingungen interessiert haben. (Dieses Interesse vermochte er überdies mit seiner poetischen Produktion, die eine rein lyrische geblieben ist, zu vereinbaren. Er stellt sich damit als der einzige Autor dar, der unmittelbar auf Baudelaire zurückführt.) »Die Eindrücke und Sinneswahrnehmungen des Menschen«, heißt es bei Valéry, »gehören, an und für sich betrachtet, … der Gattung der Überraschungen an; sie zeugen von einer Insuffizienz des Menschen … Die Erinnerung ist … eine Elementarerscheinung und will darauf hinaus, uns die Zeit zur Organisierung« der Reizaufnahme »zu gönnen, die uns zuerst gefehlt hat.«1130 Die Chockrezeption wird durch ein Training in der Reizbewältigung erleichtert, zu der im Notfall sowohl der Traum wie die Erinnerung herangezogen werden können. Im Regelfalle liegt dieses Training aber, wie Freud annimmt, dem wachen Bewußtsein ob, das seinen Sitz in einer Rindenschicht des Gehirns habe, »die … durch die Reizwirkung so durchgebrannt« sei, »daß sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse«1131 entgegenbringe. Daß der Chock derart abgefangen, derart vom Bewußtsein pariert werde, gäbe dem Vorfall, der ihn auslöst, den Charakter des Erlebnisses im prägnanten Sinn. Es würde diesen Vorfall (unmittelbar der Registratur der bewußten Erinnerung ihn einverleibend) für die dichterische Erfahrung sterilisieren.

Die Frage meldet sich an, wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert sein könnte, der das Chockerlebnis zur Norm geworden ist. Eine solche Dichtung müßte ein hohes Maß von Bewußtheit erwarten lassen; sie würde die Vorstellung eines Plans wachrufen, der bei ihrer Ausarbeitung im Werke war. Das trifft auf die Dichtung von Baudelaire durchaus zu. Es verbindet ihn, unter seinen Vorgängern, mit Poe; unter seinen Nachfolgern wieder mit Valéry. Die Betrachtungen, die von Proust und von Valéry über Baudelaire angestellt worden sind, ergänzen einander in providentieller Weise. Proust hat einen Essai über Baudelaire geschrieben, der in seiner Tragweite durch gewisse Reflexionen seines Romanwerks noch übertroffen wird. Valéry gab in der »Situation de Baudelaire« die klassische Einleitung zu den »Fleurs du mal«. Er sagt dort: »Das Problem mußte sich für Baudelaire folgendermaßen stellen – ein großer Dichter, doch weder Lamartine, noch Hugo, noch Musset zu werden. Ich sage nicht, daß dieser Vorsatz bei Baudelaire bewußt gewesen wäre; aber er mußte sich zwangsläufig in Baudelaire vorfinden – ja dieser Vorsatz war eigentlich Baudelaire. Er war seine Staatsraison.«1132 Es hat etwas Befremdliches, beim Dichter von einer Staatsraison zu reden. Es beinhaltet etwas Bemerkenswertes: die Emanzipation von Erlebnissen. Baudelaires poetische Produktion ist einer Aufgabe zugeordnet. Es haben ihm Leerstellen vorgeschwebt, in die er seine Gedichte eingesetzt hat. Sein Werk läßt sich nicht nur als ein geschichtliches bestimmen, wie jedes andere, sondern es wollte und es verstand sich so.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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