Читать книгу Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter Benjamin - Страница 105

XI

Оглавление

Wenn man die Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben, dessen Aura nennt, so entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt. Die auf der Kamera und den späteren entsprechenden Apparaturen aufgebauten Verfahren erweitern den Umfang der mémoire volontaire; sie machen es möglich, ein Geschehen nach Bild und Laut jederzeit durch die Apparatur festzuhalten. Sie werden damit zu wesentlichen Errungenschaften einer Gesellschaft, in der die Übung schrumpft. – Die Daguerreotypie hatte für Baudelaire etwas Aufwühlendes und Erschreckendes; »überraschend und grausam«1204 nennt er ihren Reiz. Er hat demnach den erwähnten Zusammenhang wenn auch gewiß nicht durchschaut so doch empfunden. Wie es stets sein Bestreben war, dem Modernen seine Stelle zu reservieren und, zumal in der Kunst, sie ihm anzuweisen, hat er es auch mit der Photographie gehalten. So oft er sie als bedrohlich empfand, sucht er, ihre »schlecht verstandenen Fortschritte«1205 dafür haftbar zu machen. Dabei gestand er sich allerdings, daß sie von »der Dummheit der großen Masse« gefördert würden. »Diese Masse verlangte nach einem Ideal, das ihrer würdig wäre und ihrer Natur entsprach … Ihre Gebete hat ein rächender Gott erhört, und Daguerre wurde sein Prophet.«1206 Unbeschadet dessen bemüht sich Baudelaire um eine konziliantere Betrachtungsweise. Die Photographie mag sich unbehelligt die vergänglichen Dinge zu eigen machen, die ein Anrecht »auf einen Platz in den Archiven unseres Gedächtnisses« haben, wenn sie dabei nur haltmacht vor dem »Bezirk des Ungreifbaren, Imaginativen«: vor dem der Kunst, in dem nur das eine Stätte hat, »dem der Mensch seine Seele mitgibt«1207. Der Schiedsspruch ist schwerlich ein salomonischer. Die ständige Bereitschaft der willentlichen, diskursiven Erinnerung, die von der Reproduktionstechnik begünstigt wird, beschneidet den Spielraum der Phantasie. Diese läßt sich vielleicht als ein Vermögen fassen, Wünsche einer besonderen Art zu tun; solche, denen als Erfüllung ›etwas Schönes‹ zugedacht werden kann. Woran diese Erfüllung gebunden wäre, hat wiederum Valéry näher bestimmt: »Wir erkennen das Kunstwerk daran, daß keine Idee, die es uns erweckt, keine Verhaltungsweise, die es uns nahelegt, es ausschöpfen oder erledigen könnte. Man mag an einer Blume, die dem Geruch zusagt, riechen, solange man will; man kann diesen Geruch, der in uns die Begierde wachruft, nicht abtun, und keine Erinnerung, kein Gedanke und keine Verhaltungsweise löscht seine Wirkung aus oder spricht uns von dem Vermögen los, das er über uns hat. Dasselbe verfolgt, wer sich vorsetzt, ein Kunstwerk zu machen.«1208 Ein Gemälde würde, dieser Betrachtungsweise nach, an einem Anblick dasjenige wiedergeben, woran sich das Auge nicht sattsehen kann. Womit es den Wunsch erfüllt, der sich in seinen Ursprung projizieren läßt, wäre etwas, was diesen Wunsch unablässig nährt. Was die Photographie vom Gemälde trennt und warum es auch nicht ein einziges übergreifendes Prinzip der ›Gestaltung‹ für beide geben kann, ist also klar: dem Blick, der sich an einem Gemälde nicht sattsehen kann, bedeutet eine Photographie viel mehr das, was die Speise dem Hunger ist oder der Trank dem Durst.

Die Krisis der künstlerischen Wiedergabe, die sich so abzeichnet, läßt sich als integrierender Teil einer Krise in der Wahrnehmung selbst darstellen. – Was die Lust am Schönen unstillbar macht, ist das Bild der Vorwelt, die Baudelaire durch die Tränen des Heimwehs verschleiert nennt. »Ach, du warst in abgelebten Zeiten | Meine Schwester oder meine Frau« – dies Geständnis ist der Tribut, den das Schöne als solches fordern kann. Soweit die Kunst auf das Schöne ausgeht und es, wenn auch noch so schlicht, ›wiedergibt‹, holt sie es (wie Faust die Helena) aus der Tiefe der Zeit herauf1209. Das findet in der technischen Reproduktion nicht mehr statt. (In ihr hat das Schöne keine Stelle.) In dem Zusammenhange, da Proust die Dürftigkeit und den Mangel an Tiefe in den Bildern beanstandet, die ihm die mémoire volontaire von Venedig vorlegt, schreibt er, beim bloßen Wort ›Venedig‹ sei ihm dieser Bilderschatz ebenso abgeschmackt wie eine Ausstellung von Photographien vorgekommen1210. Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der memoire involontaire auftauchen, darin sieht, daß sie eine Aura haben, so hat die Photographie an dem Phänomen eines ›Verfalls der Aura‹ entscheidend teil. Was an der Daguerreotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen Tödliche mußte empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl, im Denken, an einen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlichten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. »Die Wahrnehmbarkeit«, so urteilt Novalis, ist »eine Aufmerksamkeit.«1211 Die Wahrnehmbarkeit, von welcher er derart spricht, ist keine andere als die der Aura. Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen1212. Die Funde der mémoire involontaire entsprechen dem. (Sie sind übrigens einmalig: der Erinnerung, die sie sich einzuverleiben sucht, entfallen sie. Damit stützen sie einen Begriff der Aura, der die »einmalige Erscheinung einer Ferne«1213 in ihr begreift. Diese Bestimmung hat für sich, den kultischen Charakter des Phänomens transparent zu machen. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare: in der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes.) Wie sehr Proust im Problem der Aura bewandert war, bedarf nicht der Unterstreichung. Immerhin ist es bemerkenswert, daß er es bei Gelegenheit in Begriffen streift, die deren Theorie in sich schließen: »Einige, die Geheimnisse lieben, schmeicheln sich, daß den Dingen etwas von den Blicken bleibt, welche jemals auf ihnen ruhten.« (Doch wohl das Vermögen, sie zu erwidern.) »Sie sind der Meinung, daß Monumente und Bilder nur unter dem zarten Schleier sich darstellen, den Liebe und Andacht so vieler Bewunderer im Laufe der Jahrhunderte um sie gewoben haben. Diese Chimäre«, so schließt Proust ausweichend, »würde Wahrheit werden, wenn sie sie auf die einzige Realität beziehen würden, welche für das Individuum vorhanden ist, nämlich auf dessen eigene Gefühlswelt.«1214 Verwandt, aber weiterführend, weil objektiv ausgerichtet ist Valérys Bestimmung der Wahrnehmung im Traume als einer auratischen. »Wenn ich sage: ich sehe das da, so ist damit nicht eine Gleichung zwischen mir und der Sache niedergelegt … Im Traume dagegen liegt eine Gleichung vor. Die Dinge, die ich sehe, sehen mich ebensowohl wie ich sie sehe.«1215 Eben der Traumwahrnehmung ist die Natur der Tempel, von dem es heißt

L’homme y passe à travers des forêts de symboles

Qui l’observent avec des regards familiers.

Je besser Baudelaire darum gewußt hat, desto untrüglicher hat der Verfall der Aura seinem lyrischen Werk sich einbeschrieben. Das geschah in der Gestalt einer Chiffre; sie findet sich an fast allen Stellen der »Fleurs du mal«, wo der Blick aus dem menschlichen Auge auftaucht. (Daß Baudelaire sie nicht planmäßig eingesetzt hat, ist selbstverständlich.) Es handelt sich darum, daß die Erwartung, die dem Blick des Menschen entgegendrängt, leer ausgeht. Baudelaire beschreibt Augen, von denen man sagen möchte, daß ihnen das Vermögen zu blicken verloren gegangen ist. In dieser Eigenschaft aber sind sie mit einem Reiz begabt, aus dem der Haushalt seiner Triebe zu einem großen, vielleicht überwiegenden Teile bestritten wird. Im Banne dieser Augen hat sich der Sexus in Baudelaire vom Eros losgesagt. Wenn die Verse der »Seligen Sehnsucht«

Keine Ferne macht dich schwierig,

Kommst geflogen und gebannt

für die klassische Beschreibung der Liebe zu gelten haben, die mit der Erfahrung der Aura gesättigt ist, dann gibt es in der lyrischen Poesie schwerlich Verse, die ihnen entschiedener die Stirne bieten als Baudelaires

Je t’adore à l’égal de la voûte nocturne,

O vase de tristesse, ô grande taciturne,

Et t’aime d’autant plus, belle, que tu me fuis,

Et que tu me parais, ornement de mes nuits,

Plus ironiquement accumuler les lieues

Qui séparent mes bras des immensités bleues. 1216

Blicke dürften um so bezwingender wirken, je tiefer die Abwesenheit des Schauenden, die in ihnen bewältigt wurde. In spiegelnden Augen bleibt sie unvermindert. Eben darum wissen diese Augen von Ferne nichts. Ihre Glätte hat Baudelaire einem verschlagenen Reim einverleibt:

Plonge tes yeux dans les yeux fixes

Des Satyresses ou des Nixes. 1217

Satyrfrauen und Nixen gehören der Familie menschlicher Wesen nicht mehr an. Sie sind abgesondert. Denkwürdigerweise hat Baudelaire den von Ferne beschwerten Blick als regard familier ins Gedicht eingebracht1218. Er, der keine Familie gegründet hat, hat dem Wort familier eine von Verheißung und von Verzicht gesättigte Textur mitgegeben. Er ist blicklosen Augen verfallen und begibt sich ohne Illusionen in ihren Machtbereich.

Tes yeux, illuminés ainsi que des boutiques

Et des ifs flamboyants dans les fêtes publiques,

Usent insolemment d’un pouvoir emprunté. 1219

»Der Stumpfsinn«, schreibt Baudelaire in einer seiner ersten Veröffentlichungen, »ist oft eine Zier der Schönheit. Ihm hat man es zu verdanken, wenn die Augen trist und durchsichtig wie die schwärzlichen Sümpfe sind oder aber die ölige Ruhe der tropischen Meere haben.«1220 Kommt Leben in solche Augen, so ist es das des Raubtiers, das nach Beute Ausschau haltend zugleich sich sichert. (So ist die Hure, auf die Passanten achtend, zugleich auf der Hut vor den Polizeibeamten. Den physiognomischen Typus, den diese Lebensweise erzeugt, fand Baudelaire auf den zahlreichen Blättern wieder, die Guys der Prostituierten gewidmet hat. »Sie läßt ihren Blick wie das Raubtier am Horizont verweilen; er hat das Unstete des Raubtiers …, doch manchmal auch dessen jähes gespanntes Aufmerken.«1221) Daß das Auge des Großstadtmenschen mit Sicherungsfunktionen überlastet ist, leuchtet ein. Auf eine minder zu Tage liegende Beanspruchung desselben weist Simmel hin. »Wer sieht, ohne zu hören, ist viel … beunruhigter als wer hört, ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die … Großstadt Charakteristisches. Die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in den Großstädten … zeichnen sich durch ein merkliches Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs aus. Die Hauptursache davon sind die öffentlichen Verkehrsmittel. Vor der Entwicklung der Omnibusse, der Eisenbahnen, der Tramways im neunzehnten Jahrhundert waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten.«1222

Der sichernde Blick enträt der träumerischen Verlorenheit an die Feme. Er kann dahin kommen, etwas wie Lust an ihrer Entwürdigung zu empfinden. In diesem Sinne dürften die folgenden merkwürdigen Sätze zu lesen sein. Im »Salon von 1859« läßt Baudelaire die Landschaftsbilder Revue passieren, um mit dem Eingeständnis zu schließen: »Ich wünsche mir die Dioramen zurück, deren ungeheure und grobschlächtige Magie mir eine nützliche Illusion aufzwingt. Ich sehe mir lieber ein paar Theaterhintergründe an, auf denen ich kunstfertig, in tragischer Konzision, meine liebsten Träume behandelt finde. Diese Dinge, die so ganz falsch sind, sind eben darum der Wahrheit unendlich viel näher; dagegen sind unsere meisten Landschafter Lügner, gerade weil sie zu lügen verabsäumen.«1223 Man möchte auf die ›nützliche Illusion‹ weniger Wert legen als auf die ›tragische Konzision‹. Baudelaire dringt auf den Zauber der Ferne; er mißt das Landschaftsbild geradezu am Maßstab von Malereien in Jahrmarktsbuden. Will er den Zauber der Ferne durchstoßen wissen, wie sich das für den Beschauer ereignen muß, der zu nahe an einen Prospekt herantritt? Das Motiv ist in einen der großen Verse der »Fleurs du mal« eingegangen:

Le Plaisir vaporeux fuira vers l’horizon

Ainsi qu’une sylphide au fond de la coulisse. 1224

—————

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Подняться наверх