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I Die Bohème

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In aufschlußreichem Zusammenhang kommt die Boheme bei Marx vor. Er rechnet ihr die Verschwörer von Beruf zu, mit denen er sich in der ausführlichen Anzeige der Memoiren des Polizeiagenten de la Hodde beschäftigt, die 1850 in der »Neuen Rheinischen Zeitung« erschienen ist. Die Physiognomie Baudelaires vergegenwärtigen, heißt von der Ähnlichkeit sprechen, die er mit diesem politischen Typus aufweist. Ihn umreißt Marx wie folgt: »Mit der Ausbildung der proletarischen Konspirationen trat das Bedürfniß der Theilung der Arbeit ein; die Mitglieder theilten sich in Gelegenheitsverschwörer, conspirateurs d’occasion, d. h. Arbeiter, die die Verschwörung nur neben ihrer sonstigen Beschäftigung betrieben, nur die Zusammenkünfte besuchten und sich bereit hielten, auf den Befehl der Chefs am Sammelplatz zu erscheinen, und in Konspirateure von Profession, die ihre ganze Thätigkeit der Verschwörung widmeten und von ihr lebten … Die Lebensstellung dieser Klasse bedingt schon von vornherein ihren ganzen Karakter … Ihre schwankende, im Einzelnen mehr vom Zufall als von ihrer Thätigkeit abhängige Existenz, ihr regelloses Leben, dessen einzig fixe Stationen die Kneipen der Weinhändler sind – die Rendezvoushäuser der Verschworenen – ihre unvermeidlichen Bekanntschaften mit allerlei zweideutigen Leuten rangiren sie in jenen Lebenskreis, den man in Paris la bohème nennt.«874875

Im Vorbeigehen ist anzumerken, daß Napoleon III. selbst seinen Aufstieg in einem Milieu begonnen hatte, das mit dem geschilderten kommuniziert. Bekanntlich ist eines der Werkzeuge seiner Präsidialzeit die Gesellschaft vom 10. Dezember gewesen, deren Kaders nach Marx »die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin und her geworfene Masse, die die Franzosen la Bohème nennen«876, gestellt hatte. Während seines Kaisertums hat Napoleon konspirative Gepflogenheiten fortgebildet. Überraschende Proklamationen und Geheimniskrämerei, sprunghafte Ausfälle und undurchdringliche Ironie gehören zur Staatsraison des Second Empire. Dieselben Züge findet man in Baudelaires theoretischen Schriften wieder. Er trägt seine Ansichten meist apodiktisch vor. Diskussion ist seine Sache nicht. Er geht ihr auch dann aus dem Wege, wenn die schroffen Widersprüche in Thesen, die er sich nacheinander zu eigen macht, eine Auseinandersetzung erfordern würden. Den »Salon von 1846« hat er »den Bourgeois« gewidmet; er tritt als ihr Fürsprecher auf, und seine Geste ist nicht die des advocatus diaboli. Späterhin, zum Beispiel in seiner Invektive gegen die Schule des bon sens findet er für die »›honnête‹ bourgeoise« und den Notar, ihre Respektsperson, die Akzente des rabiatesten Bohémien877. Um 1850 proklamiert er, Kunst sei von Nützlichkeit nicht zu trennen; wenige Jahre später vertritt er das l’art pour l’art. In alledem bemüht er sich vor seinem Publikum so wenig um eine Vermittlung wie Napoleon III., wenn er fast über Nacht und hinter dem Rücken des französischen Parlaments vom Schutzzoll zum Freihandel übergeht. Diese Züge machen es immerhin verständlich, daß die offizielle Kritik – Jules Lemaître voran – von den theoretischen Energien, die in Baudelaires Prosa stecken, so wenig spürte.

Marx fährt in seiner Schilderung der conspirateurs de profession folgendermaßen fort: »Die einzige Bedingung der Revolution ist für sie die hinreichende Organisation ihrer Verschwörung … Sie werfen sich auf Erfindungen, die revolutionäre Wunder verrichten sollen; Brandbomben, Zerstörungsmaschinen von magischer Wirkung, Emeuten, die um so wunderthätiger und überraschender wirken sollen, je weniger sie einen rationellen Grund haben. Mit solcher Projektenmacherei beschäftigt, haben sie keinen andern Zweck als den nächsten des Umsturzes der bestehenden Regierung und verachten auf’s tiefste die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen. Daher ihr nicht proletarischer, sondern plebejischer Ärger über die habits noirs (schwarzen Röcke), die mehr oder minder gebildeten Leute, die diese Seite der Bewegung vertreten, von denen sie aber, als von den offiziellen Repräsentanten der Partei, sich nie ganz unabhängig machen können.«878 Die politischen Einsichten Baudelaires gehen grundsätzlich nicht über die dieser Berufsverschwörer hinaus. Ob er seine Sympathien dem klerikalen Rückschritt zuwendet oder sie dem Aufstand von 48 schenkt – ihr Ausdruck bleibt unvermittelt und ihr Fundament brüchig. Das Bild, das er in den Februartagen geboten hat – an irgendeiner pariser Straßenecke ein Gewehr mit den Worten schwingend »Nieder mit General Aupick«879 – ist beweiskräftig. Allenfalls hätte er Flauberts Wort »Von der ganzen Politik verstehe ich nur ein Ding: die Revolte« zu seinem eigenen machen können. Das wäre dann so zu verstehen gewesen wie es der Schlußpassus einer mit seinen Entwürfen über Belgien überlieferten Notiz ergibt: »Ich sage ›es lebe die Revolution!‹ wie ich sagen würde ›es lebe die Zerstörung! es lebe die Buße! es lebe die Züchtigung! es lebe der Tod!‹ Ich würde nicht nur als Opfer glücklich sein; auch den Henker zu spielen, würde mir nicht mißfallen – um die Revolution von beiden Seiten zu fühlen! Wir haben alle republikanischen Geist im Blut wie wir die Syphilis in den Knochen haben; wir sind demokratisch infiziert und syphilitisch.«880

Was Baudelaire so niederlegt, könnte man als die Metaphysik des Provokateurs bezeichnen. In Belgien, wo diese Notiz geschrieben ist, hat er eine Weile als Spitzel der französischen Polizei gegolten. An sich hatten derartige Arrangements so wenig Befremdendes, daß Baudelaire am 20. Dezember 1854 seiner Mutter mit Bezug auf die literarischen Stipendiaten der Polizei schreiben konnte: »Niemals wird mein Name in ihren Schandregistern erscheinen.«881 Was Baudelaire in Belgien den Ruf eintrug, war schwerlich allein die Feindschaft, die er gegen den dort gefeierten proskribierten Hugo an den Tag legte. Anteil an der Entstehung dieses Gerüchts hat seine verwüstende Ironie gehabt; er könnte sich leicht darin gefallen haben, es zu verbreiten. Der culte de la blague, den man bei Georges Sorel wiederfindet und der ein unveräußerliches Bestandstück der faschistischen Propaganda geworden ist, bildet bei Baudelaire seine ersten Fruchtknoten. Der Titel unter, der Geist in dem Céline seine »Bagatelles pour un massacre« geschrieben hat, führt unmittelbar auf eine Baudelairesche Tagebucheintragung zurück: »Eine schöne Konspiration ließe sich zwecks Ausrottung der jüdischen Rasse organisieren.«882 Der Blanquist Rigault, der seine konspirative Laufbahn als Polizeipräsident der pariser Kommune beschloß, scheint den gleichen makabren Humor gehabt zu haben, von dem in Zeugnissen über Baudelaire viel die Rede ist. »Rigault«, heißt es in den »Hommes de la révolution de 1871« von Gh. Proles, »hatte in allen Dingen bei großer Kaltblütigkeit etwas von einem wüsten Witzbold. Das war ihm unveräußerlich, bis in seinen Fanatismus hinein.«883 Selbst der terroristische Wunschtraum, dem Marx bei den conspirateurs begegnet, hat bei Baudelaire sein Gegenstück. »Wenn ich je«, schreibt er am 23. Dezember 1865 an seine Mutter, »die Spannkraft und die Energie wiederfinde, die ich einige Male besessen habe, so werde ich meinem Zorn durch entsetzenerregende Bücher Luft machen. Ich will die ganze Menschenrasse gegen mich aufbringen. Das wäre mir eine Wollust, die mich für alles entschädigen würde.«884 Diese verbissene Wut – la rogne – war die Verfassung, die ein halbes Jahrhundert von Barrikadenkämpfen in pariser Berufsverschwörern genährt hatte.

»Sie sind es«, sagt Marx von diesen Verschwörern, »die die ersten Barrikaden aufwerfen und kommandiren.«885 In der Tat steht im Fixpunkt der konspirativen Bewegung die Barrikade. Sie hat die revolutionäre Tradition für sich. Über viertausend Barrikaden hatten in der Julirevolution die Stadt durchzogen886. Als Fourier nach einem Beispiel für den »travail non salarié mais passionné« Ausschau hält, findet er keines, das näher liegt als der Barrikadenbau. Eindrucksvoll hat Hugo in den »Misérables« das Netz jener Barrikaden festgehalten, indem er ihre Besatzung im Schatten ließ. »Überall wachte die unsichtbare Polizei der Revolte. Sie hielt die Ordnung aufrecht, daß heißt die Nacht … Ein Auge, das von oben her auf diese aufgetürmten Schatten herabgeblickt hätte, wäre vielleicht an verstreuten Stellen auf einen undeutlichen Schein gestoßen, der gebrochene, willkürlich verlaufende Umrisse zu erkennen gab, Profile merkwürdiger Konstruktionen. In diesen Ruinen bewegte sich etwas, das Lichtern ähnelte. An diesen Stellen waren die Barrikaden.«887 In der Bruchstück verbliebenen Anrede an Paris, die die »Fleurs du mal« abschließen sollte, nimmt Baudelaire von der Stadt nicht Abschied, ohne ihre Barrikaden heraufzurufen; er gedenkt ihrer »magischen Pflastersteine, welche sich zu Festungen in die Höhe türmen«888. ›Magisch‹ sind diese Steine freilich, indem Baudelaires Gedicht die Hände nicht kennt, die sie in Bewegung gesetzt haben. Aber eben dieses Pathos dürfte dem Blanquismus verpflichtet sein. Denn ähnlich ruft der Blanquist Tridon: »O force, reine des barricades, … toi qui brilles dans l’éclair et dans l’émeute … c’est vers toi que les prisonniers tendent leurs mains enchaînées.«889 Am Ende der Kommune tastete sich das Proletariat, wie ein zu Tode getroffenes Tier in seinen Bau, hinter die Barrikade zurück. Daß die Arbeiter, im Barrikadenkampfe geschult, der offenen Schlacht, die Thiers den Weg hätte verlegen müssen, nicht gewogen waren, hat mit Schuld an der Niederlage getragen. Diese Arbeiter zogen, wie einer der jüngsten Historiker der Kommune schreibt, »dem Treffen im freien Felde die Schlacht im eigenen Quartier … und, wenn es sein mußte, den Tod hinter dem zur Barrikade getürmten Pflaster einer Straße von Paris vor«890.

Der bedeutendste der pariser Barrikadenchefs, Blanqui, saß damals in seinem letzten Gefängnis, dem Fort du Taureau. In ihm und seinen Genossen sah Marx in seinem Rückblick auf die Junirevolution »die wirklichen Führer der proletarischen Partei«891. Man kann sich von dem revolutionären Prestige, das Blanqui damals besessen und bis zu seinem Tode bewahrt hat, schwerlich einen zu hohen Begriff machen. Vor Lenin gab es keinen, der im Proletariat deutlichere Züge gehabt hätte. Sie haben sich auch Baudelaire eingeprägt. Es gibt ein Blatt von ihm, das neben andern improvisierten Zeichnungen den Kopf von Blanqui aufweist. – Die Begriffe, die Marx in seiner Darstellung der konspirativen Milieus in Paris heranzieht, lassen die Zwitterstellung, die Blanqui darin einnahm, erst recht erkennen. Es hat einerseits seine guten Gründe, wenn Blanqui als Putschist in die Überlieferung einging. Ihr stellt er den Typus des Politikers dar, der es, wie Marx sagt, als seine Aufgabe ansieht, »dem revolutionären Entwicklungsprozeß vorzugreifen, ihn künstlich zur Krise zu treiben, eine Revolution aus dem Stegreif, ohne die Bedingungen einer Revolution zu machen«892. Hält man, auf der andern Seite, Beschreibungen, die man über Blanqui besitzt, dagegen, so scheint er vielmehr einem der habits noirs zu gleichen, an denen jene Berufsverschwörer ihre mißliebigen Konkurrenten hatten. Folgendermaßen beschreibt ein Augenzeuge den Blanquischen Klub der Hallen: »Will man einen genauen Begriff von dem Eindruck bekommen, den man vom ersten Augenblick an von Blanquis revolutionärem Klub im Vergleich zu den beiden Klubs hatte, die die Ordnungspartei damals … besaß, so denkt man sich am besten das Publikum der Comédie Française an einem Tage, wo Racine und Corneille gespielt wird, neben der Volksmenge, die einen Zirkus füllt, in dem Akrobaten halsbrecherische Kunststücke vorführen. Man befand sich gleichsam in einer Kapelle, die dem orthodoxen Ritus der Konspiration geweiht war. Die Türen standen jedermann offen, aber man kam nur wieder, wenn man Adept war. Nach dem verdrießlichen Defilee der Unterdrückten … erhob sich der Priester dieser Stätte. Sein Vorwand war, die Beschwerden seines Klienten zu resümieren, des Volks, das von dem halben Dutzend anmaßender und gereizter Dummköpfe, die man eben gehört hatte, repräsentiert wurde. In Wirklichkeit setzte er die Lage auseinander. Sein Äußeres war distinguiert, seine Kleidung tadellos; sein Kopf war feingebildet; sein Ausdruck still; nur ein unheilverkündender, wilder Blitz fuhr manchmal durch seine Augen. Sie waren schmal, klein und durchdringend; für gewöhnlich sahen sie eher wohlwollend darein als hart. Seine Redeweise war maßvoll, väterlich und deutlich; die wenigst deklamatorische Redeweise, die ich neben der von Thiers je gehört habe.«893 Blanqui erscheint hier als Doktrinär. Das Signalement des habit noir bestätigt sich bis in kleine Dinge. Es war bekannt, daß ›der Alte‹ in schwarzen Handschuhen zu dozieren pflegte894. Aber der gemessene Ernst, die Undurchdringlichkeit, welche Blanqui eignen, sehen anders in der Beleuchtung aus, in welche eine Bemerkung von Marx sie stellt. »Sie sind«, schreibt er von diesen Berufsverschwörern, »die Alchymisten der Revolution und theilen ganz die Ideenzerrüttung und die Bornirtheit in fixen Vorstellungen der früheren Alchymisten.«895 Damit stellt sich Baudelaires Bild wie von selber ein: der Rätselkram der Allegorie beim einen, die Geheimniskrämerei des Verschwörers beim anderen.

Abschätzig, wie es sich nicht anders erwarten läßt, redet Marx von den Kneipwirtschaften, in denen der niedere Konspirateur sich zuhause fühlte. Der Dunst, der sich dort niederschlug, war auch Baudelaire vertraut. In ihm hat sich das große Gedicht entfaltet, das »Le vin des chiffonniers« überschrieben ist. Seine Entstehung wird man in die Jahrhundertmitte verlegen dürfen. Damals wurden Motive, die in diesem Stück anklingen, in der Öffentlichkeit erörtert. Es ging, einmal, um die Weinsteuer. Die konstituierende Versammlung der Republik hatte ihre Abschaffung zugesagt, so wie sie schon 1830 zugesagt worden war. In den »Klassenkämpfen in Frankreich« hat Marx gezeigt, wie sich in der Beseitigung dieser Steuer eine Forderung des städtischen Proletariats mit der Forderung der Bauern begegnete. Die Steuer, die den Konsumwein in gleicher Höhe belastete wie den gepflegtesten, verminderte den Verbrauch, »indem sie an den Thoren aller Städte über 4000 Einwohner Oktrois errichtet und jede Stadt in ein fremdes Land mit Schutzzöllen gegen den französischen Wein verwandelt«896 hatte. »An der Weinsteuer«, sagt Marx, »erprobt der Bauer das Bouquet der Regierung.« Sie schädigte aber den Städter auch und zwang ihn, um billigen Wein zu finden, in die Wirtschaften vor der Stadt zu ziehen. Dort wurde der steuerfreie Wein ausgeschenkt, den man den vin de la barrière nannte. Der Arbeiter stellte seinen Genuß daran, wenn man dem Sektionschef im Polizeipräsidium H.-A. Frégier glauben darf, als den einzig ihm vergönnten, voller Stolz und voll Trotz zur Schau. »Es gibt Frauen, die keinen Anstand nehmen, mit ihren Kindern, die schon arbeiten könnten, ihrem Mann zur barrière zu folgen … Man macht sich danach halb berauscht auf den Heimweg und stellt sich betrunkener als man ist, damit es in aller Augen deutlich sei, daß man getrunken hat, und nicht wenig. Manchmal tun es dabei die Kinder den Eltern nach.«897 »So viel steht fest«, schreibt ein zeitgenössischer Beobachter, »daß der Wein der barrières dem Regierungsgerüst nicht wenige Stöße erspart hat.«898 Der Wein eröffnet den Enterbten Träume von künftiger Rache und künftiger Herrlichkeit. So im »Wein der Lumpensammler«:

On voit un chiffonnier qui vient, hochant la tête,

Buttant, et se cognant aux murs comme un poëte,

Et, sans prendre souci des mouchards, ses sujets,

Epanche tout son cœur en glorieux projets.

Il prête des serments, dicte des lois sublimes,

Terrasse les méchants, relève les victimes,

Et sous le firmament comme un dais suspendu

S’enivre des splendeurs de sa propre vertu. 899

Lumpensammler traten in größerer Zahl in den Städten auf, seitdem durch die neuen industriellen Verfahren der Abfall einen gewissen Wert bekommen hatte. Sie arbeiteten für Zwischenmeister und stellten eine Art Heimindustrie dar, die auf der Straße lag. Der Lumpensammler faszinierte seine Epoche. Die Blicke der ersten Erforscher des Pauperismus hingen an ihm wie gebannt mit der stummen Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei. Frégier widmet ihm in seinem Buche »Des classes dangereuses de la population« sechs Seiten. Le Play gibt für die Zeit zwischen 1849 und 1850, mutmaßlich die, in der Baudelaires Gedicht entstanden ist, das Budget eines pariser Lumpensammlers und seiner Angehörigen900.

Der Lumpensammler kann natürlich nicht zur Bohème zählen. Aber vom Literaten bis zum Berufsverschwörer konnte jeder, der zur Bohème gehörte, im Lumpensammler ein Stück von sich wiederfinden. Jeder stand, in mehr oder minder dumpfem Aufbegehren gegen die Gesellschaft, vor einem mehr oder minder prekären Morgen. Er konnte zu seiner Stunde mit denen fühlen, die an den Grundfesten dieser Gesellschaft rüttelten. Der Lumpensammler ist in seinem Traum nicht allein. Es begleiten ihn Kameraden; auch um sie ist der Duft von Fässern, und auch sie sind ergraut in Schlachten. Sein Schnurrbart hängt herunter wie eine alte Fahne. Auf seiner Runde begegnen ihm die mouchards, die Spitzel, über die ihm seine Träume die Herrschaft geben901. Soziale Motive aus dem pariser Alltag begegnen schon bei Sainte-Beuve. Sie waren dort eine Eroberung der lyrischen Poesie; eine der Einsicht aber darum noch nicht. Elend und Alkohol gehen im Geiste des gebildeten Privatiers eine wesentlich andere Verbindung ein als in dem eines Baudelaire.

Dans ce cabriolet de place j’examine

L’homme qui me conduit, qui n’est plus que machine,

Hideux, à barbe épaisse, à longs cheveux collés:

Vice et vin et sommeil chargent ses yeux soûlés.

Comment l’homme peut-il ainsi tomber? pensais-je,

Et je me reculais à l’autre coin du siège. 902

Soweit der Anfang des Stücks; was folgt, ist die erbauliche Auslegung. Sainte-Beuve stellt sich die Frage, ob seine Seele nicht ähnlich verwahrlost sei wie die des Mietkutschers.

Auf welchem Untergrunde der freiere und verständigere Begriff beruht, welchen Baudelaire von den Enterbten hatte, zeigt die »Abel et Caïn« überschriebene Litanei. Sie macht aus dem Widerstreit der biblischen Brüder den zweier auf ewig unversöhnlicher Rassen.

Race d’Abel, dors, bois et mange;

Dieu te sourit complaisamment.

Race de Caïn, dans la fange

Rampe et meurs misérablement.903

Das Gedicht besteht aus sechzehn Zweizeilern, deren Beginn, alternierend, der gleiche ist wie der der vorstehenden. Kain, der Ahnherr der Enterbten, erscheint darin als Begründer einer Rasse, und diese kann keine andere sein als die proletarische. Im Jahre 1838 veröffentlichte Granier de Cassagnac seine »Histoire des classes ouvrières et des classes bourgeoises«. Dieses Werk wußte den Ursprung der Proletarier bekanntzugeben; sie formieren eine Klasse von Untermenschen, die aus einer Kreuzung von Räubern und Prostituierten entstanden ist. Hat Baudelaire diese Spekulationen gekannt? Es ist leicht möglich. Gewiß ist, daß sie Marx, der in Granier de Cassagnac »den Denker« der bonapartistischen Reaktion grüßte, begegnet waren. Dessen Rassentheorie parierte das »Kapital« im Begriff einer »Rasse eigentümlicher Warenbesitzer«904, unter der es das Proletariat versteht. Genau in diesem Sinne erscheint die Rasse, die von Kain herkommt, bei Baudelaire. Er hätte ihn freilich nicht definieren können. Es ist die Rasse derer, die keine andere Ware besitzen als ihre Arbeitskraft.

Baudelaires Gedicht steht in dem »Revolte« überschriebenen Zyklus905. Die drei Stücke, die ihn zusammensetzen, halten einen blasphemischen Grundton fest. Der Satanismus von Baudelaire darf nicht allzu schwer genommen werden. Wenn er von einiger Bedeutung ist, so als die einzige Attitude, in der Baudelaire eine nonkonformistische Position auf die Dauer zu halten imstande war. Das letzte Stück des Zyklus, »Les litanies de Satan«, ist, seinem theologischen Inhalt nach, das miserere einer ophitischen Liturgie. Satan erscheint in seinem luziferischen Strahlenkranz: als Verwahrer des tiefen Wissens, als Unterweiser in den prometheischen Fertigkeiten, als Schutzpatron der Verstockten und Unbeugsamen. Zwischen den Zeilen blitzt das finstere Haupt Blanquis auf.

Toi qui fais au proscrit ce regard calme et haut

Qui damne tout un peuple autour d’un échafaud. 906

Dieser Satan, den die Kette der Anrufungen auch als den »Beichtvater … der Verschwörer« kennt, ist ein anderer als der höllische Intrigant, den die Gedichte mit dem Namen des Satan trismegistos, des Dämon, die Prosastücke mit dem Ihrer Hoheit nennen, die ihre unterirdische Wohnung in der Nähe des Boulevards hat. Lemaître hat auf den Zwiespalt hingewiesen, der aus dem Teufel hier »einmal den Urheber alles Bösen, dann wieder den großen Besiegten, das große Opfer«907 macht. Es heißt das Problem nur anders wenden, wenn man die Frage aufwirft, was Baudelaire nötigte, der radikalen Absage an die Herrschenden eine radikal-theologische Form zu geben.

Der Protest gegen die bürgerlichen Begriffe von Ordnung und Ehrbarkeit war nach der Niederlage des Proletariats im Junikampf bei den Herrschenden besser aufgehoben als bei den Unterdrückten. Die, welche sich zu Freiheit und Recht bekannten, erblickten in Napoleon III. nicht den Soldatenkaiser, der er in Nachfolge seines Oheims sein wollte, sondern den vom Glück begünstigten Hochstapler. So haben die »Châtiments« seine Figur festgehalten. Die Bohème dorée ihrerseits sah in seinen rauschenden Festlichkeiten, in dem Hofstaat, mit welchem er sich umgab, ihre Träume von einem ›freien‹ Leben in der Wirklichkeit angesiedelt. Die Memoiren, in denen der Graf Viel-Castel die Umgebung des Kaisers schildert, lassen eine Mimi und einen Schaunard als recht ehrbar und spießbürgerlich erscheinen. In der oberen Schicht gehörte der Zynismus zum guten Ton, das rebellische Räsonnement in der unteren. Vigny hatte in seinem »Eloa« dem gefallenen Engel, dem Luzifer, auf Byrons Spur im gnostischen Sinn gehuldigt. Barthélemy, auf der anderen Seite, hatte in seiner »Némésis« den Satanismus den Herrschenden zugesellt; er ließ eine Messe des agios sagen und einen Psalm von der Rente absingen908. Dieses Doppelgesicht des Satans ist Baudelaire durch und durch vertraut. Ihm spricht der Satan nicht nur für die Unteren sondern auch für die Oberen. Marx hätte sich kaum einen besseren Leser für die folgenden Zeilen wünschen können. »Als die Puritaner«, so heißt es im »Achtzehnten Brumaire«, »auf dem Konzil von Konstanz über das lasterhafte Leben der Päpste klagten …, donnerte der Kardinal Pierre d’Ailly ihnen zu: ›Nur noch der Teufel in eigener Person kann die katholische Kirche retten, und ihr verlangt Engel.‹ So rief die französische Bourgeoisie nach dem Staatsstreich: Nur noch der Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember kann die bürgerliche Gesellschaft retten! Nur noch der Diebstahl das Eigentum, der Meineid die Religion, das Bastardtum die Familie, die Unordnung die Ordnung.«909 Baudelaire, der Bewunderer der Jesuiten, wollte, auch in seinen rebellischen Stunden, diesem Retter nicht ganz aufsagen und nicht für immer. Seine Verse behielten sich vor, was seine Prosa sich nicht verboten hatte. Darum stellt sich der Satan in ihnen ein. Ihm danken sie die subtile Kraft, noch im verzweifelten Aufbegehren dem die Gefolgschaft nicht ganz zu kündigen, wogegen Einsicht und Menschlichkeit sich empörten. Fast immer dringt das Bekenntnis der Frömmigkeit wie ein Streitruf aus Baudelaire. Er will sich seinen Satan nicht nehmen lassen. Der ist der wahre Einsatz in dem Konflikt, den Baudelaire mit seinem Unglauben zu bestehen hatte. Es geht nicht um Sakramente und um Gebet; es geht um den luziferischen Vorbehalt, den Satan zu lästern, dem man verfallen ist.

Mit seiner Freundschaft zu Pierre Dupont hat sich Baudelaire als sozialer Dichter bekennen wollen. Die kritischen Schriften von d’Aurevilly geben von diesem Autor eine Skizze: »In diesem Talent und in diesem Kopfe hat Kain über den sanften Abel die Oberhand – der rohe, ausgehungerte, neiderfüllte und wilde Kain, der in die Städte gegangen ist, um die Hefe des Grolls zu schlürfen, die sich dort ansammelt, und Teil an den falschen Ideen zu haben, die dort ihren Triumph erleben.«910 Diese Charakteristik sagt recht genau, was Baudelaire mit Dupont solidarisch machte. Wie Kain ist Dupont »in die Städte gegangen« und hat sich von der Idylle abgewandt. »Das Lied, wie es von unsem Vätern verstanden wurde …, ja selbst die schlichte Romanze liegt ihm ganz fern.«911 Dupont hat die Krise der lyrischen Dichtung mit dem fortschreitenden Zerfall zwischen Stadt und Land kommen fühlen. Einer seiner Verse gesteht das, unbeholfen; er sagt, daß der Dichter »abwechselnd den Wäldern sein Ohr leihe und der Masse«. Die Massen haben ihm seine Aufmerksamkeit entgolten; Dupont war um 1848 in aller Munde. Als die Errungenschaften der Revolution eine nach der andern verloren gingen, dichtete Dupont sein »Chant du vote«. In der politischen Dichtung dieser Zeit gibt es Weniges, was sich mit dessen Refrain messen kann. Er ist ein Blatt von dem Lorbeer, den Karl Marx damals für die »drohend finstere Stirn«912 der Junikämpfer in Anspruch nahm.

Fais voir, en déjouant la ruse,

O République! à ces pervers,

Ta grande face de Méduse

Au milieu de rouges éclairs! 913

Ein Akt literarischer Strategie war die Einleitung, die Baudelaire 1851 zu einer Lieferung Dupontscher Gedichte beisteuerte. Man findet darin die folgenden merkwürdigen Aussprüche: »Die lächerliche Theorie der Schule des l’art pour l’art schloß die Moral aus und oft selbst die Leidenschaft; sie wurde dadurch notwendig unfruchtbar.« Und weiter, mit offenbarer Beziehung auf Auguste Barbier: »Als ein Dichter, der trotz manchem gelegentlichen Ungeschick sich fast immer groß bewährte, auftrat und die Heiligkeit der Julirevolution proklamierte, dann in ebenso flammenden Versen Gedichte auf das Elend in England und Irland schrieb, … war die Frage ein für allemal abgetan und fortan die Kunst untrennbar von der Moral wie von der Nützlichkeit.«914 Das hat nichts von der tiefen Duplizität, von der Baudelaires eigene Dichtung beflügelt wird. Sie nahm sich der Unterdrückten an, aber ebenso ihrer Illusionen wie ihrer Sache. Sie hatte ein Ohr für die Gesänge der Revolution, aber auch ein Ohr für die ›höhere Stimme‹, die aus dem Trommelwirbel der Exekutionen spricht. Als Bonaparte durch den Staatsstreich zur Herrschaft kommt, ist Baudelaire einen Augenblick aufgebracht. »Dann faßt er die Ereignisse vom ›providentiellen Gesichtspunkt‹ her ins Auge und unterwirft sich wie ein Mönch.«915 »Theokratie und Kommunismus«916 waren ihm nicht Überzeugungen sondern Einflüsterungen, die sich sein Ohr streitig machten: die eine nicht so seraphisch, die andere nicht so luziferisch wie er wohl meinte. Nicht lange, so hatte Baudelaire sein revolutionäres Manifest preisgegeben und nach einer Reihe von Jahren schreibt er: »Der Grazie und der weiblichen Zartheit seiner Natur verdankt Dupont seine ersten Lieder. Zum Glück hat die revolutionäre Aktivität, welche damals fast alle mit sich riß, ihn nicht ganz von seinem natürlichen Weg abgelenkt.«917 Der schroffe Bruch mit dem l’art pour l’art hatte nur als Haltung für Baudelaire seinen Wert. Er erlaubte ihm, den Spielraum bekanntzugeben, der ihm als Literat zur Verfügung stand. Ihn hatte er vor den Schriftstellern seiner Zeit voraus – die größten unter ihnen nicht ausgenommen. Damit wird ersichtlich, worin er über dem literarischen Betrieb stand, der ihn umgab.

Der literarische Tagesbetrieb hatte sich hundertundfünfzig Jahre lang um Zeitschriften bewegt. Gegen Ende des ersten Jahrhundertdrittels begann das sich zu ändern. Die schöne Literatur bekam durch das Feuilleton einen Absatzmarkt in der Tageszeitung. In der Einführung des Feuilletons resümieren sich die Veränderungen, die die Julirevolution der Presse gebracht hatte. Einzelnummern von Zeitungen durften unter der Restauration nicht verkauft werden; man konnte ein Blatt nur als Abonnent beziehen. Wer den hohen Betrag von 80 Francs für das Jahresabonnement nicht bestreiten konnte, war auf Cafés angewiesen, in denen man oft zu mehreren um eine Nummer stand. 1824 gab es in Paris 47 000 Bezieher von Zeitungen, 1836 waren es 70 und 1846 200 Tausend. Eine entscheidende Rolle hatte bei diesem Aufstieg Girardins Zeitung »La Presse« gespielt. Sie hatte drei wichtige Neuerungen gebracht: die Herabsetzung des Abonnementspreises auf 40 Francs, das Inserat sowie den Feuilletonroman. Gleichzeitig begann die kurze, abrupte Information dem gesetzten Bericht Konkurrenz zu machen. Sie empfahl sich durch ihre merkantile Verwertbarkeit. Die sogenannte ›réclame‹ brach ihr freie Bahn: Darunter verstand man eine dem Ansehen nach unabhängige, in Wahrheit vom Verleger bezahlte Notiz, mit der im redaktionellen Teil auf ein Buch hingewiesen wurde, dem am Vortage oder auch in der gleichen Nummer ein Inserat vorbehalten war. Sainte-Beuve klagte schon 1839 über ihre demoralisierenden Wirkungen. »Wie konnte man« im kritischen Teil »ein Erzeugnis verdammen …, von dem zwei Fingerbreit tiefer zu lesen stand, daß es ein Wunderwerk der Epoche sei. Die Anziehungskraft der immer größer werdenden Lettern des Inserats bekam die Oberhand: es stellte einen Magnetberg dar, der den Kompaß ablenkte.«918 Die ›réclame‹ steht am Anfang einer Entwicklung, deren Ende die von den Interessenten bezahlte Börsennotiz der Journale ist. Schwerlich kann die Geschichte der Information von der der Pressekorruption getrennt geschrieben werden.

Die Information brauchte wenig Platz; sie, nicht der politische Leitartikel noch der Roman im Feuilleton, verhalf dem Blatt zu dem tagtäglich neuen, im Umbruch klug variierten Aussehen, in dem ein Teil seines Reizes lag. Sie mußte ständig erneuert werden: Stadtklatsch, Theaterintrigen, auch ›Wissenswertes‹ gaben ihre beliebtesten Quellen ab. Die ihr eigene billige Eleganz, die für das Feuilleton so bezeichnend wird, ist ihr von Anfang an abzusehen. Mme de Girardin begrüßt in ihren »Pariser Briefen« die Photographie wie folgt: »Man beschäftigt sich derzeit viel mit der Erfindung des Herrn Daguerre, und nichts ist possierlicher als die seriösen Erläuterungen, die unsere Salongelehrten von ihr zu geben wissen. Herr Daguerre darf unbesorgt sein, man wird ihm sein Geheimnis nicht rauben … Wirklich, seine Entdeckung ist wundervoll; aber man versteht nichts von ihr; sie ist zu viel erklärt worden.«919 Nicht so bald und nicht überall fand man sich mit dem Feuilletonstil ab. 1860 und 68 erschienen in Marseille und Paris die beiden Bände der »Revues parisiennes« von dem Baron Gaston de Flotte. Sie machten es sich zur Aufgabe, gegen die Leichtfertigkeit der historischen Angaben, ganz besonders im Feuilleton der pariser Presse, anzukämpfen. – Im Café, beim Aperitif kam das Füllwerk der Information zustande. »Die Gepflogenheit des Aperitifs … stellte sich mit dem Aufkommen der Boulevardpresse ein. Früher, als es nur die großen, seriösen Blätter gab … kannte man keine Stunde des Aperitifs. Sie ist die logische Folge der ›Pariser Chronik‹ und des Stadtklatsches.«920 Der Kaffeehausbetrieb spielte die Redakteure auf das Tempo des Nachrichtendienstes ein, ehe noch dessen Apparatur entwickelt war. Als der elektrische Telegraph gegen Ende des Second Empire in Gebrauch kam, hatte der Boulevard sein Monopol verloren. Die Unglücksfälle und die Verbrechen konnten nunmehr aus aller Welt bezogen werden.

Die Assimilierung des Literaten an die Gesellschaft, in der er stand, vollzog sich dergestalt auf dem Boulevard. Auf dem Boulevard hielt er sich dem nächstbesten Zwischenfall, Witzwort oder Gerücht zur Verfügung. Auf dem Boulevard entfaltete er die Draperie seiner Beziehungen zu Kollegen und Lebeleuten; und er war auf deren Effekte so angewiesen wie die Kokotten auf ihre Verkleidungskunst921. Auf dem Boulevard bringt er seine müßigen Stunden zu, die er als einen Teil seiner Arbeitszeit vor den Leuten ausstellt. Er verhält sich als ob er von Marx gelernt hätte, daß der Wert jeder Ware durch die zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt ist. Der Wert seiner eigenen Arbeitskraft bekommt dergestalt angesichts des ausgedehnten Nichtstuns, das in den Augen des Publikums für ihre Vervollkommnung nötig ist, etwas beinahe Phantastisches. Mit solcher Schätzung stand das Publikum nicht allein. Das hohe Entgelt des damaligen Feuilletons zeigt, daß sie in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet war. In der Tat bestand ein Zusammenhang zwischen der Senkung der Abonnementsgebühren, dem Aufschwung des Inseratenwesens und der wachsenden Bedeutung des Feuilletons.

»Auf Grund des neuen Arrangements« – der Herabsetzung der Abonnementsgebühren – »muß das Blatt von der Annonce leben …; um viele Annoncen zu erhalten, mußte die viertel Seite, die zur Affiche geworden war, einer möglichst großen Anzahl von Abonnenten zu Gesicht kommen. Es wurde ein Köder nötig, der sich an alle ohne Ansehen ihrer Privatmeinung richtete, und der seinen Wert darin hatte, die Neugier an die Stelle der Politik zu setzen … War der Ausgangspunkt, der Abonnementspreis von 40 Francs, einmal gegeben, so gelangte man über das Inserat fast mit absoluter Notwendigkeit zum Feuilletonroman.«922 Eben das erklärt die hohe Dotierung dieser Beiträge. 1845 schloß Dumas mit dem »Constitutionnel« und der »Presse« einen Vertrag, in dem ihm für fünf Jahre ein jährliches Mindesthonorar von 63 000 Francs bei einer jährlichen Mindestproduktion von achtzehn Bänden ausgesetzt wurde923. Eugène Sue erhielt für die »Mystères de Paris« eine Anzahlung von 100 000 Francs. Die Honorare von Lamartine hat man für den Zeitraum von 1838 bis 1851 auf 5 Millionen Francs berechnet. Für die »Histoire des Girondins«, welche zuerst als Feuilleton erschienen war, hatte er 600 000 Francs bezogen. Die üppige Honorierung von literarischer Tagesware führte notwendig zu Übelständen. Es kam vor, daß Verleger sich beim Erwerb von Manuskripten das Recht vorbehielten, sie von einem Verfasser ihrer Wahl zeichnen zu lassen. Das setzte voraus, daß einige erfolgreiche Romanciers mit ihrer Unterschrift nicht heikel waren. Näheres darüber berichtet ein Pamphlet »Fabrique de romans, Maison Alexandre Dumas et Cie«924. Die »Revue des deux mondes« schrieb damals: »Wer kennt die Titel aller Bücher, die Herr Dumas gezeichnet hat? Kennt er sie selber? Wenn er nicht ein Journal mit ›Soll‹ und ›Haben‹ führt, so hat er bestimmt … mehr als eines der Kinder vergessen, von denen er der legitime, der natürliche oder der Adoptivvater ist.«925 Es ging die Sage, Dumas beschäftige in seinen Kellern eine ganze Kompagnie armer Literaten. Noch zehn Jahre nach den Feststellungen der großen Revue – 1855 – findet man in einem kleinen Organ der Bohème die folgende pittoreske Darstellung aus dem Leben eines erfolgreichen Romanciers, den der Autor de Santis nennt: »Zuhause angekommen, schließt Herr de Santis sorgfältig ab … und öffnet eine kleine hinter seiner Bibliothek verborgene Tür. – Er befindet sich damit in einem ziemlich schmutzigen, schlecht beleuchteten Kabinett. Da sitzt, einen langen Gänsekiel in der Hand, mit verwirrtem Haar ein düster doch unterwürfig blickender Mann. In ihm erkennt man auf eine Meile den wahren Romancier von Geblüt, wenn es auch nur ein ehemaliger Ministerialangestellter ist, der die Kunst Balzacs bei der Lektüre des ›Constitutionnel‹ erlernt hat. Der wahre Verfasser der ›Schädelkammer‹ ist er; er ist der Romancier.«926927 Unter der zweiten Republik versuchte das Parlament gegen das Überhandnehmen des Feuilletons anzukämpfen. Man belegte die Romanfortsetzungen Stück für Stück mit einer Steuer von einem Centime. Mit den reaktionären Pressgesetzen, die durch Beschränkung der Meinungsfreiheit dem Feuilleton erhöhten Wert gaben, trat die Vorschrift nach kurzer Frist außer Kraft.

Die hohe Dotierung des Feuilletons verbunden mit seinem großen Absatz verhalf den Schriftstellern, die es belieferten, zu einem großen Namen im Publikum. Es lag für den Einzelnen nicht fern, seinen Ruf und seine Mittel kombiniert einzusetzen: die politische Karriere erschloß sich ihm fast von selbst. Damit ergaben sich neue Formen der Korruption, und sie waren folgenreicher als der Mißbrauch bekannter Autorennamen. War der politische Ehrgeiz des Literaten einmal erwacht, so lag es für das Regime nahe, ihm den richtigen Weg zu weisen. 1846 bot Salvandy, der Kolonialminister, Alexandre Dumas an, auf Regierungskosten – das Unternehmen war mit 10 000 Francs bedacht – eine Reise nach Tunis zu unternehmen, um die Kolonien zu propagieren. Die Expedition mißriet, verschlang viel Geld und endete mit einer kleinen Anfrage in der Kammer. Glücklicher war Sue, der auf Grund des Erfolges seiner »Mystères de Paris« nicht nur die Abonnentenzahl des »Constitutionnel« von 3600 auf 20 000 brachte, sondern 1850 mit 130 000 Stimmen der Arbeiter von Paris zum Deputierten gewählt wurde. Die proletarischen Wähler gewannen damit nicht viel; Marx nennt die Wahl einen »sentimental abschwächenden Kommentar«928 der vorangegangenen Mandatsgewinne. Wenn so die Literatur den Bevorzugten eine politische Laufbahn eröffnen konnte, so ist diese Laufbahn ihrerseits für die kritische Betrachtung ihrer Schriften verwertbar. Lamartine bietet dafür ein Beispiel dar. Lamartines entscheidende Erfolge, die »Méditations« und die »Harmonies«, reichen in die Zeit zurück, in der das französische Bauerntum noch im Genuß des eroberten Ackers stand. In einem naiven Vers an Alphonse Karr hat der Dichter sein Schaffen dem eines Weinbauern gleichgestellt:

Tout homme avec fierté peut vendre sa sueur!

Je vends ma grappe en fruit comme tu vends ta fleur,

Heureux quand son nectar, sous mon pied qui la foule,

Dans mes tonneaux nombreux en ruisseaux d’ambre coule,

Produisant à son maître, ivre de sa cherté,

Beaucoup d’or pour payer beaucoup de liberté! 929

Diese Zeilen, in denen Lamartine seine Prosperität als eine bäuerliche lobt und der Honorare sich rühmt, die ihm sein Produkt auf dem Markt verschafft, sind aufschlußreich, wenn man sie minder von der moralischen Seite”930 denn als einen Ausdruck von Lamartines Klassengefühl betrachtet. Es war das des Parzellenbauern. Darin liegt ein Stück Geschichte von Lamartines Poesie. Die Lage des Parzellenbauern war in den vierziger Jahren kritisch geworden. Er war verschuldet. Seine Parzelle lag »nicht mehr im sogenannten Vaterland, sondern im Hypothekenbuch«931. Damit war der bäuerliche Optimismus, die Grundlage der verklärenden Anschauung der Natur, die Lamartines Lyrik eigen ist, in Verfall geraten. »Wenn die neu entstandene Parzelle in ihrem Einklang mit der Gesellschaft, in ihrer Abhängigkeit von den Naturgewalten und ihrer Unterwerfung unter die Autorität, die sie von oben beschützte, natürlich religiös war, wird die schuldzerrüttete, mit der Gesellschaft und der Autorität zerfallene, über ihre eigene Beschränktheit hinausgetriebene Parzelle natürlich irreligiös. Der Himmel war eine ganz schöne Zugabe zu dem eben gewonnenen schmalen Erdstrich, zumal da er das Wetter macht; er wird zum Insult, sobald er als Ersatz für die Parzelle aufgedrängt wird.«932 An eben diesem Himmel waren die Gedichte Lamartines Wolkengebilde gewesen, wie denn Sainte-Beuve schon 1830 geschrieben hatte: »Die Dichtung von André Chénier … ist gewissermaßen die Landschaft, über der Lamartine den Himmel ausgespannt hat.«933 Dieser Himmel stürzte für immer ein, als die französischen Bauern 1849 für die Präsidentschaft von Bonaparte stimmten. Lamartine hatte ihr Votum mit vorbereitet934. »Er hätte wohl nicht gedacht«, schreibt über seine Rolle in der Revolution Sainte-Beuve, »daß er bestimmt war, der Orpheus zu werden, welcher mit seinem güldenen Bogen jenen Einfall der Barbaren lenken und mäßigen sollte.«935 Baudelaire nennt ihn trocken »ein bißchen hurig, ein bißchen prostituiert«936.

Für die problematischen Seiten dieser glanzvollen Erscheinung hat schwerlich einer einen schärferen Blick besessen als Baudelaire. Das mag damit zusammenhängen, daß er selber seit jeher wenig Glanz auf sich hatte ruhen fühlen. Porché meint, es sehe ganz danach aus, als habe Baudelaire nicht die Wahl gehabt, wo er seine Manuskripte placieren könne937. »Baudelaire«, schreibt Ernest Raynaud, »hatte mit … Gaunersitten zu rechnen; er hatte es mit Herausgebern zu tun, die auf die Eitelkeit der Leute von Welt, der Amateure und der Anfänger spekulierten und welche Manuskripte nur annahmen, wenn man Abonnements zeichnete.«938 Baudelaires eigenes Verhalten entspricht dieser Sachlage. Er stellt das gleiche Manuskript mehreren Redaktionen zur Verfügung, vergibt Zweitdrucke, ohne sie als solche zu kennzeichnen. Er hat den literarischen Markt schon früh völlig illusionslos betrachtet. 1846 schreibt er: »So schön ein Haus sein mag, es hat vor allem einmal – und ehe man sich bei seiner Schönheit aufhält – soundsoviel Meter Höhe und soundsoviel Meter Länge. – Ebenso ist die Literatur, welche die unschätzbarste Substanz darstellt, vor allem Zeilenfüllung; und der literarische Architekt, dem nicht schon sein bloßer Name einen Gewinn verspricht, muß zu jedem Preise verkaufen.«939 Bis an sein Ende blieb Baudelaire auf dem literarischen Markt schlecht placiert. Man hat berechnet, daß er mit seinem gesamten Werk nicht mehr als 15 000 Francs verdient hat.

»Balzac richtet sich mit Kaffee zu Grunde, Müsset stumpft sich durch Absinthgenuß ab …, Murger stirbt … in einer Heilanstalt wie eben jetzt Baudelaire. Und nicht einer dieser Schriftsteller ist Sozialist gewesen!«940 schreibt der Privatsekretär von Sainte-Beuve, Jules Troubat. Baudelaire hat die Anerkennung, die der letzte Satz ihm zollen wollte, gewiß verdient. Aber er war darum nicht ohne Einsicht in die wirkliche Lage des Literaten. Ihn – und sich selber an erster Stelle – mit der Hure zu konfrontieren, war ihm geläufig. Das Sonett an die käufliche Muse – »La muse vénale« – spricht davon. Das große Einleitungsgedicht »Au lecteur« stellt den Dichter in der unvorteilhaften Positur dessen dar, der für seine Geständnisse klingende Münze nimmt. Eines der frühsten Gedichte, die in die »Fleurs du mal« keinen Eingang fanden, ist an ein Straßenmädchen gerichtet. Seine zweite Strophe lautet:

Pour avoir des souliers, elle a vendu son âme;

Mais le bon Dieu rirait si, près de cette infâme,

Je tranchais du tartufe et singeais la hauteur,

Moi qui vends ma pensée et qui veux être auteur. 941

Die letzte Strophe »Cette bohême-là, c’est mon tout« schließt dieses Geschöpf unbekümmert in die Bruderschaft der Bohème ein. Baudelaire wußte, wie es um den Literaten in Wahrheit stand: als Flaneur begibt er sich auf den Markt; wie er meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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